Im Auftrag der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen hat sich Dr. Wolf Wagner von der Fachhochschule Erfurt mit einigen der darin empfohlenen Sprachregelungen für die NPD-Kader auseinander gesetzt – und mustergültige Antworten gegeben. Belltower.news druckt in loser Folge Auszüge aus dieser Broschüre.
Die Rechtsextremen sagen: „Nur eine Abstammungs- und Kulturnation kann echte Gemeinschaftskräfte entwickeln und eine Schutz- und Solidargemeinschaft bilden. In scharfem Gegensatz dazu steht die bloße Bekenntnis- und Staatsnation nach westeuropäischem Vorbild mit ihrem abstrakten, emotionskalten ?Verfassungspatriotismus‘.“ Was ist davon zu halten?
Eine Gemeinschaft, das sind Menschen, die sich alle von Angesicht zu Angesicht kennen und gleiche Werte und Anschauungen haben. Das klassische Beispiel für eine Gemeinschaft ist die Familie, Vater, Mutter und die Kinder. Darum klingt der Satz der Rechtsextremen für Viele ganz vernünftig. Aber selbst für Familien stimmt der Satz nicht. Denn Vater und Mutter kommen aus nicht miteinander verwandten, also verschiedenen Familien, denn sonst wäre es der in Deutschland verbotene Inzest.
Vater und Mutter haben also nie gleiche Abstammung. Dennoch sind Familien selbstverständlich Gemeinschaften. Schon hier zeigt sich, wie unsinnig der Satz ist. Aber schauen wir uns noch andere Gemeinschaften an, denn Gemeinschaften gibt es auch außerhalb der Familie. Eine Schulklasse wird mit der Zeit zu einer Gemeinschaft, auch wenn ihre Mitglieder aus aller Welt kommen. Freundeskreise bilden Gemeinschaften gleichgültig, ob ihre Mitglieder gleiche Abstammung haben oder nicht.
Eine Gemeinschaft ist also überhaupt nicht an Abstammung gebunden. Entscheidend für eine Gemeinschaft sind enges Zusammenleben, direkter Kontakt zwischen ihren Mitgliedern von Angesicht zu Angesicht und ähnliche Auffassungen. Ein Staat oder Nation besteht aus vielen Millionen Menschen. Ein Staat oder eine Nation kann gar keine Gemeinschaft sein. Ihre Mitglieder können sich nicht von Angesicht zu Angesicht kennen. Und unter ihnen gibt es unvermeidlicher Weise sehr unterschiedliche Werte und Anschauungen, die nur durch die Werte der Verfassung zusammengehalten werden.
Die Rechtsextremen können solche Vielfalt nicht aushalten. Sie hassen das Abstrakte und Fremde in jeder Form und lehnen es daher als „emotionskalt“ ab. Sie sehnen sich nach dem Schutz und Konkretheit und Eindeutigkeit der Gemeinschaft. Doch eine Gemeinschaft zwischen 80 Millionen Menschen gibt es nicht. Es ist eine Illusion. Da gibt es nur Gesellschaft.
Ein Staat oder eine Nation ist immer eine Gesellschaft und keine Gemeinschaft. Das würde selbst dann gelten, wenn alle Mitglieder des Staates oder der Nation die gleiche Abstammung hätten. Auch dann würde sie aus sehr unterschiedlichen Menschen, Männern und Frauen, Kindern und Alten, Reichen und Armen, Starken und Schwachen, Stadtbevölkerung und Landbevölkerung, Frühaufstehern und Langschläfern, Faulen und Fleißigen, Gottgläubigen und Gottlosen, also aus ganz unterschiedlichen Menschen bestehen.
Damit sie miteinander zurechtkommen gibt es die Politik. In ihr werden durch die Vertreter der so unterschiedlichen Interessen und Lebenslagen gemeinsame Regeln, Gesetze entwickelt. Sie sorgen für den Schutz der Schwachen, Alten, Armen und bilden so eine solidarische Gesellschaft. Die obersten und zugleich grundsätzlichen gemeinsamen Regeln sind in der Verfassung festgelegt. Wenn sie gut sind, bilden sie eine gute Gesellschaft, in der alle, trotz ihrer großen Verschiedenheit, gut zusammen leben können. Darauf kann man dann stolz sein. Das ist gemeint mit „Verfassungspatriotismus“.
Tatsächlich erwachsene Menschen haben gelernt, mit Unterschieden zu leben. Ihnen genügt die kleine Gemeinschaft, in der sie leben, für ihre emotionale Geborgenheit. Sie müssen nicht die ganze Gesellschaft zu einer Gemeinschaft machen. Das ist etwas für kindliche Gemüter.
Die Rechtsextremen brauchen die tröstende Nähe angeblich gleicher und gleich denkender Menschen, eben die Gemeinschaft. Doch, wer die Gesellschaft zur Gemeinschaft machen will, muss ihre Freiheit und Vielfalt abschaffen. Deshalb haben schon die Nationalsozialisten alles verfolgt, gewaltsam unterdrückt und schließlich vernichtet, was ihnen fremd erschien: Politisch Andersdenkende, Juden, Sinti und Roma, Behinderte, Homosexuelle, Maler und Schriftsteller, die anders malten und schrieben, Jugendliche, die moderne Musik, Jazz und Swing hörten, alle, die es wagten, ihr eigenes Leben zu leben. Solche Sehnsucht nach Gemeinschaft kann gemeingefährlich werden.
Dabei können Menschen überall Gemeinschaft haben, auch die Rechtextremen. Denn beinahe alle Menschen auf der Welt leben in kleinen Gemeinschaften, in Familien, im Kreis von Freundinnen und Freunden. In solchen Gemeinschaften denken alle sehr ähnlich und sind einander oft auch sehr ähnlich. Dort gibt es das „Wir-Gefühl“. Dort finden der „emotional unterfütterte Solidar- und Schutzverband“ statt. Dort gibt es die „Selbstbestimmungsgemeinschaft und Handlungseinheit“.
Aber Gesellschaft ist keine Familie, kein Freundeskreis. Gesellschaft ist größer und vielfältiger. Und das ist gut so.
Kinder fürchten sich zuerst vor der Vielfalt und Freiheit jenseits ihrer engen Gemeinschaft. Doch dann packt sie die Neugier und die Freude an der Vielfalt und Freiheit einer Welt jenseits der Gemeinschaft. Von diesem Abenteuer können sie immer wieder in den Schutz der Gemeinschaft ihrer Familie und Freunde zurückkehren. Nach und nach lernen sie unabhängiger zu werden, größere Vielfalt auch dauerhaft zu ertragen, zuerst in der Schule, dann in Vereinen und Vereinigungen, schließlich im Beruf mit einer großen Vielfalt unter den Kolleginnen und Kollegen und der Kundschaft. Spätestens als tatsächlich erwachsene Menschen ist ihnen Gesellschaft keine Bedrohung mehr, sondern bietet ihnen Anregung, Bereicherung, Herausforderung, Freiheit zur Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung außerhalb der engen Grenzen der Gemeinschaft.
Wolf Wagner ist Professor an der Fachhochschule Erfurt
Dieser Text ist ein Auszug aus der Broschüre „Was die Rechtsextremen sagen“ der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen. Wir bedanken uns für die freundliche Genehmigung zum Abdruck.
Zum Thema:
| Teil 1 Die Mär vom „Dikat der West-Alliierten“
| Teil 2 Kindische Sehnsucht nach „Gemeinschaft“
| Teil 3 Einfältige Logik: Lieber „Deutsch“ als „Mensch“ sein
| Teil 5 Unsinnig, überholt und längst widerlegt: Die Idee der Einteilung in „Rassen