Es ist wahrlich ein Skandal-Urteil: Im Prozess gegen die Neonazis Gianluca B. und Nordulf H., Sohn der umtriebigen Szenegröße Thorsten Heise, sind die Strafen äußerst mild ausgefallen. 2018 attackierten die beiden, bewaffnet mit Baseballschläger, Pfefferspray, Messer und Schraubenschlüssel, zwei Journalisten, die zu einem konspirativen Treffen auf dem Gelände der Heises recherchierten. Nach einer Verfolgungsjagd schlugen die Rechtsextremen die beiden Journalisten krankenhausreif zusammen. Ein schwerwiegender, lebensgefährlicher Angriff auf die Pressefreiheit, der vor Gericht hätte geahndet werden können. Doch die Anklage lautete nur: Sachbeschädigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung. Nun wurde B. lediglich zu einem Jahr auf Bewährung verurteilt, Heise Jr. zu 200 Arbeitsstunden. Das verkündete das Landgericht Mühlhausen in Thüringen am heutigen Donnerstag, den 15. September 2022.
Prozess-Beobachter*innen reagieren empört auf das Urteil: „Ausgefallen ist es skandalös milde“, schreibt auf Twitter NSU Watch, die das Verfahren begleitet haben. Die Kampagne „Tatort Fretterode“, die öffentliche Aufmerksamkeit für den Fall schaffen will, schreibt zum Urteil: „Ein klares Weiter-So an die organisierte Neonazi-Szene“. Katharina König-Preuss, Landtagsabgeordnete der Linken in Thüringen, war heute auch im Landgericht Mühlhausen. Über die Stimmung im Saal sagt sie gegenüber Belltower.News: „Es war eine Mischung aus Fassungslosigkeit und Wut. Leute kommen kopfschüttelnd aus dem Saal, auch Journalist*innen“. Ein Betroffener habe bereits während der Urteilsbegründung den Gerichtssaal verlassen.
In einer Pressemitteilung der Linkspartei zum Urteil, die Belltower.News vorab vorliegt, sagt König-Press weiter: „Für die Pressefreiheit in Thüringen ist dieses Urteil eine Katastrophe. Die Justiz macht damit deutlich, dass sie Journalistinnen und Journalisten nicht schützen wird, selbst wenn sie von Neonazis schwer verletzt werden und hätten tot sein können.“ Sie fordert eine Aufklärung der Ermittlungs- und Verfahrensfehler. Um die Tat parlamentarisch zu bearbeiten, habe sie bereits Akteneinsicht im Untersuchungsausschuss beantragt.
Auch die Grünen finden kritische Worte für das Urteil: „Der Fretterode-Prozess hätte die Chance gehabt, die Gewalttat schonungslos aufzuklären und zu verfolgen“, schreibt die Landtagsbgeordnete Madeleine Henfling auf Twitter. „Das Urteil vermittelt der extrem rechten Szene jedoch, dass sie selbst bei schweren Gewalttaten mit milden Strafen davonkommen können.“
Die Strafe bleibt deutlich unter der Forderung der Staatsanwaltschaft und Nebenklage. Die Vorsitzende Richterin sah keinen gezielten Angriff auf Journalisten und die freie Presse, berichtet der MDR. Das Gericht sah auch den Vorwurf des schweren Raubs nicht als erwiesen an, da der Verbleib einer Kamera nicht geklärt werden konnte, so der MDR weiter. Zum Prozessauftakt hatte die Richterin stattdessen von „zwei ideologischen Lagern“ gesprochen, die „weit auseinander liegen“.
Vier Jahre liegt der brutale Überfall nun zurück: 2018 gingen Nordulf H. und Gianluca B. auf zwei Journalisten in Fretterode im Landkreis Eichsfeld los. Ein Angreifer schlug mit einem Schraubenschlüssel auf den Kopf des einen Journalisten, der eine blutende Wunde erlitt. Der andere Journalist trug eine Stichverletzung am Oberschenkel davon. Ein Gutachten stellt später heraus, dass der Angriff abstrakt lebensgefährlich war. Die zwei Journalisten waren in Fretterode zu Recherchezwecken: Dort wohnt NPD-Funktionär Thorsten Heise, dessen Anwesen und Dreh- und Angelpunkt der rechtsextremen Szene ist. Zu jenem Zeitpunkt fand gerade ein Treffen bei Heise statt. Als die Journalisten bemerkt wurden, stürmten die zwei Neonazis aus Heises Haus auf die beiden zu.
Es begann eine wilde Verfolgungsjagd mit dem Auto durch die Region – bis die Angreifer den Wagen der Journalisten zum Stehen brachten. Die Neonazis gingen bewaffnet mit einem Baseballschläger, einem Messer, einem etwa 40 Zentimeter großen Schraubenschlüssel und Pfefferspray direkt zum Angriff über. Einem der beiden Journalisten gelang es gerade noch, sich eine Speicherkarte aus der Kamera in den Socken zu stecken, bevor die Heckscheibe des Autos nach einem wuchtigen Schlag mit dem Schraubenschlüssel zerbarst. Die Angreifer sprühten Pfefferspray in das Fahrzeuginnere. Ein Angreifer schlug mit einem Schraubenschlüssel auf den Kopf eines Journalisten, der eine blutende Platzwunde erlitt. Der andere Journalist trug eine Stichverletzung am Oberschenkel davon, als er vergebens versuchte, seine Kamera von den Rechtsextremen zu schützen.
Erst als die Neonazis die Kamera zu fassen bekamen, ließen sie von den beiden Verletzten ab und fuhren mit ihrem Auto wieder Richtung Fretterode. Die beiden Journalisten wurden in einem Krankenhaus ambulant behandelt. Jener Journalist, bei dem am Dienstag die Hausdurchsuchung stattfand, kam kurz nach dem neonazistischen Überfall zum Tatort, um das Geschehen zu dokumentieren.
Schon vor dem Urteil sorgte die Tat erneut für Schlagzeilen: Zwei Tage vor der Urteilsverkündung wurde das Haus eines der betroffenen Journalisten durchsucht, wie Belltower.News berichtete – wegen einer angeblichen Beteiligung an einer Plakataktion. Der Vorwurf: Verstoßt gegen das Kunsturheberrecht. In Fretterode wurden Plakate aufgestellt, auf denen Fotos und Namen der Angeklagten zu sehen waren. Die Plakate kritisierten den juristischen Stillstand in der Aufarbeitung der Tat. Anzeige wurde höchstpersönlich von Thorsten Heise gestellt, der den Aktivist*innen in einem Video drohte.
Bei der Hausdurchsuchung beschlagnahmten Einsatzkräfte etliche technische Geräte des Journalisten, die zur Ausübung seiner Tätigkeit erforderlich sind. „Der Durchsuchungsbeschluss enthält trotz Kenntnis der journalistischen Tätigkeit keinerlei Abwägung mit dem Recht der freien Presse insbesondere auf investigative Tätigkeit“, kritisiert der Rechtsanwalt Sven Adam das Vorgehen. Wegen der Beschlagnahmung der Arbeitsgeräte seines Mandanten spricht Adam von einem „nicht zu rechtfertigenden Eingriff in die Pressefreiheit“. Die Linken-Bundestagsabgeordnete Martina Renner bezeichnete die polizeilichen Maßnahmen unterdessen als „Einschüchterung“: „Investigative journalistische Arbeit im Themenfeld ‚Extreme Rechte‘ scheint einigen ein Dorn im Auge zu sein.“
Das schwache Urteil im Fretterode-Prozess ist investigativen Journalist*innen, die die extreme Rechte in Thüringen und darüber hinaus beleuchten, nun ein weiterer Schlag ins Gesicht. Und für die Neonazi-Szene ein großer Grund zur Freude.