Anfang Januar wurde der anonyme Aufruf „Strike Germany“ veröffentlicht. Relativ schnell kam dazu die Vermutung auf, dass es sich aufgrund des Tons des Aufrufs um eine Satire-Aktion handele. Zudem liegt die Streik-Webseite liegt auf einem Server auf den Bahamas. Die Flagge der Bahamas zeigt ein links angeordnetes Dreieck über drei Streifen. Haben die Initiator*innen von Strike Germany die Flagge mit der von Palästina verwechselt? Das ist natürlich ein (schlechter) Witz. Aber auch der Außenpolitik der Bahamas kann die Wahl des Servers nicht liegen. Das Commonwealth-Land gehört zu den 55 UN-Mitgliedstaaten, die Palästina nicht anerkennen. Die Wahl des Bahamas-Servers ist absurd. Es gibt einige andere Gründe, den Aufruf nicht ernst zu nehmen: zu holzschnittartig, zu populistisch, zu paranoid. Aber auf der anderen Seite hat der Text auch ganz reale Konsequenzen. Mehrere Acts habe ihre Teilnahme am CTM Festival für elektronische Musik in Berlin abgesagt und die bosnische Schriftstellerin Lana Bastašić trennte sich von ihrem deutschen Verlag.
Die Literarurnobelpreisträgerin Annie Ernaux, die queere Ikone Judith Butler und bis dato weitere 1400 Menschen unterzeichneten den Aufruf. Sie alle schließen sich dem Bestreiken deutscher Kulturinstitutionen an. Circa ein Viertel von ihnen leben in Berlin. Der Aufruf geht davon aus, dass „Maßnahmen“ gegen Antisemitismus der hiesigen Kultureinrichtungen „die freie Meinungsäußerung einschränken“ und „insbesondere den Ausdruck von Solidarität mit Palästina.“
Ein Aufruf im Kulturkampfmodus
Wenn es um Israel geht, sind die Kunst- und Kulturinstitutionen in Deutschland gespalten und fühlen sich unter Druck. Spätestens seit der Erklärung GG5.3 Weltoffenheit sehen sich viele unter einem Bekenntniszwang, der in ihrer Wahrnehmung durch die BDS-Resolution des Bundestags ausgelöst wurde. Für einige war der Antisemitismus auf der documenta fifteen noch ein Schock. Für andere war die Kunstausstellung ein Opfer provinzieller deutscher Erinnerungskultur. Es wurde so viel darüber geschrieben und alles immer wieder wiederholt.
Auch der „Strike Germany“- Aufruf bringt nichts Neues in die Debatte. Er folgt den Mitteln der BDS-Kampagne. Eine Unterstützung Israels bedeutet mit Boykott rechnen zu müssen. „Strike Germany“ sieht sich zudem nicht nur solidarisch mit „den“ Palästinenser*innen, sondern nimmt vor allem sich selbst als unterdrückt wahr. Dabei unternimmt der Aufruf nicht einmal den Versuch der Ausgewogenheit. Kein Wort etwa über den massiven Anstieg von Antisemitismus nach dem 7. Oktober, keine einzige emphatische Textzeile gegenüber Jüd*innen und Juden, keine Verurteilung des Hamas-Terrors. Der Aufruf ist in einem Kulturkampfmodus verfasst, der die Welt in Gut und Böse aufteilt. Auf der einen Seite Israel, die deutsche Staatsraison mit ihrer Erinnerungskultur, die Kunstinstitutionen, der Rassismus und die Zensur und auf der anderen Seite die Kunstfreiheit, die internationale Solidarität, die antiimperialistischen Befreiungsbewegungen. Diese holzschnitthafte Perzeption der Welt war bereits auf der documenta fifteen zu beobachten.
Die Unterzeichner*innen verweigern sich der Realität
Drei Forderungen stehen im Zentrum des Aufrufs. Die Unterzeichner*innen fordern die Kunstinstitutionen auf, „wenn es um Israel/Palästina geht“, eine „Kontrolle der politischen Einstellungen von Künstler*innen zu verweigern“. Zudem wird gefordert, dass die Kultureinrichtungen anstelle der IHRA-Arbeitsdefinition gegen Antisemitismus die Jerusalemer Erklärung gegen Antisemitismus als angeblich „präzisere Richtlinie“ übernehmen. Zuletzt fordern sie die deutschen Kulturinstitutionen auf, sich für die Aufhebung des 2019 vom Bundestag angenommenen Antrag „BDS-Bewegung entschlossen entgegentreten – Antisemitismus bekämpfen“ einzusetzen. Letzeres fand bereits 2020 durch die oben erwähnte Initiative GG5.3 Weltoffenheit statt. Die Befürchtungen waren damals, der Kampf gegen Antisemitismus würde israel-kritische Stimmen auf stumm schalten.
Spätestens auf der documenta fifteen wurde diese Befürchtung durch vielfache Beispiele widerlegt. Weder Kritik an Israel noch Antisemitismus selbst schien ein Auschlusskriterium für die Teilnahme zu sein. Das Expertengremium zur fachwissenschaftlichen Begleitung der documenta fifteen listet dazu die Beispiele in ihrem Abschlussbericht auf. Das Gremium orientiere sich dabei an einer „Minimaldefinition des israelbezogenen Antisemitismus“, der sowohl die IHRA-Arbeitsdefinition als auch die Alternativdefinition JDA zugrunde lag. Der Antisemitismus auf der documenta konnte im Bericht des Expertengremiums trotzdem dokumentiert werden.
Die Verfasser*innen des Aufrufs und mit ihnen seine Unterzeichner*innen legen einen ganz besonderen Schwerpunkt auf Ablehnung der IHRA, da diese in einem Zusatz den israelbezogenen Antisemitismus integriert, während die JDA definiert was nicht per se antisemitisch sei. Nun ist die Lebensrealität der meisten Jüd*innen und Juden sehr stark mit israelbezogenen Antisemitismus konfrontiert. Der Aufruf und mit ihm seine Unterzeichner*innen verweigern sich dieser Realität.
Nach dem 7. Oktober war es still
Nach dem Massaker und den Entführungen durch die Hamas am 7. Oktober 2023 war es auffallend still im Kunstfeld. Abgesehen von einzelnen Institutionen, wie etwa den Kunstsammlungen Chemnitz, gab es kaum Solidaritätsbekundungen für Israel. Zum Innehalten und zur Selbstkritik kam es in der Kunstszene nicht. Auch nicht als einzelne prominente Künstler*innen den Terror der Hamas verherrlichten und den Opfern mit Häme und Zynismus begegneten. Hier sei an den Instagram-Post der Künstlerin Emily Jacir – Ausstellungen im Whitney Museum, dem MoMA und der Biennale in Venedig – vom 7. Oktober 2023 erinnert. Unter einem Video, dass eine entführte israelische Zivilistin zeigte, schrieb sie: „Diese gefangengenommene Siedlerin sieht glücklich aus. Ich hoffe, sie geben ihr ein gutes palästinensisches Gericht zu essen.“ Ein am 19. Oktober erschienener offener Brief auf der Platform Artforum mit nunmehr über 8000 Unterschriften, der einen sofortigen Waffenstillstand forderte, war mit einem Kunstwerk von Jacir illustriert.
Populismus und Selbstviktimisierung sind keine ernsthafte Beschäftigung mit Antisemitismus
Der Aufruf von Strike Germany ist mit einigen populistische Behauptungen gespickt. Zum Beispiel sei der IDF-Einsatz gegen die Hamas ein „Angriff auf die Zivilbevölkerung“ oder in den deutschen Kulturinstitutionen gäbe es eine „reaktionären Welle“. Zudem fungiere die Erinnerungskultur in Deutschland als „repressives Dogma“, welche die Unterdrückung von Minderheiten verstärke. „Antizionistische Sichtweisen“ würden im deutschen Kulturbetrieb zensiert. Dass Antizionismus seit Jahrzehnten als antisemitische Chiffre fungiert, wird ebenso ignoriert, wie überhaupt eine ersthafte Beschäftigung mit den Formen des Antisemitismus.
Von Berlin bis zu den Bahamas: Deutschland ist zum Zentrum eines internationalen Kulturkampfes geworden, mit dem Ziel den Antisemitismusbegriff einzuebnen. Auf einer Tagung im Haus der Wannseekonferenz zu Antisemitismus in Kunst und Kultur, rief eine prominente Publizistin und Historikern aus dem Publikum dem vornehmlich jüdischen Podium sinngemäß und vehement zu: Was Antisemitismus ist, bestimme ich.
Dieses deutsche Selbstbewusstsein ist es wohl, was sich die Macher*innen von Strike Germany von den Kunstinstitutionen wünschen. Bis es soweit ist, canceln sich die Unterstützer*innen des Aufrufs vorauseilend selber. Wenn man behauptet ausgeschlossen zu werden, tritt man dafür den Beweis an, indem man sich selbst ausschließt. Diese Form von Abwehr und Selbstviktimisierung wird im Kunstfeld immer wieder einer ernsthaften Beschäftigung mit Antisemitismus vorgezogen.