Seit 1990 gab es nach Zählung der Amadeu Antonio Stiftung in Deutschland mindestens 219 Todesopfer rechter Gewalt. Ende September 2022 bestanden 915 offene Haftbefehle gegen 674 Personen aus dem rechtsextremen Spektrum. Und selbst wenn Terrorgruppen wie der NSU auffliegen, lässt die Aufarbeitung meist lange auf sich warten, Strafen fallen ungewöhnlich milde aus oder die Behörden geben sich größte Mühe, rechtsextreme Motive und Netzwerke zu ignorieren. Die folgenden Fälle sind nur wenige Beispiele dieser Praxis in Deutschland.
Neonaziangriff auf Journalisten in Thüringen: Bewährung und Sozialstunden
Im April 2018 fotografieren zwei Journalisten das Haus des langjährigen Neonazikaders Thorsten Heise im thüringischen Fretterode. Heise ist eine zentrale Figur der Neonaziszene, er sitzt im Vorstand der NPD, auf seinem Anwesen, einem ehemaligen Gutshaus, finden regelmäßig Vernetzungstreffen statt, auf dem Gelände ließ Heise ein Mahnmal für die „Leibstandarte SS Adolf Hitler“ errichten. Anlass für die Recherche der Journalisten war ein bevorstehendes Treffen von Neonazikadern auf dem Gelände. Doch die beiden werden entdeckt. Zwei Neonazis stürmen aus dem Haus, einer ist Gianluca B., der als Ziehsohn von Heise gilt, der andere ist Heises leiblicher Sohn Nordulf. Es kommt zu einer Verfolgungsjagd: Mit einem Schraubenschlüssel, Baseballschläger, Messer und Reizgas attackieren die Neonazis die beiden Journalisten. Einer wird im Oberschenkel gestochen, der andere wird im Gesicht schwer verletzt. Die Täter flüchten mit der Kameraausrüstung.
Die Polizei entdeckt später das Fahrzeug der Täter auf Heises Grundstück, stellt es aber nicht sicher. Laut Ermittlungsakten hatten die beiden Beamten Anweisungen, das Gelände nicht zu betreten. Sie beobachten aber, wie mehrere Personen, sich an dem Fahrzeug zu schaffen machen oder Dinge daraus entfernen. Abends fährt Heise den BMW vom Gelände und übergibt ihn der Polizei. Im Handschuhfach finden die Beamt*innen ein Messer, das nicht auf Spuren untersucht wird und schließlich verschwindet. Zwei Polizist*innen klingeln im Nachbarhaus, wo Gianluca B. wohnt. Nachdem seine Freundin den Beamten an der Tür erklärt, B. sei nicht zu Hause, ziehen die beiden wieder ab. Zwei Beamte begehen am Abend das Gutshaus. Eine Durchsuchung wird nicht durchgeführt. Es dauert vier Jahre, bis es zum Prozess kommt. Die Anklage lautet Sachbeschädigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung. B. wird zu einem Jahr auf Bewährung verurteilt. Heises Sohn zu 200 Arbeitsstunden.
Neonazipaar und NSU-Unterstützer: Zwei Jahre und sechs Monate
Die ZEIT bezeichnet André Eminger als den „treuesten Helfer“ des NSU. Mittlerweile soll er aus der Neonaziszene ausgestiegen sein – angeblich. Seit den 1990er Jahren war er zusammen mit seinem Zwillingsbruder Maik in der Szene aktiv. Seit 1998 kennt er den Neonazi Max-Florian B., der dem NSU-Kerntrio nach dessen Untertauchen ein halbes Jahr Unterschlupf in seiner Wohnung gewährte. Im selben Jahr lernt Eminger dort Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt kennen. Während seines Grundwehrdienstes wird er vom Militärischen Abschirmdienst (MAD) zu seinem Rechtsextremismus befragt – Eminger hatte die Worte „Blut und Ehre“, ein Motto von Hitlerjugend und SS, auf der Brust tätowiert. In der Bundeswehr darf er bleiben. Mit seinem Bruder baut er die „Weiße Bruderschaft Erzgebirge“ auf, deren Motto: „White Pride heißt unsere Religion“. Verheiratet ist er mit Susann Eminger, die er in der Neonaziszene kennenlernt. Eminger ist später Stützpunktleiter der Jungen Nationaldemokraten (JN), der Jugendorganisation der NPD in Potsdam.
Eminger mietet für den NSU die erste konspirative Wohnung in Cottbus an. Er organisiert Bahncards für die Neonazi-Terroristen und mietet Wohnmobile, die für zwei Banküberfälle und einen Mord verwendet werden. Insgesamt ermordet der NSU zehn Menschen. Nach einem Wohnungseinbruch im Haus der Terroristen muss Zschäpe, die nicht über gefälschte Papiere verfügt, eine Aussage bei der Polizei machen. Emingers Frau stellt ihr dafür ihren Ausweis zur Verfügung. Eminger begleitet Zschäpe zur Polizeiwache. Die Polizei bemerkt nichts. Nach dem Selbstmord von Böhnhardt und Mundlos hilft er Zschäpe bei der Flucht.
Im NSU Prozess wird Eminger wegen Beihilfe zum versuchten Mord, zu gefährlicher Körperverletzung, zum Raub und zum Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion sowie Unterstützung einer terroristischen Vereinigung angeklagt. Er sagt nie aus. Das Oberlandesgericht München verurteilt ihn zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung. In allen anderen Vorwürfen wurde er freigesprochen. Nach der Urteilsverkündung wird der Haftbefehl gegen ihn aufgehoben. Gegen Susann Eminger wird nie Anklage erhoben.
Brutaler Überfall auf eine Kirmesgesellschaft in Ballstädt: Bewährungsstrafen
Zehn Menschen werden verletzt, zum Teil schwer: mit Knochenbrüchen, Platzwunden im Gesicht oder abgesplitterten Zähnen. Am frühen Morgen des 9. Februar 2014 überfallen 16 vermummte Neonazis eine Kirmesgesellschaft im thüringischen Ballstädt. Diese hatte im Kulturzentrum ein Dankesfest gefeiert. Der Angriff sei laut Angreifer Rache für eine eingeworfene Scheibe im rechtsextremen Szeneobjekt „Gelbes Haus“.
Die Richterin spricht sieben Jahre später im Prozess von einem „Überfallkommando“ und einer gemeinschaftlich gefährlichen Körperverletzung: „Selbstjustiz und Rache ist nie zu billigen“, sagt sie 2021. Ein rechtes Tatmotiv will das Gericht aber nicht anerkennen. Stattdessen macht der Staat Deals mit den Nazis. Alle Angeklagten kommen glimpflich davon, sie bekommen ausnahmslos Bewährungsstrafen, ausgesetzt auf bis zu drei Jahren. Manche müssen bis zu 3.000 Euro an den Förderverein einer Ballstädter Kita zahlen, andere bis zu 300 Stunden gemeinnützige Arbeit leisten. Verfahren gegen zwei weitere Angeklagten werden gegen Geldauflagen eingestellt. Ein Jahr später, im Juni 2022, sitzt Rädelsführer Thomas W. wieder auf der Anklagebank – als Chef der „Turonen“, einer Neonazibande aus Thüringen, die Crystal Meth verkauft und Bordellen betreibt.
Prozess gegen „Blood & Honour“: Geständnisse gegen Strafnachlässe
Schon wieder ein Deal: Im Prozess gegen elf Angeklagten des verbotenen Neonazi-Netzwerks „Blood & Honour“ fallen die Strafen im August 2022 mild aus: Zwei Verfahren werden gegen Geldauflagen eingestellt, die restlichen neun Neonazis bekommen Bewährungs- und Geldstrafen. Die Rädelsführer kommen mit Haftstrafen von bis zu einem Jahr und zehn Monaten auf Bewährung davon. Die Generalstaatsanwaltschaft München hatte ein Deal mit der Verteidigung gemacht: Geständnisse gegen Strafnachlässe. „Blood & Honour“, benannt nach dem Motto der Hitlerjugend, ist international aktiv und unter anderem im Rechtsrock-Geschäft tätig. Seit 2000 ist das Netzwerk in Deutschland verboten. Dessen bewaffneter Arm „Combat 18“ wurde 2020 verboten – ein Schritt, der von vielen Beobachter*innen der extremen Rechten als zu spät kritisiert wurde. Stephan Ernst, der den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke mit einem Kopfschuss ermordete, soll Verbindungen zu der Gruppe gehabt haben.
Überfall auf Connewitz: bis zu einem und eineinhalb Jahren auf Bewährung
Am 11. Januar 2016 randalieren 250-300 Neonazis, rechtsextreme Hooligans und Kampfsportler im als links geltenden Leipziger Stadtteil Connewitz. Die Angreifer werfen Steine und Pyrotechnik, zerstören Schaufenster, Geschäfte und Autos und bedrohen und verletzen mehrere Menschen. Es entsteht Sachschäden in Höhe von mindestens 113.000 Euro. Unter den identifizierten Tätern sind Mitglieder der Freien Kameradschaft Dresden, der JN und der Neonazipartei „Die Rechte“, der „Weisse Wölfe Terrorcrew“ und der „Skinheads Sächsische Schweiz“, daneben Hooligans von Dynamo Dresden, Lokomotive Leipzig und dem Halleschen FC.
Prozesse gegen die Täter beginnen erst zwei Jahre später. Den Angeklagten wird schwerer Landfriedensbruch vorgeworfen. Körperverletzungen und versuchte Angriffe auf Menschen werden nicht angeklagt. Fünf Jahre nach dem Angriff steht bei 66 der 204 vor dem Amtsgericht Leipzig Angeklagten noch kein Prozesstermin fest. Bisher 124 Verurteilte werden zu Bewährungsstrafen zwischen einem und eineinhalb Jahren verurteilt, manche zu zusätzlichen Geldstrafen. Haftstrafen ohne Bewährung werden in der Regel wieder aufgehoben. Gegen zwei Mitglieder der Freien Kameradschaft Dresden werden Haftstrafen von drei Jahren und acht Monaten verhängt, weil auch andere Straftaten mitverhandelt wurden.
Wehrhahnprozess: Freispruch nach 18 Jahren
Am 27. Juli 2000 explodiert gegen 15 Uhr eine selbstgebaute Rohrbombe am S-Bahnhof Wehrhahn in Düsseldorf, als eine Gruppe von 12 Sprachschüler*innen aus Russland, der Ukraine und Aserbaidschan sich, wie jeden Tag, der Treppe nähert. Der Sprengsatz ist in eine Plastiktüte gewickelt, an die Treppe gehängt. Zehn Menschen werden verletzt, teilweise schwer. Eine 26-jährige Frau, die im sechsten Monat schwanger ist, verliert ihr ungeborenes Kind, das von einem Splitter getroffen wird. Die Neonazi-Szene feiert: „Bombenstimmung in Düsseldorf“.
Der Neonazi Ralf S. steht schon unter polizeilichen Überwachung: 30 Minuten nach der Tat äußert er gegenüber einer Bekannten die Befürchtung, festgenommen zu werden. Er macht sich über die Opfer lustig und spricht davon, „was ich da gemacht habe“ – dann korrigiert auf „was ich da gemacht haben soll.“ Später beschreibt er die Tötung eines ungeborenen Kindes als nur eine „illegale Abtreibung“ und kein Mord. Ralf S. ist zwar recht umgehend tatverdächtig, doch eine Hausdurchsuchung findet erst Tage nach dem Anschlag statt, nachdem ein oberflächliche „Begehung“ durch zwei Beamte des Staatsschutzes ihn bereits vorgewarnt hatten.
Die Ermittlungen gegen ihn werden 2002 eingestellt und erst 2014 wieder aufgenommen, S. sitzt zu dieser Zeit wegen anderer Vergehen im Gefängnis und gesteht die Tat gegenüber einem Mithäftling. Dann wird noch zweieinhalb Jahre ermittelt, bevor Ralf S. als dringend tatverdächtig verhaftet wird. Der Prozess am Landgericht Düsseldorf beginnt am 25. Januar 2018. Das Urteil fällt am 31. Juli 2018: Freispruch.
Oktoberfestattentat: Ein Einzeltäter auf Selbstmordmission?
Es ist einer der schwersten Terroranschläge in der Geschichte der Bundesrepublik: Am 26. September 1980 detoniert eine handgefertigte Bombe auf dem Münchener Oktoberfest. 13 Personen kommen ums Leben, 221 werden verletzt, 68 von ihnen schwer. Der Täter: Gundolf Köhler, Mitglied der neonazistischen „Wiking-Jugend“ und der „Wehrsportgruppe Hoffmann“. Im selben Jahr ermordet Uwe Behrendt, Vize-Chef der Wehrsportgruppe, den Rabbiner Shlomo Lewin und dessen Lebensgefährtin Frida Poeschke.
Gundolf Köhler stirbt bei dem Anschlag auf das Oktoberfest. Ermittler*innen gehen allerdings von persönlichen Motiven aus, Köhler soll den Anschlag alleine geplant haben, womöglich als erweiterten Suizid. Ein Einzeltäter? Die These der Behörden stößt auf Skepsis, vor allem beim Journalisten Ulrich Chaussy-Wunderlich, der jahrelang akribisch zum Fall recherchiert. Aber von Seite der Behörden bleiben Köhlers Netzwerke weitgehend unbeleuchtet – trotz der vielen Ungereimtheiten im Fall. Erst 2020 – vier Jahrzehnte später – wird die Tat von der Bundesanwaltschaft als rechtsextremer Terrorakt eingestuft. Der Täter habe damalige Bundestagswahl beeinflussen, dem CDU/CSU-Kandidaten Franz Josef Strauß ins Kanzleramt verhelfen und einen „Führerstaat“ errichten wollen.