Herr Karavan, wie schafft man Ihrer Meinung nach Erinnerungsorte?
Hauptziel sollte es sein, zum Beispiel durch ein Mahnmal mehr Gefühle bei den Menschen zu erzeugen. Die Besucher werden irgendein Gefühl haben – auch wenn es schwer ist, die genau vorher zu sagen, weil jeder Mensch etwas anderes empfindet. Aber sie werden Traurigkeit spüren, sie werden still sein wollen. Worte werden an einem solchen Ort nicht wirklich einen Platz haben.
Sie haben den Entwurf für das Mahnmal für die ermordeten Roma und Sinti in Berlin erstellt. Wie kam es dazu?
Während des Wettbewerbs für das Holocaust-Mahnmal hat mich Romani Rose vom Zentralrat der Sinti und Roma in Deutschland um einen Entwurf gebeten. Ich schaffe keine Objekte, sondern mache ortspezifische Kunst. Weil ich mich keinem Ort aufdrängen will, ist es für mich notwendig, dass meine Arbeit wirklich gewollt wird. Ich brauche für sie den Dialog mit den Menschen und mit dem Ort. Erinnerungen und Geschichte sind wichtig. Ich will Kunst schaffen, die Respekt für die so genannten „anderen“ schafft.
Wie haben Sie das in Ihrem Entwurf umgesetzt?
Grundsätzlich geht es mir darum, eine Atmosphäre zu schaffen, die Menschen sensibilisiert und dazu bringt, Trauer zu fühlen und still zu sein.
Wie ist das möglich auf dem kleinen Stück Lichtung am Rand des Berliner Tiergartens, das für das Mahnmal vorgesehen ist?
Das Mahnmal soll in unmittelbarer Nähe des Reichstags stehen, einem riesigen, sehr eindrucksvollen Gebäude, das ein Stück Macht repräsentiert. Der Ort ist von Bäumen umgeben und im Hintergrund hört man den Straßenverkehr, aber trotzdem ist man wie in einer anderen Welt. Ich war mit mehreren Problemen konfrontiert: Es sollen möglichst viele Menschen kommen, gleichzeitig darf die Ruhe und das Meditative des Ortes nicht gestört werden. Ich will einen Ort schaffen, der die Menschen nicht zum Gedenken zwingt, sondern sie allenfalls zu einem Ort dafür führt. Ich denke, dieses Problem habe ich gelöst, indem ich das Mahnmal so einfach und schlicht wie möglich gestalte.
Kann man überhaupt Geschichte und insbesondere die Vernichtung der Roma und Sinti und den Holocaust zur Zeit des Nationalsozialismus mit Hilfe von Mahnmalen vermitteln?
Alles, was wirklich geschehen ist, kann man nicht in einem Mahnmal darstellen. Man kann nur eine Art Hinweis schaffen, dass etwas Schreckliches geschehen ist. Vielleicht kann ein Mahnmal das Interesse von Menschen provozieren, sich umzusehen, sich mit etwas zu beschäftigen, wovon sie möglicherweise noch nie etwas gehört haben. Vielleicht kann das Mahnmal junge Menschen dazu bringen, loszugehen und herauszufinden, was wirklich geschah, selbst zu recherchieren.
Im Übrigen mag ich den Begriff Denkmal nicht. Ein Mahnmal ist eine Hommage. Und je stärker die Hommage wirkt, desto größer ist die Möglichkeit, zu versuchen, Menschen dazu zu provozieren, zu verstehen, was geschehen ist. Denn kein Mahnmal kann mehr aussagen als ein Foto von Auschwitz oder die Berichte der Überlebenden. Und kein Foto ist ausreichend, um zu verstehen, warum Menschen diese schrecklichen Verbrechen begangen haben. Aber es geht um die Aufklärung der kommenden Generationen, damit sich diese schrecklichen Verbrechen nicht wiederholen.
Wollen Sie aufrütteln oder provozieren?
Die Interpretationen und die Wahrnehmungen sind jedem einzelnen überlassen. Wenn ich den Begriff Provokation verwende, geht es mir darum, Menschen dazu aufzufordern, alles zu tun, damit sich die Geschichte nicht wiederholt. In diesem Sinn will ich eine Art von Störung schaffen.
Gibt es für Sie Mahnmale, die diese Funktion erfüllen?
Ein so funktionierendes Beispiel dafür ist das Bücherverbrennungsmahnmal von Micha Ullman auf dem Bebelplatz in Berlin-Mitte.
Das Holocaust Mahnmal hat ein Dokumentationszentrum bekommen. Haben Sie für Ihr Mahnmal auch einen Lernort vorgesehen?
Nein.
Warum nicht?
Weil ein Dokumentationszentrum an einen anderen Ort gehört. Wenn man beides zusammen mischt, wird der Ort zu einer Art Lernraum. Das möchte ich nicht. Ich will das Interesse der Menschen wecken, dass sie sich auf die Suche nach Dokumenten machen und sich darum bemühen müssen.
Ist die andauernde Diskriminierung von Sinti und Roma auch ein Aspekt Ihres Mahnmals?
Kunst hat keine Macht. Trotz all ihrer Schönheit, konnten Menschen Musik von Mozart oder Schubert hören oder ein wunderbares Buch von Goethe lesen und anschließend aus dem Haus gehen und andere Menschen töten. Ein Beispiel, das mir Mut macht, ist die Entwicklung, die durch die „Straße der Menschenrechte“, die ich Nürnberg geschaffen habe, entstanden ist. Dort ist aus der Kunst ein politisches Projekt entstanden – eine Menschenrechtsstiftung, die mit ihrem Preis Leute und Initiativen in unterschiedlichen Ländern unterstützen konnte.
In Berlin gibt es eine anhaltende Debatte darum, wie der einzelnen Opfergruppen der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik gedacht werden soll. Insbesondere gegen das Mahnmal für die ermordeten Sinti und Roma hat es von konservativer Seite Widerstand gegeben.
Ich möchte mich in die Debatte nicht einmischen, weil ich den Leuten in Berlin und der Regierung nicht sagen will, was sie zu tun haben. Aber ich bin davon überzeugt, dass es richtig ist, das Mahnmal für die ermordeten Sinti und Roma zu bauen. Sonst hätte ich dieses Modell nicht geschaffen.
Während des Wettbewerbs für das Holocaust-Mahnmal haben Sie sich noch vehement dafür eingesetzt, dass es nur ein Denkmal für alle Opfer des Nationalsozialismus geben solle. Woher kommt der Wandel?
Ich war der Ansicht, dass es nicht nur ein Denkmal für die ermordeten Juden geben sollte, sondern für alle Menschen, die von den Nazis getötet wurden. Es stimmt, dass der Holocaust an den europäischen Juden einmalig ist. Aber die Vernichtung der Roma und Sinti ist dem Mord an den Juden sehr ähnlich, weil sie durch Rassismus motiviert war. Außerdem wollten die Nationalsozialisten die Roma und Sinti genauso vollständig vernichten wie die Juden. Ich habe mich dann trotzdem an dem Wettbewerb beteiligt, weil ich der einzige israelische Künstler war, der eingeladen wurde und ich deshalb eine besondere Verantwortung gespürt habe.
Ist ein Künstler, der ein Mahnmal schafft, ein politischer Künstler?
Meine Persönlichkeit und meine Kunst sind eine Einheit. Ich kann das nicht trennen, auch wenn ich weiß, dass es sehr schwierig ist, ein politischer Künstler zu sein. Man kann sehr leicht oberflächlich und plakativ werden. Ich versuche sehr vorsichtig zu sein. Ich halte mich jedenfalls für einen politischen Künstler, weil ich festgestellt habe, dass wir für das, was wir für richtig halten, kämpfen müssen.
Was hat Sie in dieser Entwicklung beeinflusst?
Ich wurde vor Beginn des Zweiten Weltkriegs in Israel geboren, das heißt, mein Leben vermischt sich sehr mit Politik. Die Familie meines Vaters und meiner Mutter wurde während der nationalsozialistischen Besatzung in Galizien ermordet. Dann kam der Unabhängigkeitskrieg in Israel, die Konflikte mit den arabischen Nachbarstaaten. Ich habe vier Kriege erlebt und die Enkel meiner Freunde sind jetzt bei der Armee. Seit Jahren bemühe ich mich um einen Dialog mit palästinensischen und arabischen Künstlern – auch wenn die Projekte bislang nicht realisiert werden konnten.
Ich bin einfach seit langem in politischen Diskussionen und Bewegungen involviert, deshalb bin ich auch früh zum politischen Künstler geworden. 1976 habe ich bei der Biennale in Venedig meinen Pavillon dem Frieden gewidmet, und die Leute fragten, warum hast du das getan, warum hast du nicht einfach nur Kunst gemacht? Meine Antwort war einfach: Weil es das ist, was ich fühle. Ich möchte Frieden.
Ist es etwas Besonderes für Sie, ein solches Mahnmal-Projekt in Deutschland zu realisieren?
Nein, nicht besonders. Es ist ein Problem und wird wegen der Erinnerungen immer ein Problem bleiben, auch wenn ich versuche, ihnen aus dem Weg zu gehen und nicht daran zu denken. Zum Beispiel, indem ich Kunst machen, die nichts mit meinen Erinnerungen und meiner jüdischen Herkunft und deutscher Geschichte zu tun hat. Manchmal habe ich das Gefühl, dass mein Erfolg in Deutschland daher kommt, dass ich Jude und Israeli bin – sozusagen aus einem schlechten Gewissen herrührt. Dieser Gedanke stört mich sehr.
Es ist eben eine komplizierte Situation. Viele Jahre lang wollte ich keine Kunst in Deutschland machen. Dann bin ich das erste Mal auf der documenta gewesen. Die Einladung bedeutet eine internationale Anerkennung als Künstler, und ich komme aus einem kleinen Land, das sehr weit weg ist und dessen Künstler es schwer haben, raus ins internationale Geschehen zu kommen.
Befürchten Sie nicht, dass es – sobald die Mahnmale gebaut sind – einen Schlussstrich in der Auseinandersetzung mit diesem Teil der deutschen Geschichte geben wird?
Es geht nicht um einen Schlussstrich, sondern um eine Art von Kontinuität. Ich möchte einen Ort schaffen, an dem Menschen sich immer fragen, warum konnte das geschehen? Warum hat es niemand verhindert? Wenn ein Denkmal nur dazu dient, einen Schlussstrich zu ziehen, ist es eine schlechte Erinnerung und keine Hommage.
Das Interview führte Heike Kleffner. Es erschien erstmals am 5.Oktober 2001 in der tageszeitung.