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[tacheles_3] Wie sich Antisemitismus an die Gegenwart anpasst – und im Kern doch gleich bleibt

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[tacheles_3] (Quelle: Unsplash)

Strippenzieher, Geldjuden, Ritualmord – wer glaubt, antisemitische bzw. antijudaistische Stereotype wie diese seien lediglich Reminiszenzen an längst vergangene Zeiten, irrt. Denn obwohl zahlreiche Vorurteile gegen Jüdinnen*Juden und darauf basierende Verschwörungsmythen tatsächlich schon sehr alt sind, zeigt die weltweite Konjunktur von antisemitischen Vorfällen infolge des 7. Oktober 2023 einmal mehr, dass Antisemitismus extrem anpassungsfähig und mitnichten ein Phänomen der Vergangenheit ist. Deutschland stellt diesbezüglich leider keine Ausnahme dar. Getragen von einer erneuerten Allianz aus islamistischen und antiimperialistischen Kräften, sind auch hierzulande der Antisemitismus im Allgemeinen und antisemitische Verschwörungserzählungen im Besonderen seit dem Massaker der islamistischen Terrormiliz Hamas vor einem Jahr drastisch in die Höhe geschnellt.

So registrierte die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) vergangenes Jahr insgesamt 4.782 antisemitische Vorfälle in Deutschland, was einem Anstieg um 83 Prozent im Vergleich zum Vorjahr entspricht. Das Spektrum reicht dabei von antisemitischen Schmierereien und Parolen über Versammlungen bis hin zu tätlichen Angriffen und Anschlägen. Mehr als die Hälfte der Vorfälle ereignete sich nach dem 7. Oktober, wie RIAS ausführt: „Bereits bekannte antisemitische Parolen und Stereotype wurden nach dem 7. Oktober aktualisiert und zum Teil auf die Massaker der Hamas oder auf die Reaktionen Israels übertragen. Besonders häufig waren dabei Dämonisierungen und Delegitimierungen Israels, Relativierungen der Shoa (etwa durch Analogien) sowie Gleichsetzungen von Jüdinnen*Juden mit Israel, indem diese für das Vorgehen des israelischen Militärs verantwortlich gemacht wurden.“ Dass die Zunahme antisemitischer Vorfälle unmittelbar nach dem Massaker der Hamas, also noch vor der militärischen Reaktion Israels, einsetzte, verdeutlicht, dass der 7. Oktober für viele lediglich ein Gelegenheitsfenster darstellt, um ihren Vorurteilen und ihrem Hass auf Jüdinnen*Juden noch ungehemmter Ausdruck zu verleihen.

Dies gilt auch für die Aktualisierung altbekannter antisemitischer Verschwörungsmythen, die sich seit dem 7. Oktober verstärkt mit Bezug zur gegenwärtigen Gewalteskalation in Nahost präsentieren.  Verbreitung finden diese Verschwörungserzählungen sowohl auf der Straße, etwa auf Plakaten bei Versammlungen, als auch in den sozialen Medien.

Der 7. Oktober – eine Inszenierung des „Strippenziehers“ Israel

Bereits kurz nach dem Angriff der Hamas am 7. Oktober kursierte im Netz die Behauptung, Israel habe die Attacke entweder unter „falscher Flagge“ selbst durchgeführt oder lediglich fingiert, mit dem Ziel, einen Vorwand für einen militärischen Gegenschlag in Gaza zu schaffen, etwa um angebliche Expansionspläne „bis zum Nil“ voranzutreiben. Obwohl die Gräueltaten der Terrormiliz bestens dokumentiert sind (teils von der Hamas selbst, die ihre Verbrechen live streamte), werden über solche Behauptungen ähnlich wie bei den Terroranschlägen auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001 bis heute Zweifel an der Echtheit des Angriffs gesät. Derartige Desinformationen stellen nicht nur eine Schuld- bzw. Verantwortungsumkehr dar, bei der das Leid der Opfer des Massakers und ihrer Hinterbliebenen delegitimiert wird. Sie sind zugleich Neuauflagen des alten Mythos vom jüdischen Strippenzieher, der im Geheimen agiert, Unheil über die Welt bringen will und auch die Medien steuert.

Dieses Verschwörungsnarrativ reicht zurück bis ins 18. Jahrhundert. Ab 1903 fand es von Russland ausgehend größere Verbreitung durch die sogenannten „Protokolle der Weisen von Zion“: eine angeblich aus jüdischer Feder stammende antisemitische Flugschrift, die behauptet, „das Weltjudentum“ wolle die Herrschaft über den Planeten an sich reißen. Obwohl das Pamphlet bereits 1921 als Fälschung enttarnt wurde, wird es bis heute immer wieder als echt angepriesen. Heutzutage versteckt sich der Mythos von der „jüdischen Weltverschwörung“ nicht selten hinter dem Geraune über einen angeblichen „Großen Austausch“ und eine damit verknüpfte „New World Order“.

Antisemitische Verschwörungserzählung zum 7. Oktober auf X. (Screenshot von X)
Verschwörungserzählung zu Expansionsplänen Israels auf Telegram (Screenshot von Telegram)

Die „Geldjuden“ im Kaufrausch

Gut einen Monat nach dem Angriff der Hamas trat im November 2023 eine viertägige Waffenruhe in Kraft, die die Region kurz aufatmen ließ. Online verbreitete sich daraufhin schnell das Gerücht, Israel habe der Feuerpause ausschließlich zugestimmt, damit am Black Friday, an dem der Einzelhandel mit Sonderangeboten das Feiertagsgeschäft anzukurbeln versucht, fröhlich geshoppt werden kann. Israel bzw. den Jüdinnen*Juden, so wurde behauptet, ginge es bei der Waffenruhe nicht um humanitäre Aspekte, sondern ausschließlich um Profit. Auch medienpräsente Persönlichkeiten wie die Politologin Emilia Roig trugen zur Verbreitung des Gerüchts bei, indem sie entsprechende Behauptungen in den sozialen Medien teilten.

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Das hinter dieser Erzählung stehende Narrativ vom „gierigen Juden“ bzw. „Geldjuden“, der für monetäre Interessen über Leichen geht und zudem das weltweite Finanzgeschehen kontrolliert, ist ein Verschwörungsmythos, der bis ins Mittelalter zurückreicht, als Jüdinnen*Juden aus den Handwerksberufen in den Geldverleih gedrängt wurden. Auch dieses Narrativ wird immer wieder an neue Gegebenheiten angepasst und wabert heute unter anderem als „Happy Merchant“ durch die sozialen Medien.

„Kindermörder Israel“

Mit dem Satz „Hier kannst du sehen, ob das Produkt in deinen Händen das Töten von Kindern in Palästina unterstützt“ wird die App „No Thanks“ seit November 2023 in App Stores vertrieben. Die Anwendungssoftware eines in Ungarn lebenden Palästinensers basiert auf den Datensätzen der Websites „Boycotzionism“ und „Ulastempat“ und soll Nutzer*innen anzeigen, ob Produkte aus Israel kommen oder ob Firmen sich nach dem 7. Oktober solidarisch mit Israel zeigen. In Deutschland erlangte die App, die von diversen Influencer*innen und Stars beworben wird, im Frühjahr dieses Jahres mediale Aufmerksamkeit, als die Journalistin und pro-palästinensische Aktivistin Helen Fares sie auf Instagram anpries und daraufhin vom Südwestdeutschen Rundfunk entlassen wurde.

Darstellung des angeblichen Ritualmords an Simon von Trient im Jahr 1475 (Wikimedia/gemeinfrei/Simon von Trient Schedelsche Weltchronik)

Die App erinnert nicht nur an den nationalsozialistischen Boykottaufruf „Kauft nicht bei Juden!“, sie aktualisiert gleich mehrere antisemitische Verschwörungsmythen: Zum einen handelt es sich dabei um eine Neuauflage der schon seit dem Mittelalter zirkulierenden Ritualmordlegende, der zufolge Jüdinnen*Juden Kinder töten, um mit deren Blut Brot zum Pessach-Fest zu backen. Zum anderen führt der Vorwurf, unschuldige Kinder zu töten, dazu, dass Israel und – durch die regelmäßige Gleichsetzung von Jüdinnen*Juden mit dem staatlichen Handeln Israels – alle jüdischen Personen zum „absolut Bösen“ stilisiert werden.

Die gleiche Stoßrichtung verfolgt eine aktuelle Verschwörungserzählung zur Polio-Impfkampagne, die im Spätsommer 2024 nach einem Ausbruch der Krankheit im Gazastreifen durchgeführt wurde. Anfang September warnte die reichweitenstarke palästinensische Journalistin und Aktivistin Bisan Owda, die kürzlich mit einem renommierten Emmy-Award ausgezeichnet wurde und sogar für den Friedensnobelpreis nominiert ist, in einem Video vor der Impfung. Suggestiv fragte sie: „Wer waren die ersten Leute, die über das Polio-Virus im Gazastreifen gesprochen haben?“ Ihre Antwort in Form einer eingeblendeten Pressemitteilung: das israelische Gesundheitsministerium. Noch unverhohlener antisemitisch ist die anonyme E-Mail, die Owda überhaupt zu ihrem Video veranlasst und ihr gleichsam „die Augen geöffnet“ habe. Darin heißt es: „Jemand, der euch alle tot sehen will, wird niemals ein Virus davon abhalten, die schmutzige Arbeit für ihn zu machen. LASS NICHT KINDER DEN IMPFSTOFF NEHMEN. Man weiß, dass es schlecht ist, wenn Israel beim Töten von Zivilisten einen Tag Pause machen will, um einen ‚Impfstoff‘ zu geben, der Zivilisten, die es töten will, vor Seuchen schützen soll.“ Auch bei diesem Beispiel, das nicht zufällig an Verschwörungserzählungen aus der Corona-Pandemie erinnert, zeigt sich: Das „Gerücht über die Juden“ (Theodor W. Adorno) ist so wandlungsfähig wie zeitlos.

Fotos: Wikimedia/gemeinfrei/1934 Protocols Patriotic Pub und  Wikimedia/gemeinfrei/Simon von Trient Schedelsche Weltchronik

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