„Ein Angriff auf die Pressefreiheit“, nennt der Marburger Verteidiger Dr. Jannick Rienhoff das Verfahren. Darius Reinhardt, einen der Angeklagten, erinnert es an einen „politischen Prozess“. Am Montag, dem 22. August 2022, standen Darius Reinhardt, Leila Robel und Philipp Weidemann wegen des Verfassens beziehungsweise der Verbreitung eines Belltower.News-Artikels rund um den Tod von Matiullah J. durch Polizeischüsse vor dem Amtsgericht Fulda vor Gericht. Es ging um den Vorwurf der üblen Nachrede gegenüber der Polizei. Die Angeklagten wurden aber freigesprochen. Selbst die Staatsanwaltschaft plädierte auf Freispruch.
Worum ging es?
Am 13. April 2018 stirbt der afghanische Geflüchtete Matiullah J. während eines Polizeieinsatzes. Ein Polizist gab zwölf Schüsse ab. Vier der Schüsse trafen Matiullahs Körper, zwei waren tödlich. Für den Schützen, der die zwölf Schüsse abgab, hatte der Vorfall keine Folgen. Im Februar 2019 wurde ein eingeleitetes Verfahren gegen ihn eingestellt. Die Ermittlungen hätten ergeben, dass der Polizist in Notwehr gehandelt habe. Kurzzeitig werden die Ermittlungen im Frühling 2019 noch einmal aufgenommen, nachdem ein Handyvideo auftaucht, das Teile des Geschehens vor den tödlichen Schüssen zeigt. In dem Video ist unter anderem zu sehen, wie Matiullah von den Polizist*innen wegläuft, sie also nicht angreift. 2020 werden die Ermittlungen abermals eingestellt und erst nach der erfolgreichen Beschwerde der Angehörigen 2020 zum dritten Mal wiederaufgenommen und 2021 erneut eingestellt.
Mausgerutscht?
Im Herbst 2021 berichtete die Zeit, dass der Polizeischütze rassistische Gruppen auf Facebook geliked habe. Etwa eine Gruppe mit Namen „Keine weiteren Asylantenheime in Deutschland“, deren Logo der Spruch „Heimat schützen – Asylbetrug stoppen“, zierte, oder „AfD-Fraktion im Bundestag“. In der Zeit gab er an, er habe die Seiten versehentlich angeklickt. Mittlerweile scheint der Polizist beide Gruppen aus seiner Facebook „Gefällt mir“-Liste entfernt zu haben, wie Belltower.News recherchierte. Weiterhin interessiert scheint er jedoch an einer „Fanseite für den etwas anderen Polizisten“, für jene, „bei denen Deeskalation die erste, aber nicht die einzige Option ist.“ Nur eine Woche nach dem Tod von Matiullah kehrte der Schütze in den Polizeidienst zurück, obwohl die Ermittlungen gegen ihn damals noch nicht abgeschlossen waren.
Genug offene Fragen um den tödlichen Polizeieinsatz also, doch die Polizei hatte anderes zu tun: Sie brachte nun zwei Journalist*innen und den Sozialwissenschaftler Philipp Weidemann vor Gericht.
Vor Gericht landen Polizei-kritische Journalist*innen
Den beiden Autor*innen Darius Reinhardt und Leila Robel wurde vorgeworfen, sie hätten 2019 in einem Text, den sie bei Belltower.News veröffentlichten, das Tatgeschehen als Hinrichtung erscheinen lassen, weil sie schrieben, dass Matiullah 2018 mit zwölf Schüssen getötet worden sei. Tatsächlich feuerte der Polizist zwölf Schüsse ab, allerdings hätten nur vier den afghanischen Flüchtling Matiullah getroffen und nur zwei seien tödlich gewesen. So oder so, Matiullah verblutete aufgrund der Polizeischüsse. Doch die Spitzfindigkeit der Anzahl der tödlichen Schüsse war der Polizei einen Prozess wert.
„Die Polizei war proaktiv auf der Suche, um polizeikritische Berichterstattung zu finden, Urheber zu identifizieren und sie mit Strafanzeigen einzuschüchtern“, sagt der Marburger Verteidiger Dr. Jannick Rienhoff. Und in der Tat suchten einige Beamt*innen sehr akribisch: Im Zuge ihres Ärgers um den polizeikritischen Text stieß die Polizei auf eine lokale antirassistische Facebook-Gruppe, die den Artikel geteilt hatte. Um die verantwortliche Person zu ermitteln, die den Artikel über den Facebook-Account der Gruppe geteilt hatte, durchsuchte die Polizei auch die Redaktionsräume eines Magazins, das vom Administratoren der Facebook-Gruppe herausgegeben wird. Der Administrator loggte sich schließlich in den Facebook-Account ein und übergab seinen Laptop an einen Beamten, dieser löschte den Beitrag schließlich und konnte einsehen, wer den Beitrag geteilt hatte. Das führte zur Anklage gegen den Fuldaer Wissenschaftler Philipp Weidemann, den dritten Angeklagten im Verfahren vor dem Fuldaer Amtsgericht. Alle drei wurde nun auf Kosten der Staatskasse freigesprochen.
Das Problem heißt Rassismus und nicht Polizeikritik
„Der Freispruch ist die einzig richtige Entscheidung. Die grundsätzliche Frage, wie es dazu kommen konnte, dass eine solche Anklage überhaupt erhoben und zugelassen wurde, wird dadurch aber nicht beantwortet“, so der Göttinger Verteidiger Nils Spörkel. Und der Verteidiger Sven Adam ärgert sich: „Dass dieses Verfahren über Jahre betrieben wurde und erstmals in der mündlichen Hauptverhandlung durch die Staatsanwaltschaft derart bedeutende Grundrechte wie die Meinungs- und Pressefreiheit in den Blick genommen werden, ist eine Zumutung.“ Und tatsächlich, die Anklage war ein Angriff auf die Pressefreiheit, weil sie in Frage stellte, ob und wie über Polizeihandeln berichtet werden kann. Die interessantere Frage nach dem des institutionellen Rassismus, der im Polizeihandeln zu Tage getreten sein könnte, bleibt derweil unbeantwortet.
Zum einen hatte sich das Opfer, Matiullah, kurz vor seinem Tod in einer psychischen Ausnahme-Situation befunden, an der Rassismus und institutionelle Beschränkungen ebenfalls Anteil hatten. Erst kurz vor seinem Tod war Matiullah bewusst geworden, dass er seinen Traum, Arzt zu werden, als Geflüchteter in Deutschland nicht verwirklichen konnte. Er willigte einem Rückflug nach Afghanistan zu, in Kenntnis darüber, was für eine große Enttäuschung dies für die Familie sein würde, die sich für seine Flucht nach Deutschland tief verschuldet hatte. Mindestens einen Suizid-Versuch beging Matiullah.
Zum anderen bleibt die Frage ungeklärt, inwieweit ein Shooter Bias bei dem Polizisten eine Rolle spielte, also die Tendenz, eher auf Menschen zu schießen, mit denen ein Schütze negativen Stereotype verbindet. Hätte der Polizeischütze auch geschossen, wenn Matiullah weiß gewesen wäre? Außerdem sind Widersprüche in den Darstellungen zum Tatgeschehen zwischen den Polizist*innen und auch die Frage, ob Matiullah nicht hätte anders überwältigt werden können, nicht ausgeräumt.
Anstatt sich den unangenehmen Fragen zu stellen sowie effektive Untersuchungs- und Sanktionsstellen im Umgang mit polizeilichem Fehlverhalten einzurichten, hat die Polizei Fulda, unterstützt von der dortigen Justiz, entschieden, jene anzugreifen, die Kritik äußerten und unangenehme Fragen stellten, statt zu schweigen.
„Es ging uns nie darum, dem Polizisten vorzuwerfen, er hätte aus rassistischen Motiven zwölf Schüsse auf Matiullah abgegeben“, so Leila Robel, „sondern wir wollten ehrlich der Frage nachgehen, welche Rolle rassistische Stereotype, die in der Mehrheitsgesellschaft tief verankert sind, bei dem Tod von Matiullah – auch unbewusst – gespielt haben“.