Das brave und nützliche Schaf
Zu Beginn der Darstellung und der symbolischen Nutzung von Tieren in Kunst und Kultur hatte das Schaf eine herausragende Rolle. Schafe gehörten tatsächlich zu den ersten Tieren, die Menschen zu zähmen vermochten: Von Natur aus ist das Schaf relativ wehrlos, hat allerhöchstens Hörner, die sich leicht wegzüchten ließen. Es ist leicht zu halten, weil als Herdentiere immer bereit, den anführenden Tieren zu folgen. Und es ist ausgesprochen nützlich, weil vom Schaf praktisch alles verwendet werden kann, von der Wolle über die Milch bis zum Fleisch.
Das paradiesische und göttliche Schaf
Kein Wunder also, dass es schon Höhlenzeichnungen aus der Steinzeit von Schafen gibt. In der Antike dann der erste symbolische Höhenflug der Schafe: Als Verkörperung der Friedfertigkeit und Sanftmut durften sie – mit ihren musisch begabten Hirt*innen – das paradiesische Reich Arkadien in der griechischen Mythologie bevölkern. Und im Christentum wird das Schaf als Opfertier, dass alles für den Menschen gibt, gar zum Symbol für Gottes Sohn Jesus Christus, der als Lamm Gottes bezeichnet wird, weil er sich für die Menschheit hingegeben hat. Ein Schaf, das ist ein Ausdruck von Friedfertigkeit, Hingabe, Unschuld, Opferbereitschaft. So blieb es viele Jahrhunderte. Dann kam der Abstieg.
Mittelalterliches Lamm Gottes von Jan van Eyck, 2018 viel diskutiert wegen seines scharfen Blicks nach der Restauration des Gemäldes.
Das vermenschlichte und dumme Schaf
Die Herabwürdigung begann im 19. Jahrhundert. Künstler*innen verließen die mythischen Welten der Sagen und Religionen und wollten anfangen, die Welt um sich herum abzubilden. Auf einigen Bildern des 19. Jahrhunderts sind Schafe also einfach nur Schafe. Dann aber begannen Literatur und Kunst mit der Anthropomorphisierung, also der Vermenschlichung von Tieren. Tieren wurden also Charaktereigenschaften zugeschrieben, abgeleitet aus ihren Verhalten. Plötzlich gab es nicht mehr so viele unschuldige Schafe, sondern das Image der Schafe verschlechterte sich zusehends. Dumme Schafe, die mit der Herde mitlaufen, ohne selbst zu denken. Schwarze Schafe als Verkörperung des Ausgestoßenseins aus der Gesellschaft. In der Literatur, in der Karikatur, schließlich auch in der Kunst: Schafe galten plötzlich als Verkörperung einer kopflosen, unkritischen, allzu folgsamen Gesellschaft und als Versinnbildlichung von Dummheit.
Schafbild aus dem 19. Jahrhundert: Naturalistische Darstellung, aber für den symbolistischen Künstler sollten die Schafe verirrte Gläubige im Dornwald darstellen.
Danach waren Tiere und auch Schafe als Symbole für Literatur und Kunst im 20. Jahrhundert als Motive nicht mehr so interessant. Immer neue Formen von Abstraktion überwinden Bildmotive. Natürlich tauchen Schafe aber weiter in Kirchen-Zusammenhängen oder Spottzeichnungen auf.
Und schließlich: Das Schlafschaf
Überspringen wir ein paar Jahrzehnte und landen wir: 2020. Telegram-, Twitter- und Instagram-Kanäle bersten praktisch vor Schafbildern, Schafzeichnungen, Schaf-Memes. Schafe werden auf Plakate gedruckt durch deutsche Innenstädte getragen, zieren T-Shirts und Modelabel aus dem Hygienedemo und „Querdenken“-Milieu: Das Schlafschaf ist vielleicht DAS Symbol schlechthin der verschwörungsideologischen Bewegungen im Pandemie-Jahr. Die Symbolik des „Schlafschafes“ gab es auch schon vor 2020 in verschwörungsideologischen Kontexten, aber ein Boom 2020 ist unbestreitbar. Übrigens auch ein internationaler Trend: Im englischsprachigen Raum ist das Äquivaltent das „sheeple“ – eine Mischung aus „sheep“ (Schaf) und „people“ (Volk). Wie in „We the sheeple“ („Wir, die dummen Schafe“).
Also: Was verkörpert das Schlafschaf und seine Kolleg*innen in verschwörungsideologischen Kontexten?
Die Herden-Metapher
Die Herde aus Schlafschafen ist eine der beliebtesten Erzählungen, kombiniert sie doch das in den Augen der Verschwörungsideolog*innen unaufgeklärtes Hörigsein mit dem gedankenlosen Mitlaufen. Davon möchten sich die „Selberdenker“ und „Querdenker“ ja nur allzugern lossagen, um das eigene Social-Media-Studium als alternative zu Expertise und Fakten zu empfehlen.
Dies ist die erfolgreichste Foto-Montage zum Thema im deutschsprachigen Raum.
Schafe mit Masken. Maskentragende als Schafe. Hihihi.
Die Varianten dazu sind endlos:
Um anderen „Betreutes Denken“ vorzuwerfen;
Um gegen die Menschenrechtsverletzungen zu protestieren, die man darin sieht, auf andere Rücksicht zu nehmen und eine Maske zu tragen.
Oder man stellt einfach Angela Merkel, Bundeskanzlerin und erklärte Erzfeindin aller Rechtsextremen und Coronaleugner*innen, als Hirtin vor die Schlafschafherde.
Das Motiv gibt es unter „Patriotische Memes“ übrigens auch mit Markus Söder, aber dann sind es andere Schafe und es gibt die narrative Erweiterung, er treibe die „Schlafschafe“ zur Herde zurück.
Desweiteren beliebt: Diese vielschichtige Bildmontage.
Hier wird noch eine Ebene Homo- und Transfeindlichkeit mit eingebaut, in dem die Herde in Regenbogenfarben eingefärbt ist, und die beiden vorderen Schafe sind auch noch Wölfe im Schafspelz, die hier offenbar gezielt die Herde ins Verderben führen. In der Praxis z.B. so kombiniert:
Während Frankreich die „Gelbwesten“ zum Widerstand gegen die Regierung hat, verbildlicht durch den „Sturm auf die Bastille“, hat Deutschland nur regenbogenbunte Schlafschafe.
Falls Sie sich nun fragen, warum denn eigentlich alle zu Schlafschafen werden – dafür gibt es eine Erklärung:
Nichts ist für Verschwörungsideologien offenbar so zerstörerisch wie guter Journalismus.
Ein anderes Herdenmotiv ist das dumme Schaf, dass seinen eigenen Untergang nicht kommen sieht. Verschwörungsideolog*innen, die sich für besonders aufgeklärt halten, gefällt das.
Das Motiv des „Löwen unter den Schafen“ ist eigentlich ein christliches Motiv für paradiesischen Frieden durch vollständige Abwesenheit von Gewalt. In diesem Bild geht es aber nur darum, sich durch Nichtmasketragen zum heroischen Löwen zu stilisieren – übrigens in diesem Sinne wieder sehr gefährlich für die Schafe.
Und noch ein Beispiel, wie sich krudeste Verschwörungsideologien durch ein putziges Schaf-Foto verniedlichen lassen. Hier sind im Bild Impfgegnerschaft, Medienfeindlichkeit und 9/11-Verschwörung vereint, in den Hashtags kommen noch Bargeldangst, Chip-Angst, Demokratiefeindlichkeit und die Angst vor einer „Neuen Weltordnung (NWO)“ dazu. Einmal alles an Verschwörungen mit Schaf, bitte.
Das ging Ihnen jetzt zu schnell? Da gibt es natürlich noch ein Schaubild zu, dass diese und mehr Verschwörungserzählungen am Schaf zusammenfasst: Vom Maulkorb über das Chip-Implantat, vom Hirnblocker bis zum genderfeindlichen „3. Geschlecht“ alles dabei.
Und wo die Schlafschaf-Rhetorik endet, zeigt hier stellvertretend der Schwurbel-Schlagerstar „Der Wendler“ mit einer Weiterleitung aus einem Kanal von Ken Jebsen (aber der Post wurde auf ganz Telegram vielfältig geteilt):
Die „BRD-Schlafschafe“ lassen sich zum Impfen treiben, und geimpft wird in Auschwitz. Hier sind wir nun bei Holocaustrelativierung mit Schafen angekommen.
Das aufwachende Schlafschaf
Manchmal aber identifizieren sich auch Verschwörungsgläubige selbst mit Schafen. Dann aber sind sie die „schwarzen Schafe“, diejenigen die Schlafschafe aufwecken.
Beliebt ist das Motiv des unverstandenen Mahners. Hier als schwarzes Schaf.
Hier wird ein Motiv aus nicht-politischem Zusammenhang verwendet und im Sinne des Aufweckens von Schlafschafen umgedeutet.
Auffällig ist, dass das Motiv des Aufweckens von Schlafschafen gern mit harmlosen und niedlichen Schafbildern kombiniert wird. So findet sich dieses Motiv etwa auch in zahlreichen deutschen T-Shirt-Shops, in denen Menschen selbst Entwürfe anbieten können. Das „Schlafschafe aufwecken“-Motiv bleibt, auch wenn offensichtlichere Verschwörungsmotive gesperrt werden.
Und die Rückeroberung des Schlafschafs
Müssen wir Schafe damit nun für immer an die Verschwörungsideolog*innen verloren geben? Natürlich nicht, denn Symboliken lassen sich umdeuten. Und wenn das Schlafschaf in verschwörungsideologischen Kreisen für die Demokrat*innen steht, die solidarisch und rücksichtsvoll sind und an Wissenschaft, Fakten und Gleichwertigkeit glauben, dann können wir uns mit dem Schlafschaf auch identifizieren. Und auch dies passiert:
Hier sind die Masken-tragenden Schafe diejenigen, die klug in Sicherheit bleiben, während die „Lemminge gegen Masken“ den Berg hinunterstürzen, während sie schreien: „Guck Euch diese Schafe an!“
In diesem Cartoon läuft das Schaf, das einen Maske tragenden Artgenossen als „Schlafschaf“ beschimpft, mit grimmigen Wölfen auf der Straße – ein schönes Sinnbild für die „Querdenken“-Demonstrationen, auf denen Rechtsextreme nicht nur geduldet, sondern auch begrüßt werden.
Es gibt entsprechend auch offen positive Bezüge auf Schlafschafe.
Besonders schön ist das hier von „Schlafschaf TV“, mit Bezug auf die antirassistischen Demonstrationen unter dem Motto „#Wirsindmehr“:
Die Autorin ist nicht nur Chefredakteurin von Belltower.News, sondern hat auch ihre Magisterarbeit in Kunstgeschichte an der FU Berlin über „Schafe in der Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts“ geschrieben (1999, leider unveröffentlicht). Ihr Beschäftigung mit der Schafsymbolik ist langjährig und leidenschaftlich.