
Tahera Ameer ist Vorständin der Amadeu Antonio Stiftung. Der folgende Text ist der zweite Teil eines Gesprächs über Rassismus, Intersektionalität und die Aufgaben der Stiftung 2025.
Hier geht es zum ersten Teil des Gesprächs.
Belltower.News: Wir haben im ersten Teil dieses Gesprächs über Tagespolitik gesprochen. Aber Rassismus ist ja strukturell verankerter Teil der Gesellschaft. Wie drückt sich das strukturell aus?
Tahera Ameer: Wir haben kaum Repräsentation in den verschiedensten gesellschaftlichen Sphären, keine Lobby, die dafür sorgt, sich die strukturellen Verhältnisse genau anzuschauen und ihnen etwas handlungsorientiertes entgegenzusetzen; kein Verständnis davon, dass mit dem Wort „Einwanderungsgesellschaft“ nicht die eingewanderten Personen und ihre jeweiligen Communitys gemeint sind, sondern die Gesellschaft insgesamt, und dass das Repräsentation und Interessensvertretung beinhalten muss. Schauen wir nur auf die Situation der aus Südkorea eingewanderten Minderheit: 2023 jährte sich das deutsch-südkoreanische Anwerbeabkommen zum 60igsten Mal. Das blieb unbeachtet und fand lautlos statt.
Warum?
Die weiße Mehrheitsgesellschaft hat keinen integrativen Blick auf diese Einwanderungsgesellschaft, kein Selbstverständnis, dem sie sich verpflichtet fühlt. Rassismus ist immer das Problem der anderen, seine strukturelle Komponente wird nicht wahrgenommen. Das liegt daran, dass wenig Leute im Verhältnis zur Gesamtgesellschaft von Rassismus negativ betroffen sind und die weiße Mehrheitsgesellschaft kein Interesse daran hat, diese Probleme auf struktureller Ebene zu beheben. Das hieße ja auch, Privilegien abzugeben, Macht zu teilen, anderen Perspektiven Raum zu geben.
Währenddessen ist rassistische Gewalt Normalität.
Seit 2013, mit dem Booster 2014/15, gibt es eine krasse Eskalation von rassistischer Gewalt gegen Geflüchtete, wie wir sie aus den 90er Jahren kennen. Wenn man Geflüchteten zuhört – alle von unterschiedlichen Formen von Rassismus betroffen, und immer auch auf institutioneller und struktureller Ebene – wird deutlich, dass sich nichts verändert hat. Aktuell erleben wir wieder eine absolute Eskalation von Gewalt in Sprache und in Taten. Unsere Aufgabe ist es, dazu beizutragen, diese Situation immer wieder öffentlich zu skandalisieren.
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Was müsste ganz praktisch passieren, um etwas zu ändern?
Es gibt keinen politischen Willen zu diskutieren, wie wir Ressourcen bereitstellen, um zum Beispiel eine paritätische Job-Besetzung in Behörden, in Ämtern, in allen möglichen Zusammenhängen anzustoßen. Psychosoziale Versorgung bereitzustellen, die besonderen Bedarfe von Personen, die von Rassismus betroffen sind, anzuerkennen. Es gibt keine Selbstverpflichtung der Mehrheitsgesellschaft – oder der weißen Gesellschaft – Verantwortung zu übernehmen. Wenn wir Einwanderungsland sein wollen, uns mit Rassismus und den Folgen auseinandersetzen, das koloniale Erbe ernst nehmen – uns dem stellen wollen, dass wir eine durch und durch rassistisch strukturierte Gesellschaft sind: Dann müssen wir einerseits Aufklärung und Bildungsarbeit vorantreiben, aber wir müssen auch ins Handeln kommen. Journalismus, Behörden, Unternehmen, Schulen, jede Institution kann sich einfach selbst dazu verpflichten, den Anforderungen, vor die uns die Zusammensetzung unserer Gesellschaft stellt und den Versprechen, die das Grundgesetz macht, nachzukommen: Aber diese Situation haben wir nicht.
Intersektional zu denken, heißt zu verstehen, dass Menschen von mehreren Formen der Diskriminierung gleichzeitig betroffen sein können. Was bedeutet das für die praktische Arbeit gegen Rassismus?
Menschen, die von Rassismus betroffen sind, erleben fast immer auch andere Formen der Diskriminierung. Im realen Leben hat das viel damit zu tun, wie sichtbar die jeweilige Betroffenheit ist. Zum Beispiel wird für eine Schwarze, jüdische Frau in aller Regel das Schwarz-sein in der alltäglichen strukturellen, institutionellen Diskriminierungserfahrung mehr Gewicht haben. Aber der Antisemitismus spielt ebenso eine Rolle, gerade auch in der konkreten Intersektion: Schwarze, jüdische Personen sind oftmals in ihrem Jüdischsein total unsichtbar, weil sie nicht in die binären und zersetzenden Phantasien des Antisemitismus oder des Bildes vom globalen Süden vs. globaler Norden passen. Ein jüdisches Gemeindemitglied in Mecklenburg-Vorpommern sagte mir auch mal, dass er als russischer Einwanderer immer unmittelbar erstmal mit Rassismus konfrontiert sei, der Antisemitismus dann aber schnell auf dem nächsten Fuße folge.
Deswegen frage ich auch: Was wollen wir überhaupt in den Blick nehmen? Intersektionalität besteht doch bei fast allen Personen. Das sehe ich an mir selbst: Ich bin auf jeden Fall von Rassismus betroffen, aber in meinem alltäglichen Erleben ist meine Positionierung als Frau mindestens genauso präsent wie der Rassismus.
Die Amadeu Antonio Stiftung sticht ja auch deswegen heraus, weil sie sowohl Antisemitismus als auch Rassismus bekämpfen will. Dabei gibt es ein Spannungsfeld zwischen antirassistischen und antisemitismuskritischen Akteuren. Warum eigentlich?
Ja, warum eigentlich? Es gäbe ganz viele einfache Anknüpfungspunkte, dieses Spannungsverhältnis nicht permanent als Ausgangspunkt des Handelns zu behaupten. Intersektionalität ist einer davon: Die gleichzeitig, nebeneinanderstehenden Betroffenheiten von Diskriminierung, die viele Personen täglich erleben, schreien doch danach, Dinge gleichzeitig in den Blick zu nehmen, ohne sie gleichzumachen, zu nivellieren oder zu hierarchisieren.
Kannst du das konkreter erklären?
Antisemitismus und Rassismus sind nicht das gleiche, aber Akteur*innen, die sich rassismuskritisch und antisemitismuskritisch engagieren, sollten von sich verlangen, das andere immer auch im Blick zu haben. Wie sehr das nicht der Fall ist, haben wir offener als jemals zuvor nach dem 7. Oktober 2023 gesehen. Juden und Jüdinnen stehen nahezu ohne jegliche Solidarität alleine da und Antisemitismus kommt nun viel öfter im Mantel der Rassismuskritik daher. Ich denke da mit sehr warmen Herz an das Festival of Resilience 2024, dass unter der Überschrift trotz_zweifel stattfand. Genau so kann es auch gehen.
Beim Festival of Resilience kommen die Überlebenden der rechtsterroristischen Anschläge von Hanau und Halle zusammen und gedenken gemeinsam, auch mit anderen Überlebenden und Betroffenen rechtsextremer Gewalt.
Dem Festival gelingt es unterschiedliche Perspektiven nebeneinander zu stellen, dabei Schwierigkeiten zu benennen und sie anzunehmen. Das bedeutet nicht, alles wegzuwischen um ja keinen Konflikt ertragen zu müssen, sondern sich diesen Zweifeln zu stellen, sie schmerzhaft sichtbar zu machen, sie zu benennen und ins Verhältnis zueinander zu setzen.
Was bedeutet es propalästinensisch zu sein, wenn ich intersektional denke?
Ich muss die aktuelle Situation der Palästinenser*innen konkret in den Blick nehmen. Sie sind dem Krieg in Gaza ausgesetzt. Sie sind der Gewalt der Hamas ausgesetzt. Sie sind der Gleichgültigkeit der arabischen Nachbarstaaten und deren instrumenteller Politik ausgesetzt. Wer vertritt ihre Interessen, wer behauptet das nur? Wer sind die Akteure, gegen die wir auf die Straße gehen sollten, wenn wir uns für die Rechte der Palästinenser*innen einsetzen wollen? Ich muss mich mit der Situation in all ihrer Vielfältigkeit auseinandersetzen, wenn ich für Personen und ihre Rechte sprechen möchte, sie vertreten will.
Ein palästinensischer Bekannter von mir kam vor Jahrzehnten aus Ramallah nach Deutschland, hat hier studiert, eine Familie gegründet, aber auch gemerkt: Er ist den ganzen Tag nur mit Rassismus beschäftigt und zurück nach Ramallah gegangen. Aber ihm war schnell klar: Hier kann ich nicht atmen, nicht leben mit dieser Fatah-Regierung. Er hat einen Ort gesucht, an dem er nicht permanent diskriminiert wird, an dem er sich entfalten kann, existieren kann als Individuum und ist wieder zurück nach Deutschland gekommen.
Zweifelhaft, ob pro-palästinensische Aktivist*innen hierzulande das wahrhaben wollen.
Menschenrechtsaktivist*innen aus Gaza sind von Rassismus betroffen, aber sie sind vor allen Dingen von der Gewalt der Hamas betroffen gewesen, weil sie für eine freie Gesellschaft kämpften. Weil sie gefoltert, ins Gefängnis geworfen wurden, weil sie innerhalb des Gazastreifens oder auch in der Westbank demonstriert haben für ein freieres Leben unter der Fatah oder der Hamas. Das heißt nicht, dass sie irrelevant finden, was Israel im Gazastreifen macht. Aber es ist nicht ihre Hauptbetroffenheit. Und ich soll jetzt hingehen und sagen: Du hast nicht die richtige Perspektive auf deine Rassismuserfahrung. Das ist zynisch.
Was heißt das für die Amadeu Antonio Stiftung?
An diesen Stellen von unterschiedlicher und gleichzeitiger Betroffenheit müssen wir immer prüfen: Wer sind die schwächsten? Wer ist am meisten bedroht? Als Stiftung haben wir uns verpflichtet, Diskriminierungen, die von vielen überhaupt nicht als Problem wahrgenommen werden, aus der Unsichtbarkeit in die Sichtbarkeit zu heben.
Welche Auswirkungen hat Geopolitik auf die Amadeu Antonio Stiftung?
In der Bildungsarbeit war es immer wichtig zu betonen, dass es uns nicht um die konkreten Konflikte in den jeweiligen Ländern geht, beispielsweise beim sogenannten Nahostkonflikt, sondern um die Debatten darüber hier bei uns. Aber wenn man die Perspektive von Betroffenen in den Mittelpunkt der Rassismuskritik stellen will, geht das nur bis zu einem gewissen Punkt. Wie sollen wir antikurdischen Rassismus bekämpfen, wenn die meisten nicht mal wissen, dass Kurd*innen eine der größten Einwanderungsgruppe sind? Wie wollen wir die spezifische Gewalterfahrungen von Kurd*innen in Deutschland verstehen, ohne die Details der Kurdenfrage zu kennen, ohne zu wissen, welche Rolle die Türkei spielt? Wie sollen wir verstehen, was Drusen, Ezid*innen, Alevit*innen durchmachen und von wem sie rassistisch bedroht werden, wenn wir nicht wissen, was z.B. gerade in Syrien passiert und dass dies Auswirkungen auf unsere Gesellschaft auch hier hat? Auch der politische Wille der deutschen Politik in Bezug auf Rassismusbekämpfung hat etwas mit außenpolitischen Interessen zu tun. Können wir ohne diese ganzen Perspektiven wirklich wissen, vor welchen unterschiedlichen Herausforderungen Menschen, die von Rassismus betroffen sind, stehen? Wir können nicht einfach sagen, die Details interessieren uns nicht: Jeder der nicht weiß ist, ist gleichermaßen von Rassismus betroffen. Von Rassismus betroffenen Menschen in Deutschland sind alles andere als eine homogene Gruppe.
Wir sind zurück bei der Intersektionalität.
Ich mache es wieder an meinem eigenen Beispiel fest: Ich kann mich als sunnitische Muslimin identifizieren. Sunnitische Muslime haben über Jahrhunderte kolonisiert, Genozide verübt, waren für Versklavung verantwortlich. In der Region aus der meine Familie kommt, gab es Pogromen gegen Muslime und sie mussten ihr Heimatland verlassen. Damit kann ich mich auch identifizieren. Und es gäbe noch andere Möglichkeiten, meine Identität zu beschreiben. Ich bin von Rassismus betroffen. Aber meine Betroffenheit von Rassismus steht aus meiner Perspektive in keinem Verhältnis zur Rassismusbetroffenheit von beispielsweise Kurd*innen, Ezid*innen oder Pontos-Griech*innen hier in Deutschland. Denn ich bin nicht das Feindbild der Grauen Wölfe oder von IS-Symphatisant*innen. Die Situation der Minderheiten in der Minderheit ist aufgrund der geopolitischen Situation und deren Einfluss auf deutsche Politik sehr fragil, ihre Familiengedächtnisse sind vor allem von Genoziden geprägt, wenn sie sie nicht selbst überlebt haben und für sie hat die Situation in der Türkei, in Irak oder Syrien eine konkrete Auswirkung auf ihren Alltag hier in Deutschland.
Was heißt das praktisch?
Wenn ich sage, ich bin von Rassismus betroffen, dann heißt das nicht, dass ich die gleichen Rassismuserfahrungen wie andere, die von Rassismus betroffen sind, mache. Es gibt wesentliche Unterschiede. Das hat nichts damit zu tun, dass ich meine eigene Rassismus-Erfahrung nicht ernst nehme
Also Komplexität zulassen?
Es ist eine verkürzte Perspektive, wenn wir Rassismus in Deutschland nur binär denken: Alle die von Rassismus betroffen sind vs. die weiße Dominanzgesellschaft. Wir müssen auf Differenzierung bestehen und den weißen Antirassist*innen, die sich in ihrem Engagement nicht für die Details interessieren klar sagen: Bei eurer Dichotomie machen wir nicht mit.