Weiter zum Inhalt Skip to table of contents

Vom Bildschirm zur Tat Radikalisierung im Internet

Von|
Ausschnitt aus dem Titelbild des Buches "Rechte Ego-Shooter. Von der virtuellen Hetze zum Livestream-Attentat". (Quelle: Christoph-Links-Verlag)

Ein wenig durch das Internet surfen. Immer mehr einschlägige Webportale und Imagebords anklicken. Schauen, lesen, liken, verbreiten und sich selbst neu positionieren. Den vermeintlichen digitalen Sog, der mit einer radikalisierten Enthemmung synchron laufen kann, beschreibt der Nutzer »Blake« im amerikanischen rechtsextremen »Iron March«-Forum. 2019 hatten Unbekannte das Forum von Rechtsextremen aus aller Welt geleakt. Hier beschreibt »Blake«, nach eigenen Angaben aus Großbritannien, dass er eigentlich ein »Libertärer« gewesen war, sich aber durch immer radikalere rechtsextreme Posts, Videos und Nachrichten erst als Nationalist und dann als Nationalsozialisten verstand. »Eines Tages schaute ich mir europäische rechtsextreme Videos an«, schreibt er: »Ich aß gerade, achtete nicht so sehr auf die Videos und hatte ›Auto Play‹ aktiviert. Da hörte ich eine kraftvolle, schöne und ernsthafte deutsche Stimme, ich blickte auf den Bildschirm und schaute mir eine Rede von Adolf Hitler an! Da ich ja mein ganzes Leben mit jüdischen Lügen gehirngewaschen war, hätte ich schockiert sein müssen und den ›bösen‹ Mann ablehnen müssen, aber so war es nicht.«

In Medien und Politik werden solche Selbstdarstellungen, in denen das Internet und soziale Medien als zentrales Moment der Selbstradikalisierung erscheinen, oft aufgegriffen. Die sozialen Netzwerke, die Imageboards oder der Kurznachrichtendienst Twitter erscheinen als alleinige Ursache. Oft gar als das Übel, das generell in der Mitte der Gesellschaft zur Enthemmung der Worte geführt hätte. Doch ein Medium ist bloß ein Medium. Die Prozesse, warum jemand sich zum bekennenden Rechtsextremen entwickelt und eine harte Radikalisierung durchläuft, gar sucht, sind höchst komplex.

Auch nach dem Attentat von Stephan Balliet auf die Synagoge in Halle im Oktober 2019 kam diese Frage auf, denn lokale Beobachter der Szene wussten bis dato nichts von ihm: Weder von Rechtsextremen-Aufmärschen noch als Mitglied von rechten Gruppen war er bekannt. Die Sicherheitsbehörden hatten ihn ebenso nach eigener Auskunft und dem Kenntnisstand bis Drucklegung nicht wahrgenommen. Sein politischer Werdegang ist im Einzelnen schwer nachzuzeichnen. Äußerungen in den von ihm geposteten Texten sowie im Video des Livestreams seiner Tat deuten indes darauf hin, dass er in einer Online-Welt zu Hause war. Welche Mechanismen führen also dazu, dass jemand wie er sich vor dem Bildschirm radikalisiert?

Seit vielen Jahrzehnten wird in den Politikwissenschaften, der Soziologie und der Psychologie über diese Phänomene geforscht, viele verschiedene Antworten werden angeboten, aber keine davon bietet eine allumfassende Erklärung. Die Radikalisierung von Menschen ist ein vielschichtiger Prozess. Es gibt nicht den einen Faktor, der politische Radikalisierung auslöst, und auch kein festes Bündel von Faktoren, das aus Menschen Rechtsextreme macht oder Rechtsextreme zu Gewalttätern oder Rechtsterroristen werden lässt.

Viele Erklärungsansätze haben ihre Berechtigung, darunter jene, die Zusammenhänge zwischen jeweiliger Lebenssituation und rechtsextremer Radikalisierung feststellen. Doch es sind vor allem Korrelationen, keine Kausalzusammenhänge. Die Erklärung durch soziökonomische Faktoren beispielsweise – besonders beliebt in den 1990ern – lässt sich mit Zahlen belegen und greift trotzdem zu kurz: Es gibt Menschen, die arm sind, keinen Job haben, in abgehängten Regionen leben und rechtsextrem werden – aber es gibt noch mehr Menschen, denen es auch so geht und die nicht anfangen, Menschen zu hassen. Genauso, wie es Menschen gibt, die einen erfüllenden Job mit einem guten Gehalt haben und in Metropolen leben und trotzdem rechtsextrem sind.

Psychologische Faktoren spielen eine Rolle in Radikalisierungsprozessen: Einsamkeit und mangelnde Sozialkontakte im Lebensumfeld und daraus resultierend eine Suche nach Anerkennung und Gemeinschaft, mangelhafte Ausbildung von Empathie, auch durch eigene traumatische Erfahrungen oder Vernachlässigung in der Familie, der Wunsch nach autoritärer Machtausübung und Furchtverbreitung gerade bei Menschen, die sich im Leben als wenig wirkungsmächtig erleben, die Suche nach einem Lebenssinn und nach Orientierung in einer als zu komplex empfundenen Gesellschaft durch den Anschluss an eine »Gemeinschaft« mit klaren Regeln und Feindbildern, Bereitschaft zur Aufwertung des Selbst durch die Abwertung anderer. Doch auch diese Faktoren bieten keine Alleinerklärung: Wiederum gibt es noch viel mehr Menschen, die ähnliches erleben oder erleiden, sich aber nicht extremen Gruppierungen anschließen.

Für eine Radikalisierung in den Rechtsextremismus bedarf es einer politischen Dimension. Es gibt intensive Forschung zur Tradierung rechtsextremer und rassistischer Ideologie in der Familie und im Umfeld. Forscher wie Harald Welzer und Sabine Moller konnten zeigen, dass ein in Familien tradierter positiver Bezug auf den Nationalsozialismus eine starke Wirkmacht gerade auf die Enkelgeneration ausübt, die Opas und Omas Geschichten über »deutsche« Werte, Zusammenhalt und Kameradschaft im Soldaten- und Kriegsleben ebenso verinnerlicht wie ihrem Rassismus, ihren Antisemitismus und ihre Geschlechterbilder – selbst wenn es in Schule und Erziehung ein gesellschaftliches Gegenangebot zur NS-verherrlichenden Erzählung gibt, aber noch mehr, wenn der Nationalsozialismus in der Schule weniger thematisiert wird. In der ehemaligen DDR galt Antifaschismus als Staatsdoktrin, inklusive der Erzählungen, dass es »Nazis« – gemeint sind vor allem Täter im Nationalsozialismus – vornehmlich im Westen Deutschlands gebe und man sich deshalb nicht privat mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzen müsse. Dies führte zu einer schnellen Selbstentlassung aus der Verantwortung und der Reflexion der eigenen Biografie wie der eigenen Familie, die mit zu einer starken Tradierung von rechtsextremer und NS-verherrlichender Ideologie in Familien führte.

Das Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena hat zu den Kommunalwahlen und Landtagswahlen 2019 in Thüringen die Studie »Rechtsradikale Landnahme – Analyse des AfD-Wahlerfolgs zur Landtagswahl 2019 in den Thüringer Gemeinden« vorgelegt, die nachweist, dass die AfD besonders hohe Wahlergebnisse dort erzielte, wo dies zuvor bereits der rechtsextremen NPD gelang. Die Wissenschaftler Davide Cantoni, Felix Hagemeister und Mark Westcott hatten schon nach der Bundestagwahl 2017 festgestellt, dass in Gemeinden, in denen 1933 die NSDAP stark gewählt wurde, heute die AfD Erfolg hat. Ihre Analyse »Persistence and Activation of Right-Wing Political Ideology« zeigte 2019, wie sich in Gemeinschaften rechtsextreme Einstellungen tradieren, wie sie – auch über lange Zeit – Bestand haben können. Und dass bei einer Verfestigung und Weitergabe rechtsextremer Einstellungen noch etwas sehr Banales dazukommt: ein rechtsextremes Angebot im Lebensumfeld.

Hier kommen Inhalte im Internet erschwerend ins Spiel. Denn damit ist Rechtsextremismus für jeden jederzeit online verfügbar – ob nun nach entsprechenden Texten gesucht wird oder nicht. Der reine Kontakt mit rechtsextremer Ideologie führt nicht dazu, dass Konsumenten überzeugt werden, doch gerade in stetiger Wiederholung kommt es zu einer Normalisierung antidemokratischer Narrative, vor allem wenn diese Erzählungen in Teilen des Internets dominant werden – auch weil sich Gegenstimmen zurückziehen.

Eine Erfahrung des Rückzuges haben Menschen 2019 auf Twitter unter dem Hashtag #baseballschlaegerjahre geschildert, die nach der Wende in Ostdeutschland junge Heranwachsende waren. In den östlichen Bundesländern der 1990er Jahre bestimmte – vor allem in vielen ländlichen Regionen – Rechtsextremismus inklusive Mode, Musik und Demonstrationen oder Gewalt die Jugendkultur, oft war es sogar das Einzige im Angebot. In der Folge kamen die meisten Jugendlichen hier mit rechtsextremer Ideologie in Kontakt, hörten Musik mit antisemitischen, rassistischen und demokratiefeindlichen Texten – selbst wenn sie politisch nichts damit anfangen konnten. Offensichtlich radikalisierte dies nicht alle Jugendlichen, führte aber zum Rückzug nichtrechter Jugendlicher. Eine weitere Verfestigung gerade von Ideologie-Fragmenten wie Rassismus, Antisemitismus oder Islamfeindlichkeit in den Regionen folgte. Rechtsextremismus als Ideologie, propagierte Menschenverachtung gegen Feindgruppen und Gewalt bis zum Mord erschienen als legitimes »Problemlösungsmittel«. Die Hemmschwelle von der Hetze zur Tat sank.

(…)

Radikalisierung im Internet

Mit Rechtsextremismus online in Kontakt zu kommen, ist heute also einfacher als je zuvor, selbst wenn die Nutzer nicht gezielt danach suchen. Aber welche Folgen hat dieser Kontakt? Wie vollzieht sich die Radikalisierung vom gelegentlichen Konsumenten rechtsextremer Inhalte zum überzeugten Ideologen oder gar zum Gewalt- oder Attentäter?

»Blake« hat seinen Weg in dem »Iron March«-Forum recht ausführlich dargestellt: »Ich hörte mir ein paar Reden von Jonathan Bowden an und die berühmte ›Flüsse von Blut‹-Rede von Enoch Powell.« Bowden (1962 – 2012) war ein englischer Konservativer, der sich zum Rechtsextremen bei der British National Party wandelte. Nach seinem Tod geistert er als Kultfigur im Internet. Powell (1912 – 1998) verstand sich als Konservativer, warnte aber 1968 in der Rede vor einer Einwanderungswelle, denn die außereuropäischen Einwanderergruppen würden mehr Nachwuchs als die Einheimischen bekommen. Diese Positionen führten bei »Blake« anfänglich dazu, »lange Zeit Nationalist« zu bleiben. Bis ihm »ein 16-Jähriger über Oswald Mosley erzählte« habe. »Er schickte mir ein Video von Mosley über Multikulturalismus. Sekunden nachdem ich auf ›Play‹ gedrückt hatte, war ich völlig fasziniert. (…) Ich war aber noch nicht so weit, Faschismus zu akzeptieren. Ich hörte von einer rechtsextremen Gruppe in den Nachrichten, der Identitären Bewegung, ich schaute mir Videos an und war beeindruckt, was die Gruppe tut. (…) Ich war erfüllt von dem Wunsch, ›die Straßen zu erobern‹, wie Martin Sellner immer sagt. Ich machte mir einen Gab-Account und begann, mich mit anderen zu vernetzen, die auch so denken. Dort wurde ich auf einen Alt-Right-Discord-Server eingeladen«, schreibt er und erklärt zum Ende seines Weges, Adolf Hitler nicht mehr abzulehnen.

Ein nach eigenen Angaben deutscher Nutzer des »Iron March«-Forums berichtet: »Ich mochte anfangs keine Nazis (wegen der BRD-Propaganda). Ab 2010 änderte sich mein Leben. Mein Bruder wurde mit einem Schraubenzieher attackiert, nur weil er Deutscher war. (…) Meine Freunde und ich waren immer schon Trolle und machten Witze über alles, schwarzer Humor. Wir wurden oft auf Facebook wegen ›offensiven Inhalten‹ gesperrt und ich fragte mich: ›Warum darf ich solche Witze nicht machen?‹ Ich lernte, dass die Medien nicht alle Informationen veröffentlichen, die es gibt, und dass sie immer schlecht über Nazis schreiben. Also guckte ich mir die andere Seite an, die unterdrückte Seite. 2015 war ich schon rechts, hatte aber keinen Kontakt zu anderen. 2016 gründete ich dann mit anderen eine Gruppe, die ›Black Division‹. Und von der digitalen Welt ging es auf die materielle Straße: ›Wir gingen zu Demonstrationen (…) Wir machten unsere Heimatstadt zu einer ›national befreiten Zone‹.«

Der amerikanische Journalist Kevin Roose beschrieb in seinem Text »The Making of a YouTube Radical« am 8. Juni 2019 die Radikalisierung des amerikanischen Rechtsextremen Caleb Cain, der nach eigenen Angaben auf der Videoplattform YouTube nach Unterhaltung und Orientierung suchte und »in ein Alt-Right rabbit hole« gesogen wurde. Minutiös dokumentiert Roose, wie Cain als orientierungsloser Teenager und junger Erwachsener vor seinem wenig befriedigenden Offline-Leben ins Internet flüchtete und nach Hilfe suchte. YouTube empfahl ein Selbsthilfe-Video des kanadischen Talk- Show-Masters und selbsternannten »Philosophen« Stefan Molyneux, dessen Dating-Tipps viel mit Frauenfeindlichkeit zu tun hatten. Über YouTubes

Empfehlungen folgten rechtspopulistische, rechtsextreme und verschwörungsideologische Videos. Erst waren es ironisch verbrämte Inhalte, schließlich ganz offen rassistische und gewaltverherrlichende. In den meisten Videos ging es um Meinungsfreiheit und Antifeminismus, angeblich unterdrückte Wahrheiten und humorlos um »Social Justice Warriors«, einer abwertenden Bezeichnung für sozial Engagierte. Cain hatte den Eindruck, auf verbotenes Wissen gestoßen zu sein: »Es kam mir vor, als sei ich auf der Spur einer unbequemen Wahrheit. Das gab mir ein Gefühl von Macht und Respekt und Autorität.«

In den Berichten wird deutlich: Das Problem im Internet liegt nicht nur daran, dass es gezielte Ansprache durch rechtsextreme Akteure gibt. Es kommen auch Mechanismen im Aufbau des Internets und speziell von sozialen Netzwerken zum Tragen, die extreme Meinungen belohnen und zu ihrer Verbreitung beitragen. Die Algorithmen von Suchmaschinen und sozialen Netzwerken gelten als Geschäftsgeheimnis ihrer Betreiberfirmen, und so wissen ihre Nutzer viel zu wenig darüber, was ihnen präsentiert wird und warum. Sie können höchstens ahnen, dass sie dadurch eine verengte Weltsicht bekommen. Ob sie auch gezielt manipuliert werden und, wenn ja, von wem und wie, weiß aktuell nicht einmal die Wissenschaft – es gibt nur wenig Zugang für Wirkungsforschung.

Was haben soziale Netzwerke damit zu tun?

Im Bereich der Radikalisierung lässt sich zumindest festhalten: Soziale Netzwerke leben kommerziell davon, Menschen so lange wie möglich auf der Plattform zu halten. Dies geschieht nicht durch die Ausspielung besonders gut recherchierter Fakten oder respektvoller Diskussionen, sondern durch die bevorzugte Anzeige emotionaler oder skandalöser Äußerungen, Memes oder Posts, die viele Reaktionen und Interaktionen auslösen. Das können natürlich auch Posts sein, die Empathie und Solidarität hervorrufen, aber meist sind die erzeugten Emotionen Wut, Empörung und Widerspruch, hervorgerufen durch Provokation, Dramatisierung, Abwertung, Falschaussagen. Je mehr Kommentare und Reaktionen ein Post hervorruft – und sei es, weil er so verachtend und hasserfüllt ist –, desto mehr Reichweite bekommt er, desto besser wird er ausgespielt. Rechtsextreme Akteure, die das demokratische Zusammenleben in Deutschland (zer-)stören wollen, wissen das zu nutzen. Je nachdem, wo der Post platziert ist – etwa auf den Social-Media-Seiten reichweitenstarker Medien, Organisationen oder Parteien –, trägt auch eine mangelhafte, zögerliche oder nicht auf demokratische Debatten ausgerichtete Moderation der Seiten zur Verbreitung radikalisierender Inhalte bei.

Auf der Videoplattform YouTube beispielsweise konnten Forscher wie die amerikanische Techno-Soziologin Zeynep Tufekci eine grundlegende Radikalisierung als Prinzip im »Recommended Feed« erkennen, also in den Videos, die den Nutzern vorgeschlagen werden, nachdem sie ein Video angesehen haben. Es werden nämlich nicht nur ähnliche Videos zu den angesehenen Inhalten vorgeschlagen, sondern es sind immer weiter verschärfte Versionen des angesehenen Inhaltes, damit die User möglichst lange auf der Seite bleiben. So wird ein Nutzer von Jogging-Videos zu Marathon-Videos gelotst, von Videos über vegetarische Ernährung zu solchen über Veganismus. Leider funktioniert dies auch politisch, wie im Fall von Caleb Cain.

Der Zugang zu immer extremeren Materialien wird so nicht nur erleichtert, er wird zum explizit beworbenen Regelfall, weil er Teil eines Geschäftsmodells ist, das vermutlich keine politische Radikalisierung im Sinn hatte – aber bisher auch keine sichtbaren Gegenmaßnahmen für politische Inhalte ergreift.

Gefahrenpotenziale

Die demokratischen Gesellschaften sind längst mit international agierenden, online organisierten Rechtsterroristen konfrontiert, mit einem völlig neuen Tätertypus, ohne dass die »alten« rechtsextremen Tätertypen verschwinden. Der Attentäter von Halle, Stephan Balliet, ist ein Täter nach dem Prinzip des Akzelerationismus – der Beschleunigung bis zum Systemzusammenbruch – im Dienst der vorgeblichen »White Supremacy«. Er findet in der Online-Welt seinen Resonanzraum und Bezugsrahmen, spricht rechtsextreme Gleichgesinnte während der Tat an und hofft auf kommende durchschlagfähigere Nachahmer.

Doch 2019 gab es in Deutschland noch ein zweites Attentat mit großer öffentlicher Aufmerksamkeit: den Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU) im Juni. Auch in diesem Fall spielte das Internet eine zentrale Rolle, wurde Walter Lübcke doch zum Ziel rechtsextremen Hasses, nachdem zunächst Unbekannte ein Video von ihm online veröffentlicht hatten, in dem er sich für Geflüchtete und gegen Rassisten aussprach. In diesem Fall spielte sich die Radikalisierung des Täters jedoch offensichtlich anders ab – nämlich nicht vornehmlich im Internet. Zwar sorgte das Video von Lübckes Aussagen online für Empörung und Hass, aber für den Poster des Videos war das nicht genug. Tatsächlich war es der mutmaßliche Mörder Stephan Ernst selbst, der mit einem »Kameraden« das Video 2015 bei einer Bürgerversammlung in Lohfelden drehte. Als es aber online über Jahre bei der verbalen Empörung blieb, handelte der langjährig bekannte Neonazi selbst. Ernst hatte einschlägige Gewalt-Vorerfahrung, wurde unter anderem wegen eines Anschlags mit einer Rohrbombe 1993 auf eine Flüchtlingsunterkunft in Hohenstein / Taunus verurteilt und wegen eines Angriffs auf eine 1.-Mai-Kundgebung in Dortmund 2009. Das Schießen übte er bei einer Schützengruppe von Reservisten. Nach den bisher bekannten Ermittlungserkenntnissen des Generalbundesanwalts und laut antifaschistischen Recherchen von »Exif« war er ein »klassischer« Szene-Gewalttäter – mit einschlägigen Kontakten und nicht unbekannt für die Behörden. Auch Ernst tauschte sich nach 2015 in Chatgruppen mit anderen Rechtsextremisten über die Aussagen des späteren Opfers Lübcke zu Flüchtlingen aus. Mit rechten Inhalten aber kam Ernst nicht erst online in Kontakt.

Für zuvor nicht engagierte Menschen ist über das Internet aber ein Kontakt zu allen Formen des Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus niedrigschwellig möglich. Von strafrechtlich nicht zu beanstandenden alltagsrassistischen, schwarzhumorigen oder provokativen Angeboten führt ein wenig verschleierter Weg von Verlinkungen, Verweisen und Vernetzung bis in rechtsterroristische Zusammenhänge. Dies geschieht in der halböffentlichen oder privaten Kommunikation im »Dark Social«-Bereich der Messenger-Kommunikation, aber auch ganz öffentlich in Instagram-Stories von »Atomwaffen Division«-Fans oder über eines der zahlreichen Imageboards, wie es der Halle-Attentäter nutzte.

Problematisch ist dabei die Hilflosigkeit der Gegenstrategien. Das ganze Internet überwachen, wie es Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) forderte? Das ist utopisch, egal, wie viele Polizeikräfte dafür eingestellt werden. Den Unterschied zwischen einer geschmacklosen Provokation online und einer ernst gemeinten Bedrohung zu erkennen? Ist selbst mit tiefer Kenntnis der Materie, des Rechtsextremismus und der Onlinekultur nicht verlässlich und fehlerfrei möglich. Deplatforming, das Entfernen und Bannen rechtsextremer Akteure von Social-Media-Plattformen? Ist hilfreich, weil es Propagandisten Reichweite und Wirkungsmacht in die Gesamtgesellschaft einschränkt, kann aber zu rasanter Radikalisierung im »Dark Social«-Bereich führen, ohne dass es dafür bisher Konzepte zur Reaktion oder Bearbeitung von Betreiberseite oder Strafverfolgungsseite gibt. Genauso wenig gibt es bisher wirkungsvolle Sanktionen für die sozialen Netzwerke oder Gaming-Plattformen, die kaum oder gar nicht mit deutschen Strafverfolgungsbehörden oder Jugendschützern kooperieren und auch nicht so wirken, als hätten sie das in Zukunft vor, etwa das aus Russland stammende VK-Netzwerk oder der Messenger-Dienst Telegram.

So gilt online das Gleiche wie auch offline: Um rechtsterroristische Radikalisierungen möglichst flächendeckend erkennen zu können, braucht es eine digitale demokratische Zivilgesellschaft, die im Gefahrenfall weiß, wo und wie sie sich an Strafverfolgungsbehörden oder Unterstützungsstrukturen wenden kann. Das Meguca-Forum, in dem sich Stephan Baillet aufhielt, war selbst langjährigen Monitoring-Experten, die rechtsextreme Online-Aktivitäten beobachten, unbekannt und sicher auch den Strafverfolgungsbehörden. Ähnliches wird bei zukünftigen Attentätern der Fall sein. Wenn sich in dem Forum aber Menschen aufhalten, die sich in den forumstypischen Diskussionen auskennen und deshalb mitbekommen, wenn dort Dinge gepostet werden, die eine Gefährdung darstellen, ist dies die einzige Chance, im Vorfeld potenzielle Attentäter zu erkennen und geplante Taten zu verhindern. Dafür braucht es Meldestrukturen – bei den sozialen Netzwerken, bei den Strafverfolgungsbehörden oder, ganz unabhängig, vielleicht auch bei Aussteiger-Organisationen, die Beobachtungen ernstnehmen und überprüfen.

Bisher fehlen solche Meldestrukturen. In Polizeistationen werden Hinweise auf Online-Radikalisierungen bisher wenig ernstgenommen, auch aus Mangel an Schulungen und Sachkenntnis der Beamten. Spezialisierte Stellen für Hate Crimes in den Polizeistrukturen der Bundesländer fehlen. Erst nach dem Attentat von Halle wurde im November 2019 beim Verfassungsschutz ein »Hinweistelefon Rechtsextremismus« eingerichtet.

Mit der Unsicherheit dezentral organisierter Attentate rechtsextrem ideologisierter Täter werden demokratische Gesellschaften so lange leben müssen, wie es Rechtsextreme in der Gesellschaft gibt. Doch es können Angebote der Präventions- und Demokratiearbeit geschaffen werden, um Rechtsextremismus gesellschaftlich zurückzudrängen. Dies geschieht in Deutschland teilweise schon, allerdings regional recht unterschiedlich und mit fehlender materieller wie personeller Konsequenz.

Der Text ist ein gekürzter Auszug aus dem Buch

Andreas Speit, Jean-Philipp Baeck (Hrsg.):
Rechte Egoshooter.
Von der virtuellen Hetze zum Livestream-Attentat.
Berlin, März 2020
Christoph-Links-Verlag

208 Seiten
ISBN: 978-3-96289-076-6
https://www.christoph-links-verlag.de/index.cfm?view=3&titel_nr=9076

Mit Beiträgen von Sebastian Erb („Das Netz des Attentäters“), Roland Sieber („Terror als Spiel“), Veronika Kracher („Im Krieg gegen Frauen“),  Andreas Speit („Der Jude und die Weiblichkeit – zwei alte Feindbilder“), Andrea Röpke („Terror von rechts“), Simone Rafael („Vom Bildschirm zur Tat“), Jan-Paul Koopmann („Alles nur ein Spiel?“), Michael Wörner-Schappert („Recht gegen rechts“).

Mit freundlicher Genehmigung des Verlages!

Weiterlesen

juanflyer

Jugendarbeit 2×6 Punkte gegen Verschwörungsdenken

Empfehlungen für die Praxis (nicht nur) in der Jugendarbeit: Der Glaube an eine geheime Verschwörung „der Mächtigen“ ist sehr alt…

Von|
Eine Plattform der