Eine Hausdurchsuchung auf einem Gelände im baden-württembergischen Boxberg am 20. April 2022 eskaliert schnell zu einem mehrminütigen Feuergefecht. Einem der Männer, die dort wohnen – ein 54-jähriger mutmaßlicher „Reichsbürger“ –, soll eine Waffe entzogen werden, eine Glock-Pistole. Die 2006 ausgestellte Waffenerlaubnis hatte das Landratsamt widerrufen – weil der Mann „suspekt“ geworden sei. Eine Entscheidung, die der „Reichsbürger“ nicht einfach so hinnehmen will.
Auf dem mit Zäunen stark abgesicherten Anwesen mit zwei Häusern und zwei Scheunen, von Anwohner:innen „Ranch“ genannt, sollen neben dem Mann auch fünf weitere Anhänger:innen der „Reichsbürger“-Szene wohnen. Laut Nachbar:innen hätten sie das Wasser abgedreht und wollten sich selbst versorgen. Auf einem Gebäude sollen Runen aufgezeichnet worden sein. Ein vermeintlich autarkes Leben für rechtsextreme „Selbstverwalter“. In den verkohlten Zimmern des Geländes stehen Sturmgewehre und volle Magazinen griffbereit.
Als das SEK mit einem Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit der Polizei anrückt, eröffnet der Verdächtige das Feuer. Einen SEK-Beamten schießt der mutmaßliche „Reichsbürger“ in den Oberschenkel. Und dann zündet er offenbar sein Haus an. Die Einsatzkräfte entschieden, zunächst den Brand nicht zu löschen – so groß ist die Gefahr durch explodierende Munition (siehe Stuttgarter Nachrichten). Später werden Ermittler:innen mehr als nur die Glock in seiner Wohnung finden: Dort stoßen sie auf ein großes Waffen- und Munitionslager, ein regelrechte Arsenal samt Kalaschnikow und Maschinengewehr. Auch NS-Devotionalien wie ein Bajonett mit einem eingearbeiteten Hakenkreuz sowie zwei mit Runen verzierte Äxte und eine Cannabis-Plantage werden sichergestellt (siehe Spiegel).
Der Vorfall ist einer von erschreckend vielen aus der „Reichsbürger“-Szene – ein rechtsextremes, verschwörungsideologisches Milieu, das die Souveränität der Bundesrepublik ablehnt und an das Fortbestehen eines „Deutschen Reiches“ glaubt. Deutschland befinde sich demnach immer noch im Kriegszustand mit den Alliierten, habe keine Legitimität. Deshalb streben viele „Reichsbürger“ an, sich selbst zu versorgen, zu „preppen“ – und massenhaft Waffen zu horten. Antisemitismus ist ein Kernelement der-Ideologie: In diesem Milieu grassieren Verschwörungsmythen wie etwa um die vermeintliche Schuld „der Juden“ am Ersten Weltkrieg bis hin zur offenen Holocaustleugnung.
Laut Verfassungsschutz sind rund 20.000 Personen in Deutschland dem Spektrum der „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ zuzuordnen. Die meisten sind zwischen 40 und 60 Jahre alt, etwa drei Viertel von ihnen sind männlich. Der Frauenanteil ist allerdings immerhin höher als in vielen anderen rechtsextremen Strömungen. Frauen haben zum Teil auch herausragende Funktionen innerhalb der Szene inne.
Für die Behörden gelten nur etwa 1.000 Personen, also etwa fünf Prozent von 20.000 „Reichsbürger:innen“, als rechtsextrem – was mit Blick auf die Ideologie und Gewalt, die von dieser Szene ausgeht, äußerst fraglich erscheint. In den neusten Zahlen zur politisch-motivierten Kriminalität sind die Straf- und Gewalttaten aus der „Reichsbürger“-Szene stark gestiegen: 2021 wurden 1.335 Straftaten in diesem Milieu erfasst, eine Zunahme von rund 73 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Die Zahl der Gewalttaten hat sich auf 239 Delikte etwa verdoppelt. Und seit 2016 wurden in der „Reichsbürger“-Szene 880 waffenrechtliche Erlaubnisse von den Behörden entzogen. Doch viele besitzen weiterhin Waffen – legal und illegal.
Auch in den Reihen der Sicherheitsbehörden selbst gibt es „Reichsbürger:innen“: In einem 2022 veröffentlichten Lagebericht zu Rechtsextremen, „Reichsbürger“ und Selbstverwalter bei Polizei, Bundeswehr und den Nachrichtendiensten wurden von Anfang Juli 2018 bis Ende Juni 2021 138 Fälle erfasst, in denen ein „Extremismusverdacht“ vorlag oder sich bereits bestätigt habe. 31 Personen sollen dabei einen Bezug zur „Reichsbürger“- und „Selbstverwalter“-Szene aufweisen. Das dürfte allerdings lediglich die Spitze des Eisbergs sein: Erst im April 2022 entschied das Verwaltungsgericht Hannover, dass ein Hauptkommissar in Niedersachsen aus dem Dienst entfernt werden darf – wegen seiner Nähe zur Szene (siehe NDR). Auf „Querdenken“-Demonstrationen trat der Polizist unter seinem vollen Namen auf und stellte sich als Kriminalhauptkommissar vor.
Während der Covid-Pandemie konnte sich die Ideologie der „Reichsbürger“ weiter ausbreiten – und fiel in den Protesten der „Querdenker“ auf fruchtbaren Boden. Altbekannte Buzzwords der „Reichsbürger“, von „Friedensvertrag“ bis „Souveränität“, gehörte schnell zum neuen Lexikon von Coronaleugner:innen und Impfgegner:innen. „Querdenken“-Gründer Michael Ballweg traf im November 2020 den selbsternannten „König von Deutschland“ und vorbestraften „Reichsbürger“ Peter Fitzek in einem Restaurant im thüringischen Saalfeld, dem „Hacienda Mexicana“, das laut einem Schild im Eingangsbereich zum fiktiven „Königreich Deutschland“ gehört. Interne Emails, die 2021 vom Hackerkollektiv „Anonymous Germany“ geleakt wurden, deuten darauf hin, dass Ballweg sogar „Staatszugehörgier“ im „Königreich Deutschland“ war – und zwar schon vor dem Treffen mit Fitzek. „Anonymous“ veröffentlichte dazu die angebliche Urkunde. Ballweg selbst bestreitet dies.
Im April wurde bekannt, dass Fitzeks Gruppe gleich zwei Schlösser in Sachsen gekauft hat: Schlioss Bärwaöde in Boxberg in der Oberlausitz für 1,3 Millionen Euro und das Wolfsgrüner Schlösschen in Eibenstock im Erzgebirge für 2,3 Millionen Euro. In beiden Fällen hatten die Gemeinden versucht, den Kauf durch die „Reichsbürger:innen“ zu verhindern, aber zweimal wollte der Freistaat offenbar nicht helfen. Der Hauptamtsleiter der Gemeinde in Boxberg sagte dem Störungsmelder, „Wir haben aber nicht die Mittel, um ein Schloss für 1,3 Millionen Euro zu kaufen“. Die Gemeinde stellte eine Anfrage ans sächsische Finanzministerium, doch erhielt eine Absage. Ein ähnliches Bild in Eibenstock. Die Gemeinde hatte ein Nutzungskonzept entwickelt und fragte in der Staatskanzlei an, ob das Land sein Vorkaufsrechte ausüben wolle. Leider erfolglos. Beide Immobilien gehören jetzt den „Reichsbürger:innen“.
Die Liste der Schlagzeilen um die „Reichsbürger“-Szene ist lang, kaum ein Monat geht vorbei, ohne die nächste Meldung über das kleine aber umtriebige Milieu: „Waffenlager bei Hamburger Reichsbürger entdeckt“, titelte das Hamburger Abendblatt im September 2021. Einen Monat später stand in der Berliner Morgenpost: „Reichsbürger stören Mittagsandacht im Berliner Dom mit antisemitischen Parolen“. Oder im November 2021 hieß es in der Süddeutschen Zeitung: „‚Reichsbürger‘ bedroht Beamte mit Messern in München“. Manche Vorfälle wirken geradezu absurd: So wurde im Mai 2022 ein 61-Jähriger bei Chemnitz von der Polizei kontrolliert, weil sein Kennzeichen mit den Buchstaben „DDR“ eine Fälschung war. Er wies sich mit einem DDR-Reisepass aus und hatte keine gültige Autoversicherung.
Doch viele Vorfälle enden mit Gewalt, gar dem Tod: 2016 erschoss ein „Reichsbürger“ einen Polizisten im bayerischen Georgensgmünd, drei weitere Beamte schoss er an. Auch damals ging es um den Entzug einer Waffenbesitzkarte, der Mann besaß legal 31 Waffen. Behörden wurden auch ihn aufmerksam, nachdem er seine Staatsbürgerschaft aufgeben wollte, seinen Pass abgegeben und sogar den Briefkasten abmontiert hatte.
Der Vorfall im baden-württembergischen Boxberg ist auch nicht das erste Mal, dass ein mutmaßlicher „Reichsbürger“ sein eigenes Haus abgebrannt haben soll. Im bayerischen Büchenbach zündete ein 73-Jähriger das eigene Haus an – und nahm sich das Leben. Er ließ selbstgebastelte Gasbomben explodieren, weil sein Haus am nächsten Tag zwangsgeräumt werden sollte. Eine Nachbarin kritisiert, dass die Polizei zu spät auf ihre Warnungen reagiert habe, was die Behörde dementiert (siehe Nordbayern).
Nach der dramatischen Hausdurchsuchung in Boxberg im April folgte vergangene Woche, am 13. Mai 2022, eine weitere Razzia auf dem gleichen Gelände. Weitere Beweismittel seien sichergestellt worden, heißt es von der Polizei. Dieses Mal sei es zu keinen Zwischenfällen gekommen, wie die Stuttgarter Nachrichten berichten.