Insgesamt, so berichtet „Reporter ohne Grenzen“ im Pressefreiheits-Ranking 2022, ist es um die Berichterstattung in Deutschland „zufriedenstellend“ bestellt. Das macht Rang 21 von insgesamt 180 Ländern, ist aber fünf Plätze schlechter als im Vorjahr. In anderen Ländern werden Journalist*innen bei der Arbeit ermordet oder inhaftiert, oder die freie Presse ist gleich ganz abgeschafft. Davon ist Deutschland weit entfernt. Doch der Grund, warum es zum Absturz im Pressefreiheit-Ranking kam, ist trotzdem hart: Gewalt. 103 Angriffe auf Journalist*innen, die von Demonstrationen berichten wollten, hat „Reporter ohne Grenzen“ im Jahr 2022 gezählt – mehr als je zuvor. Im Vorjahr waren 85 Angriffe dokumentiert worden, 2020 waren es 65. Auch der „Deutsche Journalisten Verband“ (DJV) und die „Deutsche Journalisten und Journalistinnen-Union“ (dju) beklagen zahlreiche Angriffen auf Journalist*innen bei der Arbeit, die sie an der Berichterstattung zu hindern suchen.
Schläge, Tritte, Bart anzünden
Von den 103 Angriffen fanden 87 im Zusammenhang mit verschwörungsideologischen, antisemitisch und extrem rechten Demonstrationen statt, zwei Drittel davon in Ostdeutschland (Sachsen: 24, Berlin: 17, Thüringen: 13). Angriffe meint in diesem Fall konkrete Gewalt: Meist geht es um Tritte und Schläge und Angriffe mit Plakaten, Trommelstöcken oder Quartzsandhandschuhen. Medienschaffende wurden auch beworfen, mit Eiern, Glasflaschen oder Schlamm. Auch verbreitet: Haare ziehen, würgen, schubsen – und Herunterreißen der Corona-Maske. Aber auch das Beschädigen von Kameras und Fahrzeugen gehört dazu, das Übergießen mit heißem Kerzenwachs, Anbrennen des Bartes eines Kameramannes, das Rammen des Kopfes in den Bauch des Journalisten (Details hier). Die meisten Täter*innen kommen dabei auch noch straflos davon. Polizei war beim Tathergang zwar oft vor Ort, beschützte dann aber weder die Journalist*innen bei ihrer Arbeit, noch leitete sie hinterher Ermittlungen ein. Weniger als die Hälfte aller Betroffenen entschied sich für eine Anzeige – oft aus Angst davor, dass später im Verfahren die eigene Adresse an gewaltbereite Neonazis fällt. In sechs Fällen waren es Polizist*innen selbst, die Journalist*innen angriffen.
Botschaftstaten der Queerfeindlichkeit
Alarmierend auch: Wer über Queerfeindlichkeit, Sexismus und Rassismus berichtet, erlebt häufig genau das, nämlich Queerfeindlichkeit, Sexismus und Rassismus. Es sind Botschaftstaten, die alle Journalist*innen warnen sollen: Wenn Du hier berichtest, wirst Du selbst zur Zielscheibe. Schließlich fanden 6 der 103 Fälle auf pro-palästinensischen, aber auch antisemitischen Demonstrationen statt, die das Existenzrecht Israels infrage stellten.
„Reporter ohne Grenzen“ weist außerdem auf die wachsende Zahl von Bedrohungen von Medienschaffenden durch „Markieren“ hin: Gemeint ist, wenn bei Demonstrationen mit dem Finger auf Medienschaffende gezeigt wird, ihr Name gerufen oder sie als „Gefahr“ benannt werden. Oder das Abfilmen und online stellen persönlicher Daten, dass in Coronaleugner*innen-Gruppen auch mit „Fahndungsaufrufen“ verbunden wird. In einem dokumentierten Fall führte 2022 ein solcher Steckbrief zu Gewalt bei der nächsten Demonstration, von der der Journalist berichten wollte, in weiteren Fällen zu „Hausbesuchen“ der „Querdenker*innen“ bei Journalist*innen, die ihnen nicht gefielen. Auch „Feindeslisten“ im Internet gehören zu den Einschüchterungsmethoden.
Was treibt die Menschen, die Journalist*innen angreifen?
Die „Lügenpresse“-Erzählung gibt es, in immer neuen Varianten, seit der Mitte des 19. Jahrhunderts mit einem Höhepunkt in der Zeit des Nationalsozialismus: Im Kern geht es darum, die Presse wolle gar nicht berichten, was geschehe, sondern verfolge eine eigene, womöglich geheime und finstere Agenda, die gegen „das Volk“ gerichtet sei. Das Traditionelle, das Bewährte wolle sie zerstören, weil sie Teil der liberalen Moderne, Aufklärung, Emanzipationsbewegungen und im Endeffekt: der jüdischen Weltverschwörung sei. Je nach politischer Weltlage wird variiert, ob die Regierung zum „Volk“ gehört – im Nationalsozialismus wurde etwa die regierungskritische Presse verboten, um eine „Einheitsmeinung“ zu suggerieren – oder ob die Regierung auch als Teil der Weltverschwörung angesehen wird und die Presse „nur“ als Handlanger der Regierung fungiert. Darauf zielen etwa rechtspopulistische Agitationen gegen die „Mainstream-Presse“, die der angeblich „linksgrünversifften“ Regierung nach dem Mund rede, oder die Coronaleugner*innen-Bewegung.
Die Ikonografie des Hasses auf Journalist*innen
Aber inzwischen sind alle Maßnahmen zur Coronavirus-Pandemie beendet. Ein Impfzwang wurde auch nicht eingeführt. Die „Querdenken“-Demonstrationen versanden allmählich, wenn sie nicht zu pro-russischen „Friedensdemonstrationen“ geworden sind. Ist damit nun in Deutschland nun ein Ende der „Lügenpresse“-Erzählungen und der Angriffe auf Journalist*innen zu erwarten? Werfen wir einen Blick in Telegram-Gruppen, die in diesem Milieu beliebt sind, um zu sehen, wie sich die Ikonografie des Hasses auf Journalist*innen derzeit ausgestaltet.
Was also zu sehen ist: Pressefeindlichkeit wird in vielfältigen Formen gepflegt, von humoristisch bis drastisch-bedrohlich. Sie gehört in verschwörungsideologischen und rechtsextremen Kontexten zum narrativen Standardrepertoire, weshalb die Feindbild-Produktion von Journalist*innen, die gegen die Demonstrierenden oder „das Volk“ arbeiten, an Intensität nicht abnehmen wird, sondern sich nur thematisch variierend anpasst.
Wenn die Pressefreiheit in Deutschland also besser geschützt werden soll, ist es unabdingbar, über bessere Schutzmaßnahmen für Journalist*innen bei der Arbeit zu sprechen – durch besser geschulte Polizei, durch die Finanzierung von eigenen Sicherheitsteams, aber auch durch Strafverfolgung bei Gewalttaten, um Recht durchzusetzen.