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[tacheles_3] „Der Massenmord geschah uns, unseren Freunden, unseren Familien.“

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[tacheles_3] (Quelle: Unsplash)

Seit dem siebten Oktober geht es mir schlecht. Das ist ein Fakt. Ich teile diesen Zustand innerer Krise und Verzweiflung mit fast allen in der jüdischen Gemeinschaft. Die Frage, die ich mir jeden einzelnen Tag stellen muss ist, wie ich darauf reagiere – für mich, für meine Familie und für die Gesellschaft, in der ich lebe. Ich könnte meine verstörenden Gefühle  und meine tiefsten Ängste teilen und damit vielleicht ein wenig mehr Mitgefühl für unsere Situation herstellen. Doch was, wenn beides abgewiesen wird, oder schlimmer noch, sich gegen mich wendet?

Nein, nach zwei, drei Erfahrungen dieser Art werde ich mir das nicht mehr antun. Verhöhnt und belehrt zu werden, ist unangenehm, dafür jedoch in Deutschland angefeindet zu werden, nicht zu ertragen. Viele Juden machen diese Erfahrung täglich. Viele geben auf, verstecken ihre Identität und ihren Schmerz. Manche wenden sich ab, andere verlassen das Land. Dabei geht es zunächst allein darum, die jüdische Erfahrung zu teilen. Da ist noch kein politisches Wort gefallen, noch kein Wort zu Israel gesagt. In einer solchen Atmosphäre über die Folgen des 7. Oktober zu sprechen, wird zu einem Akt existenzieller Überwindung.

Entfesselter Hass statt Mitgefühl

Am Abend des 7. Oktober war ich mit meiner Tochter und Enkeltochter in der Synagoge. Seit dem Morgen hatte ich die Nachrichten verfolgt und telefoniert. Mir war flau im Magen, ich weinte und konnte es nicht glauben. Panik saß mir im Nacken. Trotzdem wollte ich zum Gottesdienst. Eigentlich ist Simachat Tora ein sehr fröhliches Fest. Für die Kinder regnet es Bonbons und die Erwachsenen tanzen mit den Torarollen. Ein Jahr lang liest die Gemeinde Abschnitt für Abschnitt aus der Tora vor. An diesem Abend wird das letzte Wort der Tora gelesen. Am Ende steht ein Punkt. Das Jahr ist nun endgültig vorbei.  Danach beginnt das neue Jahr und die Tora wird von vorn gelesen. Bis zum nächsten Simachat Tora.

Doch zuvor werden alle Rollen aus dem Schrein, dem Aron ha-Kodesch herausgeholt, die großen und die kleinen, die glamourösen in schönem Stoff mit Glöckchen auf den Spitzen und die schmucklosen. Die Gemeinde trägt jede einzelne von ihnen durch den Raum und die Beter berühren und feiern sie. An diesem Abend musste ich unbedingt eine von ihnen halten und durch die Synagoge tragen. Das Tanzen fiel aus. Doch wenigstens regneten die Süßigkeiten für die Kinder. Allen Anwesenden ging es wie mir. Die Leute waren blass, sie sprachen leise miteinander, leiser als sonst. Sie berichteten von Verwandten und Freunden in Israel. Einige weinten. Der Schock war uns allen in die Knochen gefahren. Der Massenmord an diesem Tag geschah uns, unseren Freunden, unseren Familien, unseren Kindern und Enkeln, die dort brutal abgeschlachtet wurden.

Seit dem Tag ist für mich die Zeit stehen geblieben. Jeden Morgen wache ich am 7. Oktober auf. Alles, was danach kam, ist für mich wie für die meisten von uns, kaum zu ertragen. Der gewaltsame Tod von Juden und Jüdinnen löst nicht Mitgefühl, sondern mehr Antisemitismus aus. Und je mehr getötet werden, desto größer und entfesselter scheint der Hass zu werden. Aus der Tiefe heraus brodelt heißer, alter Judenhass. Das mag immer schon so gewesen sein. Doch kann, wer es erlebt, die angemessene Reaktion von Schmerz, Furcht, Enttäuschung und Verrat nicht einfach sein lassen. Weil diese Entwicklung anhält, bleibt es Oktober für uns.

Kein Mittel gegen Antisemitismus

Was ist das nur mit dem Antisemitismus? Richtig zu erklären ist er nicht. Forscher versuchen ihn zu beschreiben. Die diskursive Öffentlichkeit streitet mitunter darum, wie er aussieht und welche Formen er annimmt. Am meisten Streit gibt es bei Antisemitismus mit Israelbezug. Manche verleugnen ihn ganz, manche ein bisschen, manche sehen in ihm die absolute Form des Antisemitismus. Auch hier bleibt es meist bei der Beschreibung. Warum er aber da ist, was er anrichtet, woraus er sich speist, was seine Aufgabe ist, bleibt unklar. Warum es immer die Juden trifft, wenn er doch nur eine Projektion darstellt, scheint auch schwer zu erklären zu sein.

Bei einem so irrationalen Phänomen müsste sich die Perspektive ändern, um eine Erklärung zu finden. Antisemitismus ist ein Formwandler in der Zeit, der sich seit über 2000 Jahren in den verschiedenen Gesellschaften eingenistet hat. Wie man ihn bekämpfen oder wenigstens reduzieren kann, weiß auch niemand mit Gewissheit. Wegpädagogisieren lässt er sich nicht, durch Aufklärung über die Shoah oder/und das Judentum ist ihm auch nicht beizukommen. Selbst Begegnungen mit echten Juden und Jüdinnen ändern am Antisemitismus wenig. Gäbe es ein Mittel, wäre es längst gefunden worden.

Forscher*innen können sagen, was ihn begünstigt, aber nicht, wie er wieder verschwindet. Mal ist er virulent, mal latent, aber immer potenziell tödlich für Juden und Jüdinnen. Was Wissenschaft weiß auch, dass Antisemitismus nicht davon abhängig ist, wie Juden und Jüdinnen – einschließlich Israel – sich verhalten: Antisemitismus bleibt davon völlig unberührt. Seine Trigger liegen woanders. Gute Juden, schlechte Juden, ob laut oder leise, ob angepasst oder nicht, ob außerordentlich klug oder dumm, ob religiös oder woke, nichts beeindruckt oder beeinflusst die Antisemit*innen. Antisemitismus kommt aus dem Bauch der Gesellschaft. Keine politische Richtung, kein soziales Milieu, kein Bildungsstand ist gegen ihn immun. Dass es Menschen gibt, die tatsächlich in der Lage sind, ihren Antisemitismus zu überwinden, liegt an vielen verschiedenen Umständen. Dass es möglich ist, bleibt unbestritten, doch ein Patentrezept gibt es nicht.

Verschwörung über alles

Dass hinter den Kulissen Juden und Jüdinnen das Böse verabreden, gehört zum Kern des Antisemitismus. Ja, er selbst ist eine Verschwörungsidee. . Und diese Idee ist der Glaube oder die feste Überzeugung, dass die Welt aus Verschwörungen besteht: Hinter jedem Ereignis, jeder Entwicklung steckt eine böse und inszenierte Absicht. Wer daran glaubt, muss sich mit der Wirklichkeit nicht auseinandersetzen, er muss keine Konflikte lösen, von denen die Welt und sein eigenes Dasein voll ist. Das ist nicht kritisches Denken, sondern Flucht aus eigener Verantwortung. Kritisches Denken, auch in Bezug auf Israel, braucht Informationen, Tatsachen und das aufrechte Bedürfnis, zu verstehen. Gerade letzteres kommt im Verschwörungsglauben nicht vor. Nicht das Interesse am Gegenstand beschäftigt Verschwörungsideolog*innen und Antisemit*innen, sondern die Bestätigung ihres Glaubens.

Über den Grund, weshalb ausgerechnet auf die Juden dieser Wahn projiziert wird, kann man streiten. Was ich aber beobachte, ist wie sehr das Jüdische insgesamt mit Unbehagen betrachtet wird. Es entzieht sich einer christlich geprägten Geschichte, Kultur und Sozialisation, die um jeden Preis die Eindeutigkeit fordert, linear und dichotomisch zu denken hat und das Böse externalisiert. Denn im Judentum ist es genau umgekehrt. Das Leben darf widersprüchlich sein, Konflikte dürfen ausgetragen, müssen aber nicht im Absoluten gelöst werden. Und das Böse ist Teil des eigenen Verantwortungsspektrums. Es gibt hier weder Verdammnis noch Erlösung, sondern nur den Willen, einer Ethik des Menschlichen zu folgen. Mit menschlichen Erfolgen und auch Misserfolgen: Diesseitigkeit, Freiheit des Denkens und Eigenverantwortung.

Durch Antisemitismus zur Erlösung

Antisemiten haben von jeher genau diese Grundlagen des Jüdischen angegriffen, denn sie fürchten und verachten es. Daher werden den Juden Eigenschaften und Vorsätze zugeschrieben, um diese Grundlagen zu verteufeln. Der Mythos der Zersetzung ist dabei vielleicht der Schlimmste, denn er schließt alle anderen antisemitischen Mythen mit ein. Der jüdischen Dialektik wird das absolut Reine entgegengesetzt. Konflikte und Gleichzeitigkeiten, deren Lösung selbstreflektiertes Handeln erfordert, können leicht in Antisemitismus umschlagen, wenn es schwierig wird. Dann werden Juden verantwortlich gemacht und es entsteht die Illusion, dass sie mit ihren Spaltereien und Diskussionen nur verschwinden müssen und schon lösen sich Konflikte in Luft auf. Antisemitismus ist im Grunde ein höchst infantiler Wunsch nach einem vollkommen konfliktfreien, widerspruchsfreien Leben. Dies ist die Vorstellung von Erlösung und Paradies. Wenn die Juden „unser Unglück“ sind, dann ist eine Welt ohne sie die Erlösung.

Antisemitismus besteht daraus, Fakten ins Gegenteil zu drehen. Ob es dabei um jüdisches Leben, die Shoa oder Israel geht. Lügen, Leugnen, Verdrehen – so geht die Sprache des Antisemitismus nach dem 7. Oktober. Die Mörder sind keine Mörder mehr, sondern Helden und Opfer. Hamas und Hisbollah bedeuten nicht Terror gegen Juden und genauso gegen die Palästinenser*innen. Die Hisbollah wird zum Stabilitätsfaktor in der Region hochgeredet und das Regime im Iran wehrt sich nur gegen „den Westen“. Israel hat kein Recht, sich zu verteidigen und schließlich – jetzt wird es ohne Umstände ausgesprochen – kein Recht zu existieren. Nichts gilt noch als das, was es ist. Jegliche westliche Freiheit und die Demokratie selbst werden zum Übel der Welt gemacht. Das alles erleben wir seit Oktober. Und es sind nicht allein Islamisten, die es so meinen. Es sind auch viele andere in Unis, Redaktionen, Büros, auf der Straße. Es sind Rechte, Linke und alle dazwischen.

Systemfrage Antisemitismus

Dieses Muster bleibt. Besonders paradox scheint es in unserer modernen, vielfältigen Welt, die von Konflikten durchzogen ist. Eine Demokratie ist ohne Konflikte, Aushandlungen, Kompromisse und Vielfalt der Interessen nicht denkbar. Ebenso wenig wie ohne den Schutz der Minderheiten in einem System wechselnder Mehrheiten. Das Jüdische in seiner Entstehungsgeschichte und seinen Grundsätzen enthält, was für dieses System, diese Idee des Demokratischen notwendig ist: Selbstreflexion, Verantwortung, Konfliktkompetenz und eine Ethik, die sich am Lebendigen orientiert. Deshalb entsprechen demokratische Werte und ihr System dem Jüdischen auf besondere Weise. Denn das Jüdische enthält den Schlüsselcode der emanzipierten Moderne. Und der Antisemitismus enthält den Schlüsselcode zu ihrer Zerstörung.

Deshalb ist der Antisemitismus so gefährlich. Ganz unabhängig davon, ob er die Juden trifft, ob er ein ganzes Land auslöschen will, ist es der Antisemitismus, der das Demokratische als System und seine zivilisatorische Kraft zerstören wird. Die Frage nach Antisemitismus ist dabei, zur Systemfrage zu werden. Soll es ein System der Offenheit sein, der Vielfalt, Gleichzeitigkeit und der Möglichkeit Widersprüche zu benennen? Oder eines, das sich an seinem Gegenteil orientiert? Ist es der Westen im besten Sinne oder das Modell Iran? Seit dem 7. Oktober, als nach den brutalen, sadistischen Morden der Hamas an Menschen in Israel, umgehend der antisemitische Furor begann, muss sich die Welt genau damit auseinandersetzen.

Diese Gedanken mögen ein Ausblick sein, ein Grund, genauer darauf zu schauen, was sich hier entwickelt. Doch bleibt es trotzdem ganz persönlich. Gegen mich, gegen meine Freunde, die Familie, gegen die Juden und alle, die sich um Antisemitismus ernsthaft Sorgen machen. Was in diesem einem Jahr geschehen ist, was Menschen gesagt und getan haben, welcher Hass gegen Juden plötzlich offen lag, hat uns alle getroffen. Es ist eine Sache, Antisemitismus als ständiges Hintergrundgeräusch wahrzunehmen und zu wissen, er könnte losbrechen. Eine andere ist es aber, auf die Plakate und Münder zu starren und den Hass um die Ohren gebrüllt zu bekommen. Auf der Straße, in den Unis, bei Veranstaltungen haben aufgeputschte Menschen unglaubliche Dinge geäußert. Die hassverzerrten Gesichter und sich überschlagenden Stimmen mit denen auf Veranstaltungen gebrüllt wird, machen Angst. Drohungen, Einschüchterung, Erpressung – damit sollen Clubs ruiniert, Professor*innen gecancelt und Restaurants platt gemacht werden. Und vor allen Dingen sollen die Juden aufhören, sich dagegen zu wehren.

Doch das werden wir nicht tun, so erschöpft wir auch sein mögen. Die Phase sich traurig und fassungslos zu fühlen, enttäuscht zu sein von Freund*innen oder ganzen Gruppen, die Phase der Schockstarre ist vorbei. Wir wissen, was Antisemitismus ist, weil wir ihn erleben. Und weil er eingeschrieben ist in die DNA unserer Familien. Wir wissen, wofür er steht, welche Idee von der Welt und dem Leben mit ihm verbunden ist. Und wir wissen deshalb auch, dass der Antisemitismus nicht nur eine Welt ohne Jüdinnen und Juden vorsieht. Er wird alles Lebenswerte, Lebendige, Menschliche und Widersprüchliche mit sich reißen. Sodass am Ende alles grau sein wird, einfältig und kaputt. Und das werden sie Paradies nennen.

Das lassen wir nicht zu, dagegen kämpfen wir jetzt, so gut wir eben können. Solange es für uns Oktober bleibt.

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