Ist es überhaupt in Deutschland vorstellbar oder zu rechtfertigen, dass Institutionen wie Kitas, Schulen, Hausverwaltungen, Ausländerbehörden oder Jobcenter Menschen ungerecht behandeln? Diskriminierung und Rassismus erscheinen an der Oberfläche als Problemlage einer bestimmten Alters- und Geschlechtsgruppe oder extrem rechter Gruppierungen. Diese Verortung verschließt den Blick vor diskriminierenden gesellschaftlichen Praktiken, die in der „bürgerlichen Mitte“ angesiedelt sind. Sie sind „dauerhafte Benachteiligungen sozialer Gruppen, die auf überindividuelle Sachverhalte wie Normen, Regeln und Routinen sowie auf kollektiv verfügbare Begründungen zurückgeführt werden“ (Hasse; Schmidt 2012, 883). Die Benachteiligung basiert auf Zuschreibungen von Hautfarbe, Kultur, Religion, Geschlecht, Sexualität oder ethnischer Herkunft. Professionelle Leistungen werden versagt oder zu Ungunsten der Leistungsberechtigten bzw. Leistungsempfänger*innen angepasst.
Frauen berichten in der Studie, dass sie als Hochqualifizierte bereit sind, sich als unqualifizierte Arbeitskraft einstellen zu lassen, um in den Status der Erwerbstätigkeit zu gelangen. Andere verfügen über Ressourcen und studieren in MV erneut – auch nach abgeschlossenen Studiengängen und nach einer ersten beruflichen Expertise im Herkunftsland –, oft in einemganz anderen Fachgebiet. Die Frauen erleben nicht nur eine Entwertung ihrer akademischen Abschlüsse und beruflichen Erfahrungen in Deutschland, sondern ihre Migrationserfahrungen münden in Deklassierungserfahrungen, da sie im Vergleich zur Lebenslage im Herkunftsland in schwächere sozioökonomische Positionen gelangen.
„Ich bin eine hoch ausgebildete Frau. Ich habe studiert, und ich habe drei Sprachprüfungen absolviert, und trotzdem muss ich in einem Hotel die Teller abwaschen.“ (Frau H, 00:07:54-3)
Wenn über diskriminierende Strukturen gesprochen wird, die unsere Gesellschaft durchziehen, fällt es häufig schwer zu benennen, was Menschen, die gesellschaftlich als „anders“ und „fremd“ markiert werden, erfahren oder womit sie konfrontiert sind. Dass auch Strukturen diskriminieren und ausgrenzen können, lässt sich sehr gut hinter der Überzeugung verstecken, dass bspw. Verwaltungshandeln neutral sei. Dabei gibt es mittlerweile zahlreiche Expertisen und Studien aus verschiedenen Disziplinen, die sehr genau zeigen, an welchen neuralgischen Punkten in biografischen Verläufen von Menschen diskriminierende Strukturen greifen. Für Frauen mit Migrationsgeschichte gilt dies in besonderem Maße. Sie sind ohnehin mit mehrfacher Diskriminierung im Alltag konfrontiert, die innerhalb diskriminierender Strukturen umso wirkmächtiger sein dürfte. Der Kontakt mit zahlreichen unterschiedlichen Institutionen und Ämtern ist für sie schlicht unvermeidbar, insbesondere wenn es Kinder in ihren Familien gibt. Die geschilderten Episoden der von uns interviewten Frauen machen die Verflechtungen von Diskriminierung quer durch verschiedene Ebenen und in der Dynamik der unterschiedlichen Zuschreibungen in beeindruckender Weise deutlich. Es sind unausweichliche Fragen der Lebensbewältigung, die hier thematisiert werden: Wie bekomme ich einen Ausbildungsplatz, falls ich Kopftuchtragen möchte? Wie schaffe ich es, im Jobcenter die richtige Beratung zu erhalten? Wie setze ich mich in der Kita meiner Kinder für mehr Sensibilität im Umgang mit Hautfarbe ein? Wie bekomme ich als Alleinerziehende eine Wohnung? Wie erhalten meine Kinder eine Gymnasialempfehlung? Wie wird meine Stimme in meiner Gemeinde gehört?
In den Erzählungen der Frauen werden immer wieder Ungleichbehandlungen in Ämtern und Behörden, wie bspw. in Jobcentern und Arbeitsagenturen, abgebildet. Menschen mit (familiärer) Migrationsgeschichte haben es, auch in MV, nachweisbar schwerer, Wohnraum zu finden oder sich erfolgreich auf eine Stellenausschreibung bzw. auf einen Ausbildungsplatz zu bewerben. Das hat nicht nur etwas damit zu tun, dass sie auf Individuen stoßen, die diskriminierende Praktiken vertreten, sondern auch damit, dass sie auf Gesetzgebung und Verwaltungsstrukturen treffen, die diskriminierendes Handeln ermöglichen oder gar befördern.
„Eigentlich fühlte ich mich hier wohl, also am Anfang. Obwohl Rassismus immer ein Thema war. Aber bei mir ist es halt schlimmer geworden, als ich angefangen habe, Kopftuch zu tragen. Dann habe ich vieles erlebt, es ist Alltag für mich geworden, dass mich Leute auf der Straße beschimpfen. Und jetzt hab ich Schwierigkeiten, weil ich ja meinen Abschluss im Sommer bekomme. Und bis jetzt habe ich keine Ausbildung gefunden, weil ich immer Absagen bekomme wegen dem Kopftuch. Oder sie sagen nichts. Wenn ich Vorstellungsgespräch habe, gucken die Personen mich so komisch an und verunsichern mich.“ (Frau K, 00:03:52)
„Also, ich war beim Arbeitsamt, und ich wollte einen Termin für eine Beratung wegen des Studiums, also über Chancen, welche Möglichkeiten ich habe. Und dann gehe ich zum Sekretariat und ich sage: ‚Ja, hallo, guten Morgen, ich möchte bitte einen Termin für eine Beratung.‘ – ‚Hm, haben Sie einen Personalausweis?‘ Und dann nimmt sie meinen Personalausweis, und sie sagt: ‚Woher kommen Sie denn? Also aus Griechenland. Und dürfen Sie hier arbeiten?‘ – ‚Also letztes Mal, als ich geguckt habe, waren wir immer noch in der EU, aber ja, ich darf hier leben und arbeiten, ich darf alles machen.‘ Und sie sagt zu mir: ‚Okay, gehen Sie bitte in die zweite Etage, und Sie werden also gerufen.‘ Okay, gut. Ich gehe mit einem komischen Gefühl, dass ich irgendwo falsch stehe. Dann ruft mich die Frau, ich gehe in ihr Büro und sie fragt: ‚Okay, was möchten Sie?‘ – ‚Ja, ich will einen Termin für eine Beratung wegen eines Studiums.‘ Und sie so: ‚Was machen Sie dann hier? Das ist für Asylbewerber.‘“ (Frau C, 00:40:01)
Auch die widerrechtliche Praktik des „Racial Profiling“, also eine stichprobenartige und verdachtsunabhängige Personenkontrolle durch die Polizei auf Grundlage der physischen Erscheinung, insbesondere Hautfarbe, ist ein wirkmächtiger Baustein im Gebilde institutioneller Diskriminierung. Eine Studie zu möglichem Rassismus und diskriminierenden Handlungen der Polizei in MV, u.a. zu Racial Profiling, wurde 2020 durch das Innenministerium des Landes abgelehnt. Frauen erfahren aber nicht nur durch Racial Profiling extreme Widerstände und Ungerechtigkeiten, sie müssen sich ebenso besonders anstrengen, um überhaupt Zugang zu Angeboten oder Leistungen zu bekommen, die ihnen rechtlich zustehen. So berichten Frauen davon, dass sie große Widerstände bei Behördengängen zu spüren bekommen und mit starker Abwehr konfrontiert werden.
„Als ich zum Jobcenter gegangen bin, das war auch nach dem Freiwilligendienst, ich wollte mich einfach informieren. Und: ‚Ja, warum sind Sie überhaupt hier? Warum sind Sie nach Deutschland gekommen? Ungarn ist doch kein Entwicklungsland. Also Sie hätten sicherlich einen Job finden können auch zu Hause.‘ Ja. Genau. Also, die Frau war nicht so freundlich.“ (Frau H,00:18:33)
Die in der Studie generierten Daten geben über gravierende Ausgrenzungen auf dem Wohnungsmarkt Auskunft. Frauen berichten, dass der Zugang zu Wohnraum für sie sehr erschwert ist. Sie sind konfrontiert mit rassistischen Aussagen, Diskriminierungen wegen des Nachnamens oder des Umstands, alleinerziehend zu sein. Die rassistische Dimension geht dabei sehr weit: Zum einen berichten Frauen, dass bereits die Angst, sich zu bewerben, enorm groß sei und diese wiederum permanent bestätigt wird. Sie sind konfrontiert mit rassistischen Stereotypen bezüglich ihrer (zugeschriebenen) Herkunft oder fehlender Transparenz in der Wohnungsvergabe. Wenn dann weitere Diskriminierungsdimensionen relevant werden, bspw. die Tatsache, alleinerziehend zu sein, wird die Wohnungssuche zu einem unmöglichen Unterfangen.
„Also, ich bin alleinerziehend, das heißt, ich suche eine Wohnung für meinen Sohn und mich. Als Frau mit diesem Nachnamen in Rostock, der größten Stadt des Bundeslandes, ist es fast unmöglich. Ich habe eine Anstellung, ich verdiene Geld. Aber ich bin chancenlos auf dem freien Markt. […] Bei Telefonaten muss ich beispielsweise Auskunft darüber geben, wo mein Name herkommt. Ich komme dann meistens nicht mal bis zur Besichtigung. Oder ich bekomme einen Termin zur Besichtigung, und plötzlich ist die Wohnung dann aber doch schon weg.“ (Frau P, 00:10:29)
Besonders erschütternde Ergebnisse konnten im Bereich medizinische Versorgungen erhoben werden. Betroffene Frauen berichten von massiven Ausgrenzungs- und Diskriminierungserlebnissen. Dies fängt bei rassistischen Zuschreibungen an. Frauen berichten, dass allein aufgrund ihres Nachnamens das medizinische Personal ihnen absprach, Deutsch sprechen zu können. Daraus resultierte bei einigen Frauen, dass sie in die medizinische Versorgung nicht vollständig mit eingebunden wurden und es zu fehlenden Absprachen kam. Und selbst in der vulnerablen Situation von Krankheit und der daraus resultierenden Hilfsbedürftigkeit sind Frauen nicht davor geschützt, rassistische Bedrohungsszenarien zu erleiden:
„Als ich schwanger war, musste ich mehrmals ins Krankenhaus. Ich lag mit einer deutschen Frau in einem Zimmer. Dann kam eine Krankenschwester in das Zimmer, sie war wohl frisch aus dem Urlaub zurück, ich kannte sie noch nicht. Ich lag im Bett mit meinem Kopftuch, und sie hat gedacht, ich verstehe kein Deutsch. Sie dreht sich zu der deutschen Patientin und sagt: ‚Soll ich Sie von der befreien und in ein anderes Zimmer stecken? […].‘ Das war ganz schlimm.“ (Frau T, 00:10:41)
Schließlich ist der Ausschluss vom Wahlrecht für zugewanderte Menschen ohne deutsche Staatsbürger*innenschaft und die damit verbundene fehlende Repräsentanz in politischen Einrichtungen maßgeblich für die Stabilisierung diskriminierender Strukturen. Ein Blick in die Kommunalverfassung von Mecklenburg-Vorpommern zeigt, dass keine expliziten Regelungen für die Vertretung zugewanderter Personen existieren. Die Gemeindeordnung bietet die Möglichkeit von Beiräten und Ausschüssen lediglich in beratender Funktion.
Institutionelle Diskriminierung und institutioneller Rassismus sind insbesondere für Betroffene schwierig zu erkennen und noch schwieriger zu benennen. Oft wird die Diskriminierung mit dem Fehlverhalten Einzelner begründet, gleichzeitig haben Individuen nur bedingt die Möglichkeit, diskriminierende Strukturen zu verändern.
„Und wenn man dann halt merkt: egal, was man macht, egal, wo man arbeitet, es reicht dann irgendwie doch vorne und hinten nicht. Und dann, ständig muss man was beantragen […] Ich habe ja dann natürlich überall auch Vergünstigungen gekriegt, das kann man ja alles beantragen, das hieß dann aber auch: Ich muss dann zum Verein rennen, ich muss dann zur Schule rennen, mich überall offenbaren. Und das ist einem dann natürlich irgendwann unangenehm, also ist ja irgendwie logisch. Aber, ja, das würde ich auf jeden Fall sagen, das war schon sehr anstrengend.“ (Frau B, 00:24:21)
Dabei wirkt Diskriminierung durch Behörden, Ämter, Kitas, Schulen oder durch die Polizei aufgrund der gegebenen Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse besonders schwer und bleibt Ausdruck gesellschaftlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Anders als der Kontakt mit Einzelpersonen ist der Umgang mit ihnen nicht zu vermeiden, ganz im Gegenteil, die Auseinandersetzung mit Institutionen ist für die Frauen die einzige Möglichkeit, das eigene Leben in MV zu gestalten und abzusichern.