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Mahmoud Jaraba ist promovierter Politikwissenschaftler. In jüngster Vergangenheit setzte er sich kritisch mit Themen rund um islamische Normativität, Salafismus und Radikalisierung sowie sogenannter Paralleljustiz und „Clan-Kriminalität“ auseinander.
In der überwältigenden Mehrheit der Nachrichtenartikel über arabische Großfamilien wird dieselbe Warnung wiedergegeben: „Arabische Clans“ dominieren unsere Stadt und stellen eine ernsthafte Bedrohung für ihre Bevölkerung dar. Bezeichnungen wie „Clan“, „Clan-Kriminalität“, „Paralleljustiz“ und „Parallelgesellschaften“ verstärken Stereotypen und bringen ganze Gemeinschaften in Verruf. Bevölkerungsgruppen werden ethnisiert und kulturalisiert, denen dann ein Hang zu Kriminalität und Gewalt zugeschrieben wird. Die Berichterstattung in den Medien über Kriminelle aus „arabischen Clans“, die meist als skrupellos dargestellt werden, trägt zu dem Klischee bei, dass alle Menschen eines bestimmten „Clans“ gewalttätige Gesetzesbrecher seien. Viele Menschen mit „Clan“-Namen wie etwa Remmo, Al Zein, Miri, Omeirat werden aufgrund dieser falschen Stereotype zu Unrecht stigmatisiert und diskriminiert, obwohl sie nicht in kriminelle Machenschaften verwickelt sind. So sind unschuldige Menschen, die diese „Clan-Namen“ tragen, häufig Diskriminierung, Vorurteilen und Stigmatisierung ausgesetzt. Einige gingen sogar so weit, ihren Namen zu ändern, um sich von diesem Namens-Stigma zu befreien.
Die „arabischen Clans“ sind keine homogene Gruppe
„Arabische Clans“ werden häufig als streng hierarchisch strukturierte Bevölkerungsgruppen mit einer einheitlichen Identität und Lebensweise beschrieben. Dies ist jedoch nur teilweise richtig. Bei den in Deutschland als „arabische Clans“ bezeichneten Gruppen handelt es sich nicht um „Clans“ im traditionellen Sinne, sondern um lose organisierte Gruppen von Individuen mit einem gemeinsamen kulturellen und sprachlichen Hintergrund. Daher wird der Begriff „Clan“ häufig als eine Vereinfachung verwendet, die zu Missverständnissen über die sozialen Strukturen innerhalb der deutsch-arabischen Gemeinschaften führen kann. Da die „Clans“ dezentralisiert sind, können sich ihre Beziehungen zueinander stets verändern, abhängig von Faktoren wie personelle Ressourcen, einer konfliktreichen Vergangenheit, geteilten oder getrennten Identitäten und familiären Interessen. Infolgedessen gibt es keine klar definierten Bündnisse und das „Clansystem“ ist nicht streng hierarchisch aufgebaut. Clan-übergreifende Beziehungen hingegen entwickeln sich im Laufe der Zeit und beruhen auf einem komplexen Geflecht historischer, kultureller und wirtschaftlicher Faktoren sowie auf persönlichen Kontakten zwischen Clanmitgliedern. Für Außenstehende ist es schwierig, die Dynamik der „Clan-Interaktionen“ vollständig zu umreißen.
Wenn wir das Innere eines „Clans“ untersuchen, stellen wir fest, dass er in mehrere Abstammungslinien und Unterclans unterteilt ist, die sich wiederum in noch kleinere Familiengruppen (auf Arabisch: bayts) gliedern. Je nach den Interessen und dem Hintergrund der Familie hat jedes bayt seinen eigenen Familiennamen, seine eigene Genealogie und seine eigenen wirtschaftlichen und sozialen Netzwerke. Jedes bayt trifft seine eigenen Entscheidungen, unabhängig vom „Gesamtclan“. Das bedeutet, dass die einzelnen Haushalte innerhalb der größeren sozialen Struktur des „Clans“ über große Autonomie und Unabhängigkeit verfügen, was ein breites Spektrum an Meinungen und Handlungen unter den Mitgliedern ermöglicht.
Darüber hinaus werden die „Clans“ von Rivalitäten und internen Konflikten um Loyalität und Zusammenarbeit beherrscht. Die Unfähigkeit der „arabischen Clans“, bei der Bewältigung gemeinsamer Probleme und Herausforderungen effektiv zusammenzuarbeiten, hat zu einer geteilten und schwachen Gemeinschaft geführt. Dies führt häufig zu Instabilität und mangelndem Zusammenhalt innerhalb der Gemeinschaft, was den Fortschritt behindert. In den letzten Jahren sind viele interne Konflikte aufgrund von Meinungsverschiedenheiten und Wertvorstellungen oder familiären Angelegenheiten entstanden, die zu einer weiteren Spaltung führen und Fortschritte bei der Verwirklichung gemeinsamer Ziele oder Zusammenarbeit behindern.
Die Führung
Clans werden häufig als hierarchische Gruppen beschrieben, die von Clan-Ältesten oder Familienoberhäuptern geführt werden, die für die Organisation und Kontrolle der kriminellen Aktivitäten der „Clans“ sowie ihrer internen Abläufe zuständig sind. Dies ist jedoch nur ein Teil des Verständnisses der „Clans“, denn sie haben komplizierte soziale Strukturen, kulturelle Traditionen und Wirtschaftssysteme, die alle ihre Geschichte und Werte widerspiegeln. Es gibt keine zentralisierte Führung oder ein anderes maßgebliches Gremium, das die arabischen „Clans“ in Deutschland leitet.
Es gibt jedoch ein lockeres, dezentralisiertes Netzwerk von Gemeinschaftsakteuren, deren Mitglieder freiwillig die Verantwortung für die Konfliktlösung innerhalb ihrer eigenen „Clans“ übernehmen. Die Rolle dieser „Familienältesten“ ist weitgehend symbolisch, und ihr Erfolg hängt stark von der Bereitschaft der Konfliktparteien ab, sich an die von ihnen getroffenen Entscheidungen zu halten. Diese symbolische Autorität mag ein gewisses Gewicht haben und Respekt einbringen, aber sie führt nicht automatisch zu praktischer Macht über die „Clans“. Daher ist die Wirksamkeit ihrer Rolle auf das Ausmaß beschränkt, in dem sie andere davon überzeugen können, ihren Entscheidungen zu folgen und den Frieden zu wahren. Letztendlich liegt die Macht bei den einzelnen Personen und ihren engen Familienangehörigen, die Entscheidungen der Familienältesten zu befolgen.
Nicht alle „Clanmitglieder“ sind kriminell
In der Praxis wird in den Medien häufig nicht zwischen kriminellen und nicht kriminellen „Clanmitgliedern“ unterschieden, da sie alle als Teil einer gemeinsamen familiären Werte- und Normenordnung angesehen werden. „Clanmitglieder“ werden beschuldigt, direkt oder indirekt an Verbrechen beteiligt zu sein, indem sie schweigen und sich weigern, mit der Polizei zu kooperieren. Dabei handelt es sich auch hier um eine pauschale Verallgemeinerung, die die Tatsache außer Acht lässt, dass die große Mehrheit der „Clanmitglieder“ nicht kriminell ist. Sie sind mit dem „Clan“ lediglich verbunden, weil sie einen historischen Hintergrund oder eine ethnische Identität teilen. Oder einfach deshalb, weil sie in den „Clan“ hineingeboren wurden und daher einen „Clan-Namen“ tragen. Dies lässt die Vielfalt innerhalb der „Clans“ und die Tatsache außer Acht, dass viele „Clan-Mitglieder“ sich an das Gesetz halten und sich nicht direkt, wie indirekt an kriminellen Aktivitäten beteiligen.
Es ist wichtig, Menschen nach ihren eigenen Verdiensten zu beurteilen und nicht aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einem bestimmten „Clan“ oder einer Gruppe Annahmen über sie zu treffen. Nur weil jemand Mitglied eines bestimmten „Clans“ ist, ist er noch lange kein Krimineller.
Während meiner Recherchen traf ich mehrere Personen, die mir erzählten, dass sie aufgrund ihrer „Clanzugehörigkeit“ diskriminiert und vorverurteilt wurden, obwohl sie in keine kriminellen Aktivitäten verwickelt waren. Einige erzählten mir, dass sie auf Wohnungssuche waren, aber von Vermietern wegen ihres „Clan-Hintergrunds“ abgelehnt wurden. Andere erzählten, dass sie am Arbeitsplatz ungerecht behandelt wurden oder dass ihnen aufgrund ihrer „Clan Zugehörigkeit“ eine Arbeitsstelle verweigert wurde. Außerdem glauben viele Familien, dass ihre Kinder in der Schule wegen ihres Nachnamens diskriminiert werden.
Der Effekt eines zweischneidigen Schwertes
Die Medienberichterstattung über „Clan-Kriminalität“ wirkt wie ein zweischneidiges Schwert. Einerseits haben die kriminellen Gruppen von der Sensationslust und der zusätzlichen Aufmerksamkeit profitiert, die die Medienberichterstattung bietet. Sie nutzen die kostenlose Publicity, um ein Bild der Macht und Autorität zu vermitteln und ihre Rivalen und potenzielle Gegner einzuschüchtern. Ein solches Image verschafft den kriminellen Gruppen einen psychologischen Vorteil bei ihren kriminellen Aktivitäten und ermöglicht ihnen eine bessere Kontrolle und Ausbeutung ihrer kriminellen Märkte. Darüber hinaus können sie neue Mitglieder und potenzielle Kollaborateure für ihre kriminellen Organisationen gewinnen, was ihre Macht und ihren Einfluss weiter stärkt. Die kriminellen Gruppen sind nicht länger isolierte Gruppen, sondern haben sich an das digitale Zeitalter angepasst und nutzen nun Plattformen der sozialen Medien, um ihre Reichweite zu vergrößern und ihre Aktivitäten durchzuführen. Die Berichterstattung in den Medien hilft ihnen, ihren Ruf aufrechtzuerhalten und ihren Rivalen und der Öffentlichkeit Angst einzujagen. Die umfassende Medienberichterstattung über ihre Aktivitäten und die Verfolgung all ihrer Bewegungen und Aktivitäten haben dazu geführt, dass sie zu Vorbildern für eine neue Generation geworden sind, die oft keine Perspektiven oder gute Vorbilder in ihren Gemeinschaften hat.
Auf der anderen Seite hat die Medienberichterstattung einen negativen Einfluss auf die nicht kriminellen „Clanmitglieder“. Sie sind aufgrund ihres Familiennamens mit Vorurteilen und Stigmatisierung konfrontiert. Wie mir einige Familienmitglieder erzählten, haben sie das Gefühl, dass ihr Familienname durch die Handlungen eines oder einiger weniger Mitglieder, die straffällig geworden sind oder Fehler gemacht haben, in Verruf geraten ist. Einige Familienmitglieder haben bereits beschlossen, ihren Namen rechtlich zu ändern, während andere sich von kriminellen Personen und deren Taten distanzieren wollen.
Vor allem Frauen leiden unter diesem Dilemma, da sie ihren Familiennamen nur unter Scham- oder Schuldgefühlen tragen. Einerseits ist es schwierig, die Familie zu verlassen und ein neues Leben zu beginnen. Andererseits kann der Verbleib in einem missbräuchlichen oder toxischen familiären Umfeld schwerwiegende Folgen für ihre körperliche und geistige Gesundheit haben und ihre persönliche Entwicklung und Erfolg behindern.
Darüber hinaus hat die Medienberichterstattung einen wachsenden Einfluss auf die jüngere Generation. „Clanmitglieder“ der dritten und vierten Generation in Deutschland suchen nun ihren eigenen Weg und ihre eigene Identität außerhalb der traditionellen Clanstruktur. Während meiner Feldforschung traf ich viele junge Menschen, die unzufrieden damit waren, mit negativen Stereotypen und kulturellen Praktiken in Verbindung gebracht zu werden, mit denen sie sich nicht identifizieren konnten. Diese jungen Menschen sprechen kein Arabisch mehr oder nur noch auf einem sehr einfachen Niveau. Der Konflikt zwischen ihren traditionellen kulturellen Werten und dem Einfluss alternativer Lebensentwürfe führt zu einer Identitätskrise, in der sie sich von ihren Wurzeln abgekoppelt fühlen und ihren Platz in der Gesellschaft nicht finden können.
Infolge des grassierenden Rassismus und Sippenhaft in Deutschland haben sie ein ausgeprägtes Gefühl entwickelt, in Deutschland unerwünscht zu sein. Dieses Gefühl des Ausgeschlossenseins und der Unerwünschtheit hat bei den „Clanmitgliedern“ zu verstärkter sozialer Isolation und psychischer Belastung geführt.
Es besteht kein Zweifel daran, dass mehrere Einzelpersonen oder kriminelle Gruppen innerhalb der „Clans“ in Deutschland kriminell tätig sind, und die Strafverfolgungsbehörden sollten sich intensiv damit befassen, um Sicherheit in der Gesellschaft zu gewährleisten. Darüber hinaus müssen die Medien die Öffentlichkeit über diese kriminellen Aktivitäten und die potenziellen Risiken, die mit einer Verbindung zu diesen kriminellen Gruppen verbunden sind, informieren, um die Menschen davon abzuhalten, sich ihnen anzuschließen oder sie zu unterstützen. Dies kann zur Förderung von Transparenz und Sensibilisierung sowie zur Entwicklung besserer Strategien und Praktiken im Umgang mit kriminellen Aktivitäten beitragen. Um zu vermeiden, dass unschuldige Menschen zu Schaden kommen und laufende Ermittlungen gefährdet werden, sollte die Medienberichterstattung auf Fakten und Beweisen beruhen und nicht auf Sensationslust und Spekulationen. Bei der Berichterstattung über kriminelle Aktivitäten müssen die Medien vorsichtig und verantwortungsbewusst vorgehen, um zu vermeiden, dass sie Kriminellen unbeabsichtigt helfen oder unnötige Panik schüren.
Um diese Bedenken auszuräumen, müssen die Medien Maßnahmen ergreifen, um eine faire, genaue und ausgewogene Berichterstattung zu gewährleisten. Dazu gehört zum einen die Bereitstellung von Kontext- und Hintergrundinformationen, um den Lesern ein besseres Verständnis der „Clan-Dynamik“ zu ermöglichen und zum anderen die unvoreingenommene Betonung der verschiedenen Standpunkte der Beteiligten.
Dieser Text entstand in Kooperation mit dem Projekt „Get The Trolls Out“