
Seit dem brutalen Terrorangriff palästinensischer Islamisten am 7. Oktober 2023 werden die Israel verteufelnden Parolen immer lauter – und brutale Gewalt als legitime Form des Widerstands verklärt. Israel, so heißt es jetzt vielerorts, begehe in Gaza das schlimmste Verbrechen überhaupt: einen Genozid. Dahinter steckt eine Strategie.
Die Aktivist*innen, die im Januar für einige Tage die Alice-Salomon-Hochschule in Berlin besetzten, ließen ein großes Transparent herunter: „It´s not a fucking conflict. It´s a genocide in Palestine“ Auf einem Zettel an der Wand war zu lesen: „no business as usual during genocide“. Denn im Kampf gegen den jüdischen Staat geht es ums Ganze, kein Zufall also, dass die Sprache antiisraelischer Mobilisierungen voller Superlative und Übertreibungen ist. An anderer Stelle haben Ronen Steinke und Eva Illouz bereits aufgeschrieben, warum der Genozid-Vorwurf absurd ist. Im Deutschlandfunk lassen sich grundlegende Auseinandersetzungen mit dem Begriff und der Definition von Genozid nachlesen. Hier soll es nur um die Strategie dahinter gehen. Welche Funktion erfüllt der Genozidvorwurf? Und was hat das mit Antisemitismus zu tun?
Die Rede über Israel ist vielfach durch antisemitische Rhetorik befeuert, gerade in israelfeindlichen Milieus und Mobilisierungen. Der Antisemitismus schreibt „den Juden“ zu, böse und intrigant zu sein, sie sollen geradezu „teuflische Allmacht“ (Tilman Tarach) besitzen. Jüdinnen*Juden werden seit Jahrhunderten dämonisiert und verteufelt. Seit der Staatsgründung Israels wird der Antisemitismus immer wieder auf den jüdischen Staat projiziert. Die seit dem angeblichen Christus-Mord zugeschriebene enge Beziehung „der Juden“ zum Teufel hat ihren Staat, so die antisemitische Übertragung, zur Hölle selbst werden lassen. Keine Übertreibung scheint zu groß, kein Vorwurf unberechtigt. „IsraHell kills babys“ steht an Berliner Häuserwänden. Der Höllen-Staat vernichtet also selbst Babys. Die Strategie: Emotionalisierung und Moralisierung, um zu zeigen, wer Gut und wer Böse ist, wer Unterdrückter und wer Unterdrücker. Dafür wird sich völkerrechtlicher Begriffe solange bedient, wie sie das eigene Ressentiment stützen.
Für Verteidiger der antisemitischen Schmiererei „IsraHell kills Babys“ ist der Slogan deshalb wahr, weil der Gaza-Krieg viel zu viele Tote gebracht hat. Die Luftschläge und die Bodenoffensive der israelischen Streitkräfte töteten Zehntausende, darunter auch viele Kinder. Doch die Art und Weise, wie darüber gesprochen wird, wiederholt uralte antisemitische Muster, nicht nur das der Verteufelung, sondern auch die Ritualmordlegende – eine jahrhundertealte Lüge, die Juden bezichtigt, für Rituale christliche Kinder zu ermorden. Ignoriert wird die emotionalisierende Funktion, die solche Hetze hat.
Der Genozidvorwurf, das gilt es zu begreifen, verfängt auch deshalb so gut, weil diese maßlosen Vorwürfe auch von Stellen behauptet werden, deren Reputation weitgehend geschätzt wird. Einige Vertreter*innen der UNO sowie Amnesty International sprechen von Genozid. Das befeuert wiederum Aktivist*innen und es wiegt sie in moralischer Sicherheit, nämlich auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Das ist die Funktion, die die Sprache der Superlative erfüllt.
Neu ist das alles nicht. Der Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde, Mahmud Abbas, sprach bereits 2022 im Bundeskanzleramt davon, Israel habe „50 Holocausts“ zu verantworten. 2008 bezeichnete er eine IDF-Operation in Gaza als „more than a holocaust“. Diese Rhetorik der Superlative lässt sich kaum noch steigern. Sie bezeugt die Maßlosigkeit der Vorwürfe – auch in ihrer Holocaustrelativierung. Das Ziel: beweisen, dass Israel der schlimmste Staat von allen sei.
Der Vorwurf, Israel betreibt einen Genozid, wiegt nicht nur schwer, er richtet auch schon Schaden an, bevor er bewiesen ist. Das ist der rhetorische Kniff. Wer mit einem Genozid erstmal in Verbindung gebracht wird, der kann sich kaum noch davon lösen und dessen Perspektive wird nicht mehr gehört werden. Zeitgleich lenken die Übertreibungen auch vom tatsächlichen Leiden ab. Von einer „ongoing nakba“ wurde bei Uni-Besetzungen gesprochen. Die Superlativierung verunmöglicht das Sprechen über das tatsächliche Unrecht und die Gewalt. Wenn die Nakba nie aufgehört hat, dann treten die faktischen Vertreibungen in den Jahren 1947-49 in den Hintergrund. Im allerschlimmsten Fall wird das Leiden eingeebnet. Alles ist die Katastrophe. Nur noch die Welt davor erscheint als unbeschädigt, weshalb an vielen Häuserwänden in Berlin auch die Zahl 1948 steht. Ausgedrückt wird hier der Traum von einer Zeit vor der israelischen Staatsgründung.
Auch der Genozid-Vorwurf überschreibt das tatsächliche Leiden der Palästinenser*innen mit einer Spekulation über unterstellte Intentionen von Juden oder Israelis. Als Völkermord gelten nämlich „Handlungen, die in der Absicht begangen werden, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“. Wer also beweisen will, dass es sich hier tatsächlich um einen Genozid handelt, der*die muss Beweise für eine Absicht vorweisen.
Anfang 2024 veröffentlichte die Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen für die besetzten palästinensischen Gebiete, Francesca Albanese, einen Report mit dem Titel „Anatomy of a Genocide“ und kommt zum Schluss, dass einiges dafür spräche, dass es sich um einen Genozid handele. Tatsächlich ist der Bericht vor allem ein Beleg für die Obsession, mit der die Keule des Genozidvorwurfs geschwungen wird. Albanese ist bekannt für ihre extremen Positionen.
Albaneses Ansicht nach ist Israel ein siedlerkolonialer Staat, die indigene Bevölkerung sei vertrieben worden. Dass Jüdinnen*Juden in dem Landstrich, der heute Israel heißt, selbst indigen sind, kümmert die Juristin nicht. Siedlerkolonialismus gab es, so Albanese, auch in den USA oder Australien. Das war schlimm, aber was Israel macht, sei schlimmer als alles andere, so die Botschaft. Denn die höchste Form des Siedlerkolonialismus sei „genocidal extermination/annihilation“ und dem würde sich der jüdische Staat schuldig machen. Für Albanese steht fest, dass es sich um einen Genozid handelt. Selbst wenn der Internationale Gerichtshof zu einem anderen Ergebnis kommen würde, so beteuert sie, würde sie trotzdem bei ihrer Meinung bleiben.
In ihrem bislang nur auf italienisch veröffentlichten Buch J’accuse behauptet sie sogar, der Genozid an den Palästinenser*innen sei am 7. Oktober selbst begonnen worden. Um die Gewalt gegen Jüdinnen*Juden an diesem Tag geht es ihr nicht. Der 7. Oktober wird als Symptom für eine jahrelange Besatzung verklärt, der Terrorangriff wird zu legitimem Widerstand. Schon 2022 hat Albanese bei einer Hamas-Konferenz erklärt, dass die Terrororganisation alles Recht habe, sich gegen ihren Unterdrücker zur Wehr zu setzen.
Wer aber eine Absicht zum Genozid unterstellt, müsste doch darüber reden, dass nicht Israel diesen Krieg begonnen hat, um endlich Völkermord zu begehen. Oder vielleicht doch? Direkt nach dem 7. Oktober kursierten Verschwörungserzählungen, die genau das behaupteten. Was, wenn die Gewalt inszeniert war, so wird gefragt? Ein Inside Job vielleicht? Ein fingierter Anlass, um einen Krieg anzuzetteln und den seit Staatsgründung betriebenen Völkermord weiterzutreiben? Was verrückt klingt, fand sich vielfältig in den Kommentarspalten von TikTok und in Postings auf X. In der Nähe des Jüdischen Museums Berlin hat letztes Jahr jemand in großen Lettern auf einen Alt-Glas-Container geschrieben: „Mossad = Hamas“. Es kann so einfach sein.