Bundesinnenministerin Nancy Faeser stellte am 7. Juni 2022 erstmals seit Beginn ihrer Amtszeit den jährlichen Bundesverfassungsschutzbericht vor. „Wir gehen entschieden gegen die Feinde unserer Demokratie vor. Die größte extremistische Bedrohung […] ist weiterhin der Rechtsextremismus.“ Mit diesen Worten eröffnete die SPD-Politikerin die gemeinsame Pressekonferenz mit BfV-Präsident Thomas Haldenwang anlässlich der Vorstellung des Berichts für 2021. Denn egal ob Corona-Pandemie, Hochwasserkatastrophe oder russischer Angriffskrieg, „Rechtsextremisten missbrauchen jede Krise für ihren Versuch, Menschen gegeneinander auszuspielen und die Gesellschaft zu destabilisieren“, betont Faeser.
Die größte Gefahr droht weiter von rechts
Im Jahr 2021 zählte der Verfassungsschutz insgesamt 55.048 politisch motivierte Straftaten. Ein deutlicher Anstieg von 44.692 gezählten Straftaten im Vergleich zum Vorjahr. 20.201 dieser Straftaten wurden als Taten mit rechtsextremistischem Hintergrund bewertet, wovon wiederum 945 Fälle Gewalttaten ausmachen. Neben Brandstiftungsdelikten, Nötigungen und Sachbeschädigungen, bilden mit knapp 83 Prozent Körperverletzungsdelikte die große Mehrheit der gezählten Gewalttaten. Der Verfassungsschutz zählt zwei versuchte Tötungsdelikte und ein vollendetes Tötungsdelikt mit vier Todesopfern. Der Täter tötete seine Frau, deren drei Kinder und sich selbst. In einem Abschiedsbrief äußerte der Mann antisemitische Verschwörungsideologien aus dem Kontext der Coronaleugner-Szene.
Zwar ist im Vergleich zum letzten Jahr die Anzahl rechtsextremistisch motivierter Straftaten um 9,6 Prozent und die Anzahl rechtsextremistisch motivierte Gewalttaten um 7,6 Prozent zurückgegangen. Doch die Gesamtzahl des rechtsextremistischen Personenpotenzials, bleibt mit 33.900 auf einem unverändert hohen Niveau. Denn obwohl die Zahlen des Rechtsextremismuspotenzials in Parteien insgesamt von 13.250 in 2020 auf 11.800 im Jahr 2021 gesunken ist, wächst das Personenpotenzial in parteiunabhängigen Strukturen, wie der „Identitären Bewegung Deutschland“ und der „COMPACT-Magazin GmbH“, sowie weitgehend unstrukturierten Zugehörigkeiten, wie beispielsweise bei Reichsbürger:innen und Selbstverwalter:innen, deutlich an. Knapp 40 Prozent, also 13.500 Personen werden als gewaltorientierte Rechtsextremisten kategorisiert.
Maßgeblich sei nach wie vor die Bestrebung von rechtsextremistischen Akteuren Anschlussfähigkeit an bürgerlich-demokratische Kreise zu generieren. Im Jahr 2021 wurde dies vor allem durch Aktivitäten von Rechtsaußen-Parteien und Gruppierungen während der Flutkatastrophe in NRW und Rheinland-Pfalz im Juli 2021 und der Instrumentalisierung der Proteste gegen die staatlichen Corona-Schutzmaßnahmen deutlich. In diesem Kontext wurden auch Antisemitismus und antisemitische Narrative verstärkt. Antisemitische Verschwörungsideologien wurden und werden laut Verfassungsschutz vor allem im digitalen Raum verbreitet. Obwohl Verschwörungerzählungen als wesentlicher Radikalisierungsmotor der Demokratiefeindschaft benannt werden, bleibt die entsprechende Radikalisierung aus dem Rechtsextremismus ausgeklammert und damit entpolitisiert. „In der Querdenker-Bewegung vereinen sich Verschwörungsdenken, Rechtsextremismus, Antisemitismus & Demokratiefeindschaft. Das ist die DNA rechtsextremer Ideologie. Wer die Phänomene auseinander rechnet, spielt Demokratiefeinden im Gewand von Corona-Protestlern in die Hände“, kommentiert die Amadeu Antonio Stiftung den Bericht auf Twitter.
Islamismus und Linksextremismus
409 extremistische Straftaten wurde in der Kategorie „politisch motivierte Kriminalität – religiöse Ideologie“ gezählt. Der überwiegende Anteil dieser Taten, insgesamt 372, wird einem islamistischen Hintergrund zugeordnet. Die Anzahl der Gewalttaten in diesem Kontext stiegt um 48,5 Prozent auf insgesamt 49. Ebenfalls 49 Delikte wurden als Taten zur „Vorbereitung oder Unterstützung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat“ nach Paragraph 89a StGB eingestuft. Auffällig ist hierbei, dass die Zuordnung zu diesem Straftatbestand im Kontext der über 20.000 Straftaten mit rechtsextremistischen Hintergrund nicht im Bericht auftaucht, und wohl folglich keine einzige als solche eingestuft wurde.
Linksextremistisch motivierte Straftaten sind um 7,4 Prozent, Gewalttaten um 20,2 Prozent zurückgegangen. Straftaten aus dem linken Spektrum bleiben überwiegen gegen die Polizei und andere Sicherheitsbehörden gerichtet. Insgesamt wurden 10.13 Straftaten der Kategorie „politisch motivierte Kriminalität – links“ zugeordnet. 1.203 davon wurden als Gewalttaten gewertet und 6.142 einem linksextremistischen Hintergrund zugeordnet.
Niveau der Spionageaktivitäten steht dem des Ost-West-Konflikts bis 1990 nichts nach
Einen besonderen Schwerpunkt bildet im aktuellen Bericht der Fokus auf Spionage und Desinformation. Die Entwicklungstendenzen der „zunehmend komplexeren Spionageaktivitäten“ werden in diesem Kontext als „ernsthafte Bedrohung Deutschlands“ benannt. „In den vergangenen Wochen haben wir wiederholt davon gesprochen, dass das Niveau der Spionageaktivitäten gegen Deutschland, dem des Ost-West-Konflikts bis 1990 in nichts mehr nachsteht“, erklärt Haldenwang in der Bundespressekonferenz. Heutzutage käme die zusätzliche Bedrohung durch Cyberangriffe noch hinzu. Mit Blick auf den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine müsse man damit rechnen, dass die Bedrohungslage perspektivisch eher zu- statt abnehmen wird. Dass auch diese Entwicklungen nicht separat von rechtsextremistischen Entwicklungen zu betrachten sind, betont Timo Reinfrank, Geschäftsführer der AAS auf Twitter: „Die rechtsextreme Szene wird auch mit russischem Geld finanziert, in Russland trainieren Neonazis an der Waffe. Auch die AfD pflegt engste Verbindungen zum Kreml und wirkt als verlängerter Arm Putins in die deutschen Parlamente“.
AfD nicht im Bericht eingeschlossen
Zwar sei die AfD als Verdachtsfall eingestuft und dieser Schritt auch bereits gerichtlich bestätigt worden, doch aufgrund laufender „gerichtlicher Auseinandersetzung“ können mögliche extremistische Bestrebungen im parlamentarischen Raum im diesjährigen Bericht nicht abgebildet werden, erklärte Verfassungsschutzchef Haldenwang. Nichtsdestotrotz würde die Partei jedoch beobachtet und der Parteitag in einer Woche sei eine weitere Gelegenheit, Entwicklungen „genau unter die Lupe zu nehmen“.
Kritik an neuem Bereich der „Delegitimierer:innen“ hält an
Als Reaktion auf die Entwicklungen der Proteste gegen staatliche Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie, führte der BfV im April 2021 den neuen Phänomenbereich „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ ein, von Haldenwang während der Pressekonferenz kurz „Delegitimierer“ genannt. Kritik an dieser Neueinführung kommt auch am heutigen Vormittag. Ein Journalist fragt nach dem Grund für fehlende Zahlen in diesem Bereich und benennt die Sorge vieler Kritiker:innen eine drohende Verwässerung des Lagebilds Rechtsextremismus. Dass bisher keinen Zahlen für diese neuen Phänomenbereich veröffentlicht wurden, begründet Haldenwang mit der Einführung der Kategorie im April und der entsprechenden Unvollständigkeit der Zahlen für das Jahr 2021. Darüber hinaus betonen er und Innenministerin Faeser die Heterogenität der Protestbewegung. Hintergründe und Netzwerke seien regional sehr unterschiedlich. In Bundesländern wie Thüringen oder Sachsen würde das Protestgeschehen klar von rechtsextremistischen Gruppierungen, wie etwa der neu gegründeten rechtsextremen Partei „Freie Sachsen“ mobilisiert, während die Entwicklungen in Bundesländern wie Baden-Württemberg von Esoteriker:innen und Verschwörungsideolog:innen dominiert würden. Eine schlichte Vereinfachung durch eine rechts, links Kategorisierung sei „fatal“, so Haldenwang. Eine erstmalig vollständige Zählung des neuen Phänomenbereichs ist entsprechend erst im nächsten Jahr im Verfassungsschutzbericht zum Jahr 2022 zu erwarten.