Belltower.News: Ein Jahr nach dem 7. Oktober. Was hat sich verändert, vor allem in Hinsicht auf feministische Gruppen und Allianzen?
Rosa Jellinek: Die größte Veränderung ist der massive Anstieg der antisemitischen Straftaten, Übergriffe und Beleidigungen – das zeigt sich eindeutig in den Zahlen von RIAS oder den Beratungsanfragen bei OFEK, oder auch in der Polizeistatistik. Antisemitismus ist extrem angestiegen und auch progressive, queere feministische Gruppen sind mit dem Thema 7. Oktober und dem darauffolgenden Krieg beschäftigt. Das sieht man ganz besonders in Berlin, aber auch deutschlandweit. Und es gibt unter diesen Gruppen auch einige sehr laute, die sich antiisraelisch positionieren. Ich sage bewusst antiisraelisch, weil ich diese übliche Gegenüberstellung – entweder propalästinensisch oder pro israelisch – für zu kurz und zu klein gedacht halte.
Warum?
Viele Leute können sich da überhaupt nicht verorten. Und ich habe kein Problem mit propalästinensischen Gruppen, sondern eben mit solchen, die sich gegen die Existenz des israelischen Staates richten. Zum Vergleich: Russland führt seit Jahren einen Angriffskrieg gegen die Ukraine und ich habe noch nie gehört, dass Linke oder wer auch immer davon sprechen, dass der russische Staat deshalb abgeschafft werden müsste. Die ganze komplexe Situation wird von diesen Gruppen extrem stark simplifiziert.
Wie blicken diese Gruppen auf den sogenannten Nahostkonflikt?
Es ist eine ganz einfache Aufteilung: auf der einen Seite die Unterdrücker*innen, auf der anderen die Unterdrückten. Israel ist der unterdrückende Kolonialstaat. Dass die Situation aber sehr viel komplexer ist, wird in so einem Narrativ nicht dargestellt. Leider haben das einige feministische Gruppen übernommen, die sich nur sehr einseitig positionieren. Und das hat sich auch verändert: Dass der sogenannte Kampf für die Befreiung Palästinas so breit – nicht nur in Deutschland, sondern auf der ganzen Welt – in solchen Gruppen aufgenommen und als oberste Priorität angesehen wird.
Gibt es auch positive Entwicklungen?
Es sind neue Bündnisse und Netzwerke entstanden wie z. B. Feminism Unlimited, die sich sehr ausgewogen positionieren, eben auch explizit gegen diese antisemitischen Entwicklungen in feministischen Gruppen und trotzdem palästinensische Positionen mit einbeziehen in ihren Aktivismus.
Wie sieht Antisemitismus heute aus?
Ich glaube, im Prinzip hat sich der Antisemitismus selbst gar nicht so groß verändert. Es gab ja auch schon vor dem 7. Oktober viel israelbezogenen Antisemitismus, der in den letzten Jahrzehnten zu einer der Hauptformen von Antisemitismus aufgestiegen ist. Seitdem hat er sich aber sehr viel weiter verbreitet und ist spätestens jetzt in der Mitte der Gesellschaft angekommen.
Israelbezogener Antisemitismus ist, wie der Name schon sagt, auch Antisemitismus.
Vielen ist die Komplexität und auch die Wandlungsfähigkeit von antisemitischen Narrativen überhaupt nicht bewusst. Im Mittelalter hat man den Juden die Schuld an der Pest gegeben, vor ein paar Jahren haben die „Eliten“ angeblich Corona verbreitet. Das ist im Kern genau dasselbe antisemitische Narrativ von den bösen Juden, die Krankheiten verbreiten, es sind nur andere Codes, die genutzt werden, um von Jüdinnen*Juden zu sprechen. Antisemitismus wird in jedem Jahrhundert ein bisschen anders aussehen, aber der Kern bleibt derselbe, und zwar, dass Jüdinnen*Juden an den bösen Entwicklungen auf der Welt schuld sind, dass sie zu viel Macht haben, zu viel Einfluss.
Du hast zu Recht das Schweigen feministischer Gruppen zu der sexualisierten Gewalt am 7. Oktober kritisiert. Was hätte im letzten Jahr diesbezüglich eigentlich passieren müssen?
Feministische Gruppen haben eigentlich immer den Grundsatz „believe all women“, also Frauen und Betroffenen von sexualisierter Gewalt soll Glauben geschenkt werden und nicht den Tätern. Aber feministische Gruppen haben die explizit misogyne, sexualisierte Gewalt der Hamas geleugnet und relativiert und sie haben sogar auch den Spieß umgedreht und ein angeblich rassistisches Narrativ unterstellt. Man würde sich damit einreihen mit angeblich unhaltbaren Vorwürfen in eine lange Geschichte falscher Beschuldigung von Schwarzen bzw. BIPoC Männern, die weiße Frauen vergewaltigen. Und so sehr es natürlich berechtigt ist, solche rassistischen Narrative zu hinterfragen, ist es in diesem Fall eben komplett unangebracht, weil die Gewalt durch viele Berichte klar belegt ist. Das ist zutiefst antifeministisch.
Was bedeutet das für dich?
Dass Antisemitismus ansteigt, wenn der Nahostkonflikt hochkocht, ist etwas, das ich erwarte. Das überrascht mich nicht. Aber dass feministische Gruppen so konsequent ihre Grundsätze über Bord werfen, um die eigenen Narrative nicht hinterfragen zu müssen, das fand ich schon schockierend. Was es eigentlich gebraucht hätte, ist zu den eigenen Werten zu stehen, Vergewaltigungen nicht zu leugnen oder zu relativieren, sondern eine echte feministische Solidarität zu zeigen, auch wenn sie nicht in die eigenen Narrative und Vorstellungen passt, sondern die zu hinterfragen und Gleichzeitigkeiten auszuhalten. Die Verbrechen der Hamas zu verurteilen, heißt nicht, dass man unsolidarisch mit Palästinenser*innen ist. Ganz im Gegenteil, man muss die Hamas verurteilen, um solidarisch mit Palästinenser*innen zu sein.
Es ist ja auch nicht so, als ob in diesen Gruppen sexualisierte Gewalt als Kriegsverbrechen grundsätzlich kein Thema wäre. Zum einen sieht man das im Kontext von anderen Konflikten, wie dem russischen Krieg in der Ukraine oder auch bei sexualisierter Gewalt gegen Kurdinnen oder Jesidinnen, die zwar auch häufig nicht thematisiert wird, aber in der Regel von linken, feministischen Gruppen nicht geleugnet wird. Zum anderen weisen diese Gruppen berechtigterweise auf sexualisierte Gewalt durch die IDF hin. Das hat auch seine Berechtigung. Man kann sich aber seine Solidarität nicht einfach wählen—hier passt sie in die eigenen Narrative und dort nicht – sondern feministische Solidarität heißt, dass man sich mit allen Opfern sexualisierter Gewalt solidarisiert.
Warum fällt es diesen Gruppen so schwer, sich explizit von der Hamas zu distanzieren?
Das hat mehrere Ursachen. Die Hamas passt nicht in dieses Narrativ von den Unterdrückten und den Unterdrückern, weil dann ja die Unterdrückten etwas Schlechtes machen. Zum anderen glaube ich, dass ein Teil auch einfach die Hamas nicht als Terrororganisation ansieht, sondern als eine Form legitimen Widerstands. Wenn man gegen eine angebliche Kolonialmacht kämpft, dann ist Terror legitim. Viele setzen sich auch einfach nicht genügend oder differenziert genug damit auseinander, was die Hamas alles gemacht hat.
Was sind momentan die größten Gefahren für jüdisches Leben in Deutschland?
Das lässt sich gar nicht mal so einfach beantworten – es gibt kurzfristige Gefahren, es gibt langfristige Gefahren. Ich glaube, Islamist*innen, islamistischer Terror, israelbezogener Antisemitismus sind definitiv eine sehr große Bedrohung für jüdisches Leben in Deutschland. Das merkt man an den wiederholten körperlichen Angriffen auf Jüdinnen*Juden, an Anschlagsplänen auf jüdische Einrichtungen, Institutionen, Synagogen. Islamismus ist aber nicht nur eine Gefahr für Jüdinnen*Juden in Deutschland, sondern auch für Jesidinnen, Kurdinnen und für andere Gruppen. Aber man darf auch nie vergessen, dass weiterhin rechtsextremistischer Antisemitismus, Antisemitismus von Rechten, ein Riesenproblem ist und langfristig ein Problem bleiben wird. Man darf nicht die AfD und ähnliche rechte Parteien und Gruppierungen aus dem Blick verlieren, weil die eine sehr große Gefahr für Jüdinnen*Juden sind.
Was wünschst du dir von der Zivilgesellschaft oder generell linken, emanzipatorischen Gruppen?
Ich wünsche mir zum einen, dass mehr Gleichzeitigkeiten ausgehalten werden können. Ich wünsche mir auch einfach, dass sich manche Menschen ein bisschen mehr zurückhalten. Ich sehe bei vielen, gerade bei linken Gruppen, einen White-Savior-Komplex. Viele von den lautesten Stimmen in Diskussionen, die ich mitbekomme, sind oft weiße Almans, die gar nicht mal so viel Ahnung vom Thema haben und vor allem auch no skin in the game haben. Also ob dort Leute sterben oder nicht, das macht die vielleicht traurig, aber das sind nicht deren Verwandte oder Freund*innen, aber trotzdem spielen sie sich zu den Retter*innen des Nahen Ostens auf. Anstatt sich selbst immer wieder in die Mitte und nach vorne zu stellen, erwarte ich von diesen Menschen eigentlich, dass sie Räume schaffen, damit sich Betroffene begegnen können, dass es einen Austausch geben kann und sie Betroffenen zuhören und diese Situation nicht immer weiter verschärfen und verhärten. Ich wünsche mir auch, dass es mehr Demonstrationen geben würde, auf denen weder antisemitische noch rassistische Parolen Platz finden und wir gemeinsam demonstrieren und uns für Frieden einsetzen können, ohne solche Narrative wiederzugeben. Ich wünsche mir von der deutschen Regierung und von Parteien in Deutschland, dass sie Jüdinnen*Juden weniger zum Spielball machen für ihre rassistische Politik und dass sie jüdisches Leben besser schützen, ohne rassistisch zu werden und Abschiebungen zu fordern.