„Bedeutende Teile der deutschen Gesellschaft teilen Erfahrungen von Abstiegsangst, sozialer Ungleichheit und politischer Entfremdung. Vor allem zwei Gruppen sind dabei neben diesen strukturellen Nachteilen auch von sozialer, kultureller und identifikativer Abwertung betroffen: Migrant*innen – und innerhalb dieser Gruppe die besonders saliente, im Fokus stehende Kategorie der Muslim*innen – und Ostdeutsche.“
So beginnt die derzeit vielbeachtete Studie Ost-Migrantische Analogien I – Konkurrenz um Anerkennung, die Naika Foroutan und Kolleg*innen für das Deutsche Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) durchgeführt haben. Migrant*innen und Ostdeutsche? Das sollen die zwei Gruppen sein, die vor allem von Nachteilen und Abwertungen betroffen sind? Was ist mit Jüdinnen und Juden, Romnja und Sintezza, Menschen mit Behinderungen, LGBTIQ-Personen, PoC ohne Migrationserfahrungen oder klassistisch entwerteten Menschen? Beim derzeitigen politischen Klima würden vielleicht auch Linksradikale in den Sinn kommen, die mit permanenter Bespitzelung und Drohungen wie Übergriffen von rechts umgehen müssen.
Die Studie aber fokussiert Ostdeutsche im Vergleich mit Muslim*innen und will dabei weniger ökonomische Benachteiligungen in den Blick nehmen als die Selbstwahrnehmung von symbolischer Missachtung. Strukturelle Benachteiligung sollen hier eher zur Überprüfung der „Validität des Datensatzes“ herangezogen werden. Tatsächlich scheint der Erklärungswert der ökonomische Situation Ostdeutschlands in Bezug auf die politischen Einstellungen dort im Schwinden: Längst sind nicht mehr Städte wie Greifswald oder Halle an der Saale einsam am unteren Ende des Einkommensspektrums, sondern in guter Gesellschaft mit Duisburg oder Gelsenkirchen. Dennoch erreicht die AfD in den neuen Bundesländern in Umfragen regelmäßig um die 20% und bundesweit etwa 12%. Ein erheblicher Unterschied. Die Rede vom „braunen Osten“ hält Foroutan aber offenbar für diskriminierend. In einem Zeit-Interview mit Jana Hensel hält sie fest:
„Die Erzählung eines flächendeckenden braunen Ostens aber ist genauso falsch wie die der größtenteils sexistischen und antisemitischen Muslime. Damit externalisiert die Dominanzgesellschaft eine Einstellung, die sie ganz stabil auch in sich selbst trägt, auf eine andere Gruppe. Sie stabilisiert ihr Selbstbild, indem sie einen noch schlechteren Anderen festschreibt. Und kann selbst demokratischer strahlen.“
Es wird hier recht deutlich, dass die Parallelisierung weniger der Erkenntnis dient als einer Verwischung der Begrifflichkeiten: Seit wann gehören Ostdeutsche nicht mehr zur „Dominanzgesellschaft“? Um Birgit Rommelspacher, die den Begriff maßgeblich geprägt hat, zu paraphrasieren, bedeutet Dominanzgesellschaft, dass strukturelle Diskriminierungen durch kulturelle Normen zementiert werden. Welche kulturellen Normen sollten das sein, an denen „die Ostdeutschen“ nicht teilhaben würden? Auch wenn es sicher ein selbstentschuldigendes Narrativ gibt, das antidemokratische Tendenzen lediglich im Osten Deutschlands verorten will oder – um bei dem schiefen Vergleich zu bleiben – Sexismus und Antisemitismus exklusiv bei Muslim*innen, macht es wenig Sinn, deshalb nicht mehr über diese Probleme Ostdeutschlands oder von Muslim*innen zu sprechen.
Stimmig mit Rommelspacher allerdings sehen die Autor*innen der Studie weniger in der wirklichen sozioökonomischen Benachteiligung der Ostdeutschen die Gründe für die Entwertung anderer, sondern vielmehr in der Interpretation der eigenen Lage. Die Gefahr dabei besteht natürlich darin, dass die Perspektive der Befragten ungebrochen übernommen wird und damit wiederum selbst entschuldigende Erzählungen. So fragen die Autor*innen: „Wirkt sich die Wahrnehmung, in der gesellschaftlichen Hierarchie weiter unten zu stehen [gemeint sind hier die Ostdeutschen, d.A.], messbar auf die Abwehr anderer benachteiligter Gruppen aus?“ Um dann im Gesamtfazit zu dem Schluss zu kommen: „Die mangelnde Anerkennung ist ein Faktor, der zur Erklärung der O-W-Unterschiede in der Aufstiegsabwehr von Muslim*innen beiträgt.“ Das klingt erst einmal schlüssig: Wer abgewertet wird, wertet dann auch andere ab. Plausibilisiert wird dieses Ergebnis im Bericht allerdings nicht. Gibt es denn überhaupt eine mangelnde Anerkennung? Sind fehlende Vorstandsposten für Ostdeutsche ein Beleg dafür? Oder sitzt man dabei der Selbstwahrnehmung der Befragten auf? Und wenn es an Anerkennung mangelt, worauf sollte die eigentlich beruhen?
Auch hier zeigt sich wieder eine fatale begriffliche Unschärfe: Anerkennung ist immer ein Verhältnis, in dem eine oder mehrere Personen andere für etwas anerkennen. Man wird beispielsweise als Individuum, als Rechtssubjekt oder Mitglied der Gesellschaft anerkannt. Dabei zeigt sich, dass mit einem Vergleich von Ostdeutschen und Muslim*innen hinsichtlich der Anerkennungsverhältnisse vorsichtig umgegangen werden sollte. Wird Ostdeutschen im Diskurs oder sozialen Interaktionen die Individualität, ihr Status als Rechtssubjekt oder als Mitglieder der Gesellschaft tatsächlich abgesprochen und ist das strukturell verankert? M.E. besteht da ein qualitativer Unterschied, der in der quantitativ-vergleichenden Untersuchung verloren geht.
Es wird versucht, ostdeutsche Erfahrungen mit dem begrifflichen Repertoire der Rassismuskritik (Anerkennung, Dominanzgesellschaft) und dem methodischen Vokabular der Einstellungsforschung zu erfassen. Diese Entscheidung ist kein Ergebnis der Studie, sondern geht ihr voraus. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass Foroutan im Zeit-Interview angibt, „kein besonderes Aha-Erlebnis“ gehabt zu haben. Die Untersuchung bringt zutage, was man vorher schon zu wissen glaubte: Die Ostdeutschen werden diskriminiert, weshalb sie nun andere diskriminieren. Die Sorgen und Ängste Ernst zu nehmen, wie es Politiker naiv gegenüber PEGIDA forderten, sollte ja nicht bedeuten, ihnen umstandslos Glauben zu schenken, sondern gegebenenfalls, die Irrationalität, die Unvernunft, die in diesen Ängsten steckt, herauszuarbeiten.
Foto oben: Flickr / Thiémard horlogerie / CC BY-SA 2.0