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Tareq Alaows von Pro Asyl „Die syrische Community gehört zu Deutschland”

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Tareq Alaows, Flüchtlingspolitischer Sprecher von PRO ASYL (Quelle: PRO ASYL, Jonas Bickmann)

Im Dezember führt eine militärische Offensive der Gruppe „Hay’at Tahrir al-Sham“ (HTS) schließlich zum Sturz des damaligen syrischen Machthabers und Diktators Baschar al-Assad. Nach 54 Jahren endete damit die Schreckensherrschaft des Assad-Regimes. Tareq Alaows ist flüchtlingspolitischer Sprecher von Pro Asyl und ordnet die Geschehnisse für Belltower.News ein, spricht über Ängste in der syrischen Community und zeigt auf, was eigentlich politisch nötig gewesen wäre.

Belltower.News: Herr Alaows, Sie sind selbst in Syrien aufgewachsen, 2015 nach Deutschland geflohen und waren zum Ende letzten Jahres zum ersten Mal seit langer Zeit wieder vor Ort. Mit welchem Gefühl sind Sie dorthin gereist?
Tareq Alaows:
Für mich war das eine sehr emotionale Reise, ich habe meine Familie nach zehn Jahren das erste Mal wieder gesehen. Ich habe die Ängste der Menschen mitbekommen.
Ich habe mehrere Tage gebraucht, um das für mich selbst zu realisieren. Es ist eine Mischung aus großer Freude wieder dagewesen zu sein und auf der anderen Seite, die Sorge davor, in welche Richtung sich das Land entwickeln wird.

Sie haben gerade schon von Ihrem aktuellen Eindruck von der Lage im Land berichtet. Kann man denn von stabilen Verhältnissen in Syrien sprechen?
Man kann weder von Stabilität noch von Sicherheit in Syrien sprechen. Das Land ist instabil und weiterhin unsicher. Die letzten Stunden vor dem Sturz des Regimes waren entscheidend.

Wieso das?
Laut Augenzeugen hat das Assad-Regime Waffenkammern im ganzen Land geöffnet. Viele Menschen konnten sich so bewaffnen. Deswegen haben wir ein Land mit vielen bewaffneten Gruppen, die nach Macht streben. Selbst die Zivilbevölkerung ist nach vierzehn Jahren Krieg teilweise bewaffnet.

Wie geht es denn den Menschen vor Ort?
Die Infrastruktur funktioniert nicht, Strom gibt es höchsten wie in Damaskus gerade mal vier Stunden am Tag. Die Industrie wurde zerstört, viele Menschen sind arbeitslos. Das spiegelt sich in den finanziellen Verhältnissen der Menschen vor Ort.
Beim Sturz des Assad-Regimes gab es keine Übergabe der Macht. Das Land ist in ein riesiges Chaos geraten, und das befördert die Instabilität im Land.

Also gibt es keine Stabilität in Syrien?
Nein, es gibt aktuell weder Stabilität noch Sicherheit.

Das Stabilitäts-Argument wird doch aber oft hervorgebracht, wenn hierzulande die Rückkehr-Debatte“ geführt wird.
Diese Debatte ist in meiner Meinung eine politische, die wenig mit der Realität gemein hat. Bei Abschiebungen muss ein Leben in Sicherheit garantiert werden. Im Fall von Syrien kann derzeit niemand so eine Garantie geben. Das zeigt, dass Rückführungen nicht umsetzbar sind und spätestens vor Gerichten gestoppt werden würden.

Wieso wird die Debatte dann geführt?
Ich halte diese Debatte für eine Wahlkampftaktik auf dem Rücken der syrischen Menschen in Deutschland. Die Debatte um Rückführungen begann bereits wenige Stunden nach den ersten Berichten über den Sturz von Assad. Bei vielen Syrer*innen in Deutschland löste das verständlicherweise Angst aus, bald abgeschoben zu werden.

Viele geflohene Syrer*innen hier in Deutschland haben den Schrecken des Krieges erlebt, haben teils traumatische Dinge erlebt. Indem jetzt einige Politiker*innen fordern, ‘die Syrer’ sollen so schnell es geht zurück, werden Menschen retraumatisiert.

Sie haben gerade die Lage von syrischen Geflüchteten in Deutschland angesprochen, die eine Retraumatisierung erfahren. Gibt es ausreichend psychologische Unterstützungsprogramme für Geflüchtete und Asylsuchende?
Es gibt Zentren in Deutschland, die auf die psychologische Behandlung von geflüchteten Menschen spezialisiert sind. Was ich aber beobachte ist, dass die Wartezeiten sehr hoch sind. Der Grund dafür ist, dass diese Zentren stark unterfinanziert sind, sodass sie nicht genug Therapeut*innen beschäftigen können. Das führt dazu, dass betroffene Personen sehr lange warten müssen. Das macht die Lage sehr schwierig.

Besonders in deren Situation?
Wir müssen verstehen: Die Leute kommen aus einem Kriegsgebiet. Sie haben Schwieriges erlebt. Und alleine die Entscheidung zu treffen, ein Therapiegespräch zu führen, ist eine große Hürde für viele Menschen. Es wäre schön, wenn geflohene Menschen in Deutschland ihre Traumata aufarbeiten könnten, und wenn sie darin unterstützt würden, sich hier zu stabilisieren – doch davon sind wir weit entfernt.

Was wäre das richtige Zeichen der Politik gewesen nach dem Sturz des Assad-Regimes?
Was ich mir persönlich gewünscht hätte, als Deutscher und zugleich Teil der syrischen Community, dass die Politik uns eine Zeit der Freude gönnt. Dass sie sagen: hey, herzlichen Glückwunsch. Nach 54 Jahren ist es gut, dass dieses Regime nicht mehr da ist. Und dann vielleicht nach zwei Wochen die Frage: Was braucht ihr noch von uns. Deutschland hat euch aufgenommen und unterstützt und will euch auch weiterhin unterstützen. Nach diesem Moment des freudigen Innehaltens wäre eine unterstützende Haltung angebracht gewesen: Was braucht ihr von uns? Können wir euch bei der Aufarbeitung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit unterstützen – wir haben Erfahrung darin. Können wir euch darin supporten als Exil-Community an den Verhandlungstischen mit den neuen Machthabern in Syrien zu kommen?

In Deutschland leben rund eine Million Syrer*innen, es ist die größte syrische Exil-Community in ganz Europa. Die deutsche Politik hätte locker eine Syrien-Konferenz in die Wege leiten können, wo Vertreter*innen der Community mit Politiker*innen zusammensitzen und über die Zukunft von Syrien sprechen. Das sind Menschen, die eine andere Begegnung mit der Demokratie hatten. Die beim Wiederaufbau Syriens, aber auch beim Demokratieaufbau eine wichtige Rolle hätten spielen könnten. Deutschland verpasst diese Chance, indem sie die Community immer wieder wegstößt. Bei vielen Syrer*innen kam an: Egal wie gut du hier integriert bis, du wirst niemals zu Deutschland gehören.

Wie haben Sie die mediale Aufbereitung der Debatte erlebt? Und welche Fehler sind da passiert?
Zum Beispiel beim Besuch von Außenministerin Annalena Baerbock in Syrien: Es ist gut, dass sie vor Ort war und mit dem neuen Machthaber gesprochen hat und auf die Rechte der Minderheiten vor Ort besteht. Was nicht gut war, ist, dass sich die ganze Medienlandschaft darauf konzentriert hat, dass ihr die Hand verweigert wurde. Stattdessen hätten Medien auch fragen können, was das grundsätzlich in Syrien bedeutet. Wenn einer deutschen Außenministerin die Hand verweigert wurde, dann ist das auch eine politische Aussage über Frauenrechte in Syrien.

Mir fehlte auch direkt nach der militärischen Offensive und vor dem Sturz des Regimes die Stimme der syrischen Community in Deutschland. Es gab viele gute Meinungen von Expert*innen, aber wenige von Vertreter*innen der breiten Community.

Wie schätzen Sie die aktuelle Übergangsregierung in Syrien ein? Und welche Probleme identifizieren Sie gerade in Bezug auf Minderheitenschutz?
Als ich das BBC-Interview von Ahmed Al-Sharaa zu seiner Namensänderung gesehen habe, dachte ich: Der spricht so westlich-konform, die nächste Presseerklärung kommt mit der Unterzeichnung „Ahmed Al-Sharaa (he/him)“, also dass er seine Pronomen dazuschreibt. Die aktuellen Machtinhaber in Syrien wissen ganz genau, was sie machen. Sie wissen, dass sie ein Land vertreten und durch das Verweigern der Hand eine Botschaft nach außen geben.

Natürlich darf man das nicht an einer Situation festmachen, aber man darf auch nicht vergessen, wo die HTS herkommt. Sie ist die Nachfolgeorganisation von der „Al-Nusra-Front“ und auch, wenn Ahmed al-Sharaa, Staatschef in Syrien, sagt, er habe die politischen Gefangenen im Land befreit, ist die Frage, ob er auch die Gefangenen in seinen eigenen Gefängnissen befreit hat.

Wir müssen jetzt genau beobachten, wie sich die Lage der Minderheiten entwickelt und ob demokratische Wahlen stattfinden. Ich habe viele Hoffnungen in dieses Land. Ich finde, wir sollten in Deutschland den öffentlichen Fokus verstärkt auf beispielsweise feministische Gruppen legen, auf kleine Initiativen vor Ort, auf Menschen, die sich für Demokratie einsetzen und progressiv sind. Wenn wir nur von der HTS sprechen, geben wir ihr den größten Raum im syrischen Kontext. Nur wenn wir auch von den anderen Gruppen sprechen, zeigen wir uns solidarisch.

Wie sehen sie denn die Perspektive von syrischen Geflüchteten in Deutschland und in Syrien? Was wünschen Sie sich?
Ich sehe ein großes Potenzial in dieser Gruppe. Deutschland muss ihnen eine stabile Basis anbieten, eine Sicherheit, und sie aus dieser sicheren Basis handeln lassen. Dann können sie auf den Aufbau des Landes einwirken, und zwar aus dem Ausland heraus, oder von vor Ort. Vermutlich wird es mehr Rückreisen nach Syrien geben, wenn die Menschen vor Ort die Situation bewerten können. Sie müssen herausfinden, was sie noch brauchen, ob ihre Wohnung noch steht oder sie neue Projekte aufbauen müssen.

Aber der Fokus sollte nicht auf der endgültigen Rückreise liegen. Viele haben kaum eine Erinnerung an das Land, weil sie noch so jung waren, als sie fliehen mussten. Andere möchten ihre Verwandten nach vielen Jahren besuchen oder Menschen suchen, die sie vermissen. Die deutsche Politik muss die klare Haltung haben: Die syrische Community gehört zu Deutschland. Das war so und das wird so bleiben. Viele Menschen wollen Deutschland etwas zurückgeben. Das können sie am besten, wenn sie in Sicherheit sind und zu nichts gedrängt werden, sondern selbst entscheiden können.

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