Im April sicherte sich die rechtspopulistische Partei Fidesz unter Führung des Autokraten Viktor Orbán erneut eine Rekordmehrheit. Erstmals konnte auch die rechtsextreme Partei „Mi Hazánk” ins Parliament einziehen. Ungarn wird von einem rechtsextremen Parlament regiert. Belltower.News führte ein Gespräch zu den Hintergründen der Wahl und möglichen Folgen mit Tamás Gerőcs und Emilia Róza Barna, beide sind Mitglieder der in Budapest ansässigen Arbeitsgruppe für öffentliche Soziologie „Helyzet”.
Tamás Gerőcs ist Volkswirt und hat kürzlich seine Promotion an der Corvinus-Universität Budapest in Ungarn abgeschlossen. Er ist externer Forschungsstipendiat am Institut of World Economics und Centre of Economic and Regional Studies.
Emilia Róza Barna ist Soziologin und Dozentin am Lehrstuhl für Soziologie und Kommunikation an der Technischen und Wirtschaftswissenschaftlichen Universität Budapest.
Belltower.News: Viktor Orbán, alter und neuer Premierminister und Vorsitzender der rechtspopulistischen Partei Fidesz, konnte sich bei den Wahlen im April 2022 erneut zwei Drittel der Stimmen sichern. Könnte dies der Anfang vom Ende der Demokratie in Ungarn sein?
Tamás Gerőcs: Es ist nicht so, dass gestern die Demokratie da war und morgen ist sie weg. Aber es gibt eine Menge gesellschaftlicher Prozesse, die sich seit langem entwickeln und sich auf den institutionellen Aufbau des Staates auswirken. Ich interpretiere das nicht wirklich als demokratischen Rückschritt, das ist irreführend. Man könnte leicht Gegenargumente anführen, etwa dass Orbán drei Millionen Stimmen erhalten hat – und das hat seit 1990 keine andere Partei geschafft. Es ist problematisch, das als undemokratisch zu bezeichnen. Aber wir müssen es in den Kontext stellen, also schauen, wie dieser Staat funktioniert oder was für ein Regime es ist, das in der Lage ist, Menschen gleichzeitig zu mobilisieren und demobilisieren. Denn beides geschah: Viele Menschen wählten Orbán, aber viele Menschen wurden auch ausgeschlossen oder ihre Stimme wurde abgeschwächt oder fragmentiert.
Emilia Barna: Ich stimme zu. Ich würde diesen Punkt nicht als den Anfang oder Ende von etwas betrachten. Was wir jetzt erleben, fügt sich in einen Prozess ein, der seit 2010 andauert – mindestens… Wir sehen tiefgreifende soziale Probleme, klassenbasierte Spaltungen, die viel länger zurückreichen. Aber obwohl drei Millionen Menschen für Fidesz gestimmt haben, wurden sie dabei durch bestimmte Faktoren beeinflusst, etwa durch die Massenmedien, die sich für Fidesz aussprechen und , eine öffentliche Sphäre schaffen, die das Wahlverhalten der Menschen stark vorhersagbar macht.
Neben den Medien gibt es weiter Faktoren: Etwa Wahlreformen über die Verteilung der Wahlkreise und Anpassung der Parlamentsgröße, die im Laufe der Jahre stattgefunden haben. Tamás, Sie haben gesagt, sie würden es nicht als undemokratische Abstimmung bezeichnen, aber eine faire Wahl war es definitiv auch nicht. Wie werden diese Umstände von der Opposition wahrgenommen?
Gerőcs: Bei der Opposition, auf der Seite der breiten Koalition, fangen die Leute an, sich zu fragen, ob es überhaupt möglich ist, dieses hegemoniale Regime innerhalb der Grenzen des Wahlsystems herauszufordern. Ich habe das Gefühl, dass diese Stimmen lauter werden könnten. Es ist eine strategische Frage, wie man die Menschen mobilisieren will. Ist es Zeit, die Spielregeln der Fidesz Partei zu brechen, den institutionellen Rahmen zu verlassen? Bisher wurde keine alternative Strategie ausprobiert.
Ein Blick auf die Wahlanalyse zeigt sehr deutlich, dass Budapest mehrheitlich für das Oppositionsbündnis gestimmt hat, während der Rest des Landes bis auf wenige Ausnahmen für den Fidesz gestimmt hat. Wie gespalten ist Ungarn?
Barna: Ja, die Ergebnisse zeigen eine starke Spaltung. Aber es zeigt auch die mangelnde lokale Verankerung von oppositionellen und kleinen Parteien und deren Reichweite. In den Jahren vor der Pandemie gab es sicherlich eine große Kluft zwischen den Schichten, die von der Fidesz-Regierung profitiert haben, und denen, die das nicht getan haben. Fidesz hat sich mit verschiedenen politischen Maßnahmen an die Mittelschicht und nicht an die Arbeiterklasse oder die Unterschicht gewandt. Aber so sind die Stimmen nicht aufgeteilt. Die Budapester Mittelschicht hat überwiegend für die Opposition gestimmt, während die Unterschicht eher Fidesz wählt.
Gerőcs: Es ist ein sehr disproportionales Wahlsystem. Man kann also die Wahlergebnisse und Resultate auf der Ebene der verschiedenen Wahlkreise sehen, aber sie sind nicht sehr repräsentativ. Fest steht: Es gibt eine starke räumliche Ungleichheit. Es gibt aber auch in der Fläche Aber es gibt auch große oppositionelle Anteile in verschiedenen Gebieten, das wird eine sehr interessante Situation schaffen während der bevorstehenden Kommunalwahlen 2024. Bei den Kommunalwahlen gibt es ein Wahlsystem mit einer anderen Systematik als bei den Nationalwahlen.
Zeigt dieser räumlich sehr unterschiedliche Zuspruch, wie die Fidesz-Regierung die Wahlen beeinflusst hat?
Gerőcs: Ja,denn Fidesz hat nicht nur über die Medien versucht, die Bevölkerung auf ihre Seite zu ziehen, nicht nur politische Verfahren zu ihrem Vorteil verändert. In einigen Kommunen ist die Regierung der einzige verbliebene Arbeitgeber. Wenn man sich in ländliche Teile des Landes begibt, finden wir eine Art unangefochtenen Staatsapparat vor, der fast monopolistisch agiert und sehr tief in den lokalen Institutionen verankert ist. Dem widerspricht lokal niemand. In städtischen Räumen muss der Klientelismus, der einzelne Gruppen politisch bevorzugt, anderes funktionieren..
Barna: Das zeigt auch, was in Ungarn das Wahlrecht bedeutet oder nicht bedeutet. Weil manche Menschen aufgrund dieser Art von Klientelbeziehungen völlig abhängig sind, haben sie im Grunde keine Handlungsmöglichkeiten, keine Wahl.
Aber es haben doch viele Menschen gewählt. Die Wahlbeteiligung war mit rund 70 Prozent ziemlich gut…
Barna: Dies ist auch eine Folge der erwähnten, lokal verankerten Klientelbeziehungen und Abhängigkeiten. Die Menschen haben das Gefühl, dass sie wählen müssen. Und sie fühlen sich nicht nur grundsätzlich verpflichtet, wählen zu gehen, sondern sie fühlen sich ganz konkret genötigt, Fidesz zu wählen.
Wie würden Sie die Stimmung nach den Wahlen beschreiben? Auch sehr gespalten?
Barna: In meinem eigenen sozialen Umfeld sehe ich viele jüngere und ältere Budapester Intellektuelle, auch Studierende, die sich einer Bewegung angeschlossen haben, die oppositionelle Wähler:innen mobilisiert und sich als Freiwillige für die Auszählung der Stimmen und die Verwaltung der Wahlen in verschiedenen Orten außerhalb von Budapest zur Verfügung stellt. Diese Menschen verbrachten viel Zeit in kleinen Städten und Dörfern und teilten ihre Erfahrungen in den sozialen Medien. Dies führte zu einer regen Diskussion über ihre Erfahrungen außerhalb von Budapest. Ein immer wiederkehrendes Element ist, wie überrascht sie über diese Machtverhältnisse und den Mangel an Handlungsmöglichkeiten sind – wie oft sie in Orte kommen, in denen jede:r ein:e Fidesz-Wähler:in ist. Auch wenn dies auf den ersten Blick wie eine Selbstreflexion der Intellektuellen erscheinen mag, so zeigt es doch eher einen allgemeinen Mangel an Wissen oder Verständnis für die ungarische Gesellschaft und die sozialen Probleme.
Gerőcs: Die Hoffnung ist nicht völlig verloren. Zum Beispiel hat einer der progressivsten Kandidaten der linken Organisation „Szikra” [Funke] einen Wahlbezirk in Budapest gewonnen. Einen alten Arbeiterbezirk, der weitgehend gentrifiziert wurde und daher eine sehr interessante Mischung von Menschen aufweist: sehr junge, städtische Intellektuelle ebenso wie ältere Arbeiter:innen und auch stark ethnisch geprägte Bevölkerungsgruppen, die in einem sehr dynamischen demografischen Wandel zusammenleben. Hier stellt sich wieder die Frage, wie es weiter geht und welche Art von Taktik sich auszahlt, nicht nur auf nationaler Ebene, sondern auch auf lokaler Ebene. Denn das ist die entscheidende Frage: Wie können wir lokal mobilisieren?
Wer wird von der Wiederwahl Orbáns am meisten betroffen sein?
Barna: Es gibt soziale Gruppen, die an den Rand gedrängt wurden: Unterschichten, Menschen in ländlichen Gebieten, Roma. Es gibt eine materielle, wirtschaftliche und symbolische Marginalisierung von Gruppen, die nicht in das Familienideal der Mittelschicht passen, und dazu gehören queere Minderheiten, Alleinerziehende, ethnische Minderheiten und Migrant:innen. Jetzt, wo nicht nur die Fidesz-Supermehrheit, sondern auch die rechtsextreme Partei „Mi Hazánk” im Parlament vertreten ist, werden diese ideologischen Diskurse weiter eskalieren.
Gerőcs: Bis zur Krise, die aus der Pandemie entstand, und dem Krieg war es zuletzt relativ friedlich in Ungarn. Die Art und Weise, wie der Staat funktionierte, war für viele Menschen nicht unvorteilhaft. Sie war sogar vorteilhaft für große Teile der Mittelschicht und sogar für ärmere Menschen. Sie selbst würden die Fidesz-Politik zwar nicht als vorteilhaft bezeichnen, aber es gab auch keinen Aufschrei bezüglich der wirtschaftlichen Lage oder Politik. Das wird sich jetzt ändern. Wir werden eine völlig andere Atmosphäre haben, die sich auf fast alle Menschen auf unterschiedliche Weise negativ auswirken wird. Jetzt wird der Staat eine Rolle dabei spielen, ob er diese Gruppen gegeneinander ausspielt und ob er Entscheidungen trifft, welche Gruppen mehr Schutz bekommen als andere. Der Einzug der neuen rechtsextremen Partei ins Parlament wird die Landschaft ziemlich verändern. Wer wird davon am meisten betroffen sein? Die Menschen, denen eine Fidesz-Regierung am meisten schadet, wählen Fidesz. Warum sie Fidesz wählen, ist die Frage, die wir beantworten müssen. Warum gibt es diesen Mangel an Interesse der städtischen Intellektuellen, warum gehen sie auf Distanz zur Landbevölkerung, statt nach Ursachen zu sehen? Der Staat kann auf dem Land hegemonial auftreten. Aber der Staat kann auch deshalb so auftreten, weil es auch eine soziale Hegemonie gibt, die sich nicht um die Ursachen der Wahlentscheidungen der ländlichen Wähler:innen kümmert.
Was genau meinen Sie mit sozialer Hegemonie?
Gerőcs: Hier geht es nicht nur um eine politische Hegemonie – diese hat einen klassenbasierten Anker. Orbán reorganisiert einen kapitalistischen Staat, der sich in der Krise befindet, und wendet sich dabei dem Faschismus zu, aber nicht dem ideologischen Faschismus. Es ist so etwas wie ein Klassenverhältnis, das er verwaltet. Der Kerngedanke dabei ist: Orbán bringt wichtige Teile des Kapitals, vor allem des meist deutschen Industriekapitals, zusammen mit dem ungarischen nationalen Kapital der nationalen Bourgeoisie. So entsteht eine Hegemonie, nicht durch die eine Partei, sondern durch ein gesellschaftliches Bündnis. Die Partei ist zwar die politische Artikulation, aber dieses Bündnis durchdringt viele Bereiche, etwa öffentliche Einrichtungen, privater Unternehmen und internationale Verbindungen.
Menschen, die vom System profitiert haben, die Mittelschicht, sind also gleichzeitig die schärfsten Kritiker:innen des Systems, während Menschen aus Randgruppen den Fidesz unterstützen. Warum ist das so?
Gerőcs: Die städtischen Mittelschichten sind nicht wirklich an den sozialen Fragen interessiert, die in den ärmeren ländlichen Gemeinden relevant sind. Wenn sie sie überhaupt erwähnen, dann nur, weil sie politisch mobilisieren wollen. Aber das städtische intellektuelle Bürgertum ignoriert die Armen auf dem Land weitgehend, und deshalb kann die Fidesz die Lücke dort so leicht füllen.
Und wie hat sich das bei den Wahlen bemerkbar gemacht?
Gerőcs: Orbán hatte freie Hand, soziale Fragen so zu thematisieren, wie er es wollte. Er nutzte Mechanismen, um Probleme zu verbergen und den Menschen Narrative vorzugaukeln. Er produziert ein falsches Bewusstsein mit falschen Narrativen, in denen diese Fragen scheinbar angesprochen werden. Orbáns harte Kampagne gegen Migration oder seine Anti-LGBTQ-Haltung sind Beispiele dafür. Er bedient sich häufig der Identitätspolitik, um die Menschen zu mobilisieren, die von sozialen Widersprüchen stark betroffen sind. Gleichzeitig verstimmt er damit die urbane, intellektuelle Mittelschicht. Die Menschen erleben all diese Widersprüche als Art von Distanz. Sie erleben Dinge, die sich nicht verstehen. „Szikra” hat dies im lokalen Kontext aufgegriffen und das hat sich wirklich positiv ausgewirkt. Denn anders herum heißt das: Wenn wir in der Lage sind, diese Widersprüche anzusprechen, dann können wir das hegemoniale Narrativ der Fidesz-Partei auflösen.
Wird die Regierung in der Lage sein, dieses hegemoniale Narrativ aufrechtzuerhalten?
Gerőcs: Bisher wurde Fidesz relativ gut mit EU-Geldern versorgt, wurde mit deutschen und chinesischen Kredite und so weiter subventioniert. Fidesz hatte Geld, um die Leute bei Laune zu halten. Das ist jetzt vorbei. Aber folgt dann eine eskalierte Krise? Wie wird die Antwort darauf aussehen? Ich persönlich bin aufgrund der Zusammensetzung des Parlaments sehr pessimistisch. Ich würde es als ein rechtsextremes Parlament bezeichnen. Fidesz hat eine Mehrheit, „Jobbik”, zuletzt Teil der Oppositionsallianz, ist eigentlich eine rechtsextreme Partei und jetzt „Mi Hazánk”. Inzwischen sind 80 bis 90 Prozent der Abgeordneten rechtsextrem. Es ist ein rechtsextremes Parlament mit ein paar Liberalen und Aktivisten dazwischen, die noch zögern: „Was sollen wir dort? Sollten wir überhaupt an diesen Sitzungen teilnehmen?”
Bezüglich der erwähnten EU-Gelder: Orbán befindet sich auf Kollisionskurs mit der EU. Wie schätzt du möglicherweise bevorstehende Sanktionen durch den nun ausgelösten Rechtsstaatmechanismus ein?
Gerőcs: Sanktionen ist ein starkes Wort. Wir müssen noch abwarten, ob die Mittel vollständig ausgesetzt werden. Orbán ist eigentlich ein sehr pragmatischer und nicht sehr ideologischer Mensch, der seine Überzeugungen leicht über Nacht ändern kann. Natürlich sehen wir, wie der Krieg in der Ukraine den Kurs verändert hat, und wir müssen erst noch abwarten, wie Orbán sich neu orientieren wird. Bislang ist er eher in die Isolation geraten, vor allem wegen der V4-Länder, die durch den Krieg wirklich gespalten wurden. Das ist ein großer Verlust für Orbán, und er muss etwas dagegen tun.
Was bedeutet das für Orbáns zukünftige Pläne und seine internationalen Beziehungen?
Gerőcs: Orbán wird sich neu orientieren müssen, um sich nicht weiter zu isolieren. Er kann sich den Widerspruch nicht leisten, zu Hause eine intakte, unangefochtene Hegemonie zu haben, aber ansonsten völlig isoliert zu sein. Offenbar will er seine Hegemonie auf internationaler Ebene für globale geopolitische Zwecke nutzen. Er hat sogar angedeutet, dass er sich für die ungarische Politik nicht mehr besonders interessiert. Es ist einfach langweilig für ihn, weil er ständig gewinnt. Er will sich wirklich in die Geopolitik einbringen und ist das Gesicht dieses neuen Illiberalismus in der Welt geworden. Er hat jetzt zwei Möglichkeiten: Er erfüllt seine Verpflichtungen im transatlantischen Bündnis, weil er es sich nicht leisten kann, ausgeschlossen zu werden. Bisher allerdings wartet er ab. Wenn sich die Lage beruhigt, wäre das zweite Szenario, seine Beziehungen außerhalb des bisherigen transatlantischen Bündnisses zu erweitern.Russland scheidet aktuell aus, aber wenn China, Indien und andere sich zu einer sogenannten bündnisfreien Gruppe neu formieren würden, wäre er sicherlich daran interessiert.
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