Am vergangenen Donnerstag (9.7.2020) informierte Stuttgarts Polizeipräsident Franz Lutz in einer Sitzung den Gemeinderat über den bisherigen Ermittlungsstand bezüglich der Krawalle in der Stuttgarter Innenstadt vom 20. auf den 21. Juni 2020. In einem Artikel der „Stuttgarter Zeitung“ wurde daraufhin berichtet, dass „die Polizei auch bei den Tatverdächtigen mit deutschem Pass mithilfe der Landratsämter deutschlandweit Stammbaumrecherche betreiben werde“. In besagtem Artikel wurde bereits die scharfe Kritik von Grünen- und Linksfraktion hieran wiedergegeben, und, dass auch der Landesdatenschutzbeauftragte Zweifel an der rechtlichen Grundlage dieser Praxis geäußert habe.
Nun bemühen sich Polizei und Stadt klarzustellen: Lutz habe nicht von „Stammbaumrecherche“ gesprochen, lediglich von „bundesweiten Recherchen bei Standesämtern, um den Migrationshintergrund einzelner Tatverdächtiger festzustellen“. Das sei die Vorgehensweise bei einem Elternteil ohne deutsche Staatsangehörigkeit, um mehr gehe es nicht. Auch Baden-Württembergs Innenminister stellte sich hinter die Polizei und ihre Erhebung.
Die Kritik aber bleibt bestehen. Weiterhin gilt, was der Fraktionsvorsitzende der SPD im Stuttgarter Gemeinderat, Martin Körner, sagte: „Der Begriff hilft nicht viel weiter, denn 60 Prozent der Jugendlichen in dieser Altersklasse in Stuttgart haben ja einen Migrationshintergrund.“
Der Fraktionsvorsitzende der Linkspartei im Bundestag, Dietmar Bartsch, spricht sogar von „Rassismus pur“ und SPD-Vorsitzende Saskia Esken schreibt auf Twitter „Das verstört mich nachhaltig“. Auch von FDP und Grünen kommen bundesweit klare Worte, die das Vorgehen der Polizei als unmöglich und rassistisch bezeichnen. Ebenso unbeirrt zeigen sich aber auch die Befürworter*innen. Die genaue Erhebung der Hintergründe sei selbstverständlich und wichtig, nur durch eine solche Differenzierung könnten „zielgerichtete Strategien“ und „maßgeschneiderte Konzepte“ zur Prävention erarbeitet werden.
Welche Rolle spielt Herkunft bei einer polizeilichen Ermittlung?
Die Stuttgarter Polizei betont, dass „die Feststellung der Lebens- und Familienverhältnisse“ Teil der Ermittlungen sei. Das stimmt durchaus, mit Lebens- und Familienverhältnissen ist aber eben nicht primär die Herkunft, beziehungsweise der Migrationshintergrund gemeint. Hier geht es um die persönliche Lebenslage und das soziale Umfeld und inwiefern diese Ursache für Straftaten sein können. Da geht es beispielsweise um Fragen wie: Kommt der*die Täter*in aus instabilen Familienverhältnissen (z.B. psychische Erkrankung eines Elternteils, häusliche Gewalt), die Ursache für kriminelle Neigungen sein können? Sind prekäre Lebensbedingungen (z.B. Armut, Drogenabhängigkeit) gegeben, die die Tat erklären können? Die Herkunft einer Person kann dagegen nie begangene Straftaten erklären, geschweige denn Ursache für sie sein.
Welche Rolle spielt Herkunft bei Gerichtsverfahren?
Die Stuttgarter Polizei betont auch, dass sich gerade im Jugendstrafrecht „die Lebens- und Familienumstände […] auf das Strafmaß und die anschließenden Präventionsmaßnahmen auswirken“ können. Auch das stimmt, allerdings ebenso wie oben beschrieben, anders als die Polizei Stuttgart nahelegt. Die Polizei ist nur dafür zuständig, Beweise für die Tataufklärung zu sammeln, der Rest ist Sache der Justiz. Die Biografie der*des Angeklagten wird normalerweise von der Jugendgerichtshilfe erhoben, das geschieht in einem Gespräch mit geschulten Sozialarbeiter*innen und vor allem ohne Tatbezug. Außerdem gilt nichtsdestotrotz der wichtigste Grundsatz eines demokratischen Rechtssystems: Vor Gericht sind alle gleich. Die Herkunft kann und darf sich nicht auf Gerichtsverfahren und Urteil auswirken.
Welche Rolle spielt Herkunft bei der Prävention von Straftaten?
Zu guter Letzt betonen die Stuttgarter Polizei und ihre Unterstützer*innen, dass die Differenzierung der Hintergründe der Täter*innen unerlässlich sei für die Präventionsarbeit. Das ist ebenfalls nicht falsch, aber auch hier geht es einerseits nicht um eventuelle Migrationshintergründe als Ursache und andererseits ist auch das nicht Aufgabe der Polizei. Wirklich differenzieren hieße gerade zwischen Lebensverhältnissen und Migrationshintergrund zu unterscheiden. Präventionsmaßnahmen richten sich nie auf die Staatsangehörigkeit eines Kindes oder Jugendlichen – und erst recht nicht auf die der Eltern. Prävention kann nur bei Lebensverhältnissen und sozialen Umstände als Ursache und damit Teil eines Problems ansetzen.
Politische Prävention könnte beispielsweise die Bereitstellung ausreichender Grundsicherung sein, um Existenzängsten vorzubeugen, soziale Prävention wären zum Beispiel Workshops zur Aggressionsbewältigung, um Gewaltausbrüche zu verhindern. Was sollten präventive Lösungsansätze sein, macht man einen Migrationshintergrund als Ursache und damit Problem aus?
Eine Straftat und ihre mögliche Ursache sind das Problem, niemals der Migrationshintergrund
Allgemein heißt das: Wenn eine Person raubt, ist das ein Problem. Wenn die Person raubt, weil ihre Familie arm ist (und gegebenenfalls ein Elternteil gewalttätig), ist außerdem die Armut ein Problem (und die Gewalttätigkeit des Elternteils). Das gilt gleichermaßen für Menschen mit deutscher Staatsangehörigkeit und ohne, sowie für Menschen mit Migrationshintergrund und ohne. Eine andere Staatsangehörigkeit oder ein eventueller Migrationshintergrund sind aber nie die Ursache für das Begehen einer Straftat. Selbst wenn die Lebens- und Familienumstände stabil sind und auch sonst keine augenfällige Erklärung für die Straffälligkeit einer Person gefunden werden kann: Eine andere Staatsangehörigkeit oder eventueller Migrationshintergrund sind es ganz sicher nicht.
Migrationshintergrund ist nicht gleich Lebensumstände
Lebensumstände können Erklärung oder sogar Ursache für Straftaten sein, Migrationshintergrund in keiner Weise. Eine Person kann eine Neigung zur Kriminalität entwickeln, weil sie aus einem schwierigen Elternhaus oder prekären Lebensbedingungen kommt, nicht weil ihre Eltern oder sie selbst aus einem bestimmten Land stammen. Das gilt auch, wenn Migrationshintergrund und schwierige soziale Umstände zusammenfallen: Ist die Familie einer raubenden Person arm, weil sie vor Krieg geflüchtet ist (und gegebenenfalls ein Elternteil aufgrund eines Traumas gewalttätig), ist weiterhin die Armut (und Gewalttätigkeit) das Problem (und natürlich, dass die Person raubt). Weitergehende Zusammenhänge von Lebensumständen und Migrationshintergrund zu untersuchen, ist zudem nicht die Aufgabe der Polizei, sondern der Wissenschaft, beispielsweise der Soziologie. Und die kommt in großer Mehrheit deutlich zum Schluss, dass die öfters prekären Lebensumstände von Menschen mit Migrationshintergrund auf rassistische Benachteiligung zurückzuführen sind. So oder so ist und kann nur die Marginalisierung von Menschen mit Migrationshintergrund Problem sein, nicht der Migrationshintergrund.
Wird Herkunft als Erklärung für Straftaten herangezogen, ist das rassistisch
Das bedeutet zusammenfassend: Lebens- und Familienverhältnisse, beziehungsweise soziale Umstände und Hintergründe, können relevant in Bezug auf begangene Straftaten sein und für die Ermittlung erhoben werden. Herkunft, beziehungsweise Migrationshintergründe aber nicht. Schließt man vom einen auf das andere, ist das rassistisch. Wird beides vermischt oder sogar gleichgesetzt, entstehen mindestens rassistische Vorurteile, oder bereits bestehende werden verstärkt. Und genau das ist im Fall der Aufarbeitung von Stuttgarts Krawallen Kern des Problems. Die Polizei greift für die begangenen Straftaten – sei es aus Mangel an anderen Ideen oder nicht – mindestens indirekt durch die Gleichsetzung mit Lebensumständen auf vermeintliche Herkunft als Erklärungsansatz zurück. Das ist – wenn vielleicht auch ungewollt – institutioneller Rassismus. Und damit ist sie nicht allein. Über den Ermittlungsstand wurde im Stuttgarter Gemeinderat auf Anfrage der CDU berichtet. Die hatte auch schon einen ausführlichen Fragenkatalog hierzu ausgearbeitet, die Hälfte der Fragen bezog sich auf die Herkunft der Tatverdächtigen.
Vorgehen der Stuttgarter Polizei als Teil der Diskursverschiebung nach rechts
Das passt perfekt zum letzten Aspekt der polizeilichen Begründung für die Erhebung: Das öffentliche Interesse. So sagt Stuttgarts Polizeisprecher Jens Lauer, dass in dieser Situation dazukomme, „dass ganz Deutschland auf den Fall blickt“. Werden Menschen mit Migrationshintergrund sowieso oft als nicht wirklich zu Deutschland gehörig wahrgenommen – offensichtlich beispielsweise durch die erste Assoziation bei nicht-weißen Personen nach der (‚richtigen‘) Herkunft zu fragen – ist durch die Verschiebung des Diskurses nach rechts offenbar auch die Assoziation eines Hangs zur Kriminalität normal geworden. Mit der Erhebung der Herkunftsinformationen von Tatverdächtigen im Rahmen der Ermittlung zu den Krawallen in Stuttgart betreibt die Polizei somit einen Quasi-Service zur vermeintlichen Bestätigung von rassistischen Vorurteilen. Einer der in der Nacht zum 21. Juni eingesetzten Beamten war zu dieser Zeit schon den ganzen Weg gegangen. Über die randalierende Menge kam er in einer Sprachnachricht da bereits zum Schluss: „Nur Kanaken“.
Vorurteile führen zwangsläufig zu Ungleichbehandlung
Versteht man Migrationshintergrund durch die gleichsetzende Vermischung mit Familien- und Lebensumständen als relevant für Straftaten, diskriminiert man einen Großteil der deutschen Staatsangehörigen mit Migrationshintergrund – immerhin 25 Prozent der Bevölkerung. Das schlägt sich insbesondere auf Polizeihandeln nieder, ist diese doch für die Verfolgung von Straftaten zuständig. Greift man zum Abschluss die oben bereits gestellte Frage erneut auf: Was wären präventive Lösungsansätze, wenn Migrationshintergrund als mögliche Ursache für Straftaten verstanden wird? Für polizeiliches Handeln wäre die Antwort klar: Naheliegenderer Verdacht und verstärkte Kontrolle von Personen mit Migrationshintergrund. Das nennt man Racial Profiling.