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Vor 30 Jahren Der rassistische und rechtsextreme Brandanschlag in Solingen

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Demonstration in der Wernerstraße 81, wenige Tage nach dem Anschlag 1993. (Quelle: Wikimedia Commons)

In der unteren Wernerstraße 81 stehen heute fünf Kastanienbäume. Eigentlich sollte hier das Haus der Familie Genç stehen. Es ist die Nacht drei Tage vor Beginn des Opferfestes, Kurban Bayramı. Hatice Genç, damals 25 Jahre alt, trifft letzte Vorbereitungen und ist als einzige der 18 Familienmitglieder noch wach. Während sie damit beginnt, Gardinen zu waschen, hört sie den ersten Knall.

In derselben Nacht sind drei junge Männer auf einem Polterabend zu Gange. Nachdem sie dort andere Gäste rassistisch angreifen, müssen sie die Party verlassen. Wenig später treffen sie auf den 16-jährigen Christian R. Zusammen lassen sie ihrem mörderischen Rassismus freien Lauf. Nur einige Stunden zuvor zeigte Christian R. von seinem Kinderzimmer auf das Haus der Familie Genç und äußerte seine Bewunderung für die rechtsextremen Pogrome in Rostock und den Brandanschlag in Mölln. Das Haus seiner türkischen Nachbarn wollte er schon länger brennen sehen.

Nach dem Knall entdeckt Hatice Genç durch das Schlüsselloch lodernde Flammen im Flur. Sie weckt ihre Schwiegermutter Mevlüde Genç. Zu diesem Zeitpunkt haben die Flammen schon große Teile der Wohnung ergriffen. Mevlüde und Hatice konnten sich durch das Fenster retten. Die Kinderzimmer kann Hatice Genç nicht mehr erreichen. Der 15-jährige Bekir, springt aus dem Fenster. Er wurde zu diesem Zeitpunkt tot geglaubt, überlebte mit schweren Brandverletzungen. Er muss wochenlang beatmet werden. 36 Prozent seiner Haut sind zerstört.

In Solingen ermordeten vier Neonazis fünf junge Frauen und Kinder: Gürsün Ince (27), Hatice Genç (18), Gülüstan Öztürk (12), Hülya Genç (9) und Saime Genç (4).  Sie verbrannten oder starben beim Versuch sich mit einem Sprung aus dem Fenster vor den Flammen zu retten. 14 weitere Familienmitglieder wurden teils lebensgefährlich verletzt: Knochenbrüche und starke Verbrennungen. Hatice und Kâmil Genç verloren ihre beiden Töchter, Mevlüde Genç zwei Enkelkinder, zwei Töchter und ihre Nichte. 30 Jahre später sagt Hatice Genç im Interview mit Birgül Demirtaş: „Ich warte, bis es hell wird, und kann erst nach sieben Uhr morgens nur für ein paar Stunden schlafen. Ich schlafe meistens tagsüber. Dieses Trauma wird nie enden, erst mein Tod wird mich davon erlösen.“

Rassismus als Grundstimmung 

Solingen passierte nicht im luftleeren Raum.  Am 6. September 1990 wird Amadeu Antonio in Eberswalde von einem Mob Neonazis ermordet.  Vom 17. bis zum 23. September 1991 herrscht in Hoyerswerda Pogromstimmung.  Am 22. und 26. August 1992 werfen Neonazis unter Applaus von Anwohner*innen Molotowcocktails auf das Sonnenblumenhaus in Rostock. Eine rassistische Ausschreitung reiht sich an die andere. Eine Realität, die gerne als eine ostdeutsche abgetan wurde. Doch kurz nach Hoyerswerda warfen jugendliche Skinheads in Hünxe (NRW) Brandsätze auf eine Asylunterkunft. Die Kinder einer libanesischen Familie werden schwer verletzt.  Dann die Brandanschläge in Mölln (1992) und Solingen (1993).

Begleitet wurden die Morde und Ausschreitungen von einer sich immer weiter zuspitzenden Debatte um das Asylrecht in Deutschland. Von der sogenannten Mitte der Gesellschaft und der Boulevardpresse bis zu den rechtsextremen Parteien wurde gegen Geflüchtete und Migrant*innen gehetzt. Rassistische Parolen wie „Asylantenschwemme“ waren der Grundton eines hemmungslosen Rassismus. Drei Tage vor dem Anschlag in Solingen hatte der Bundestag mit der „Drittstaatenregelung“ das Asylgrundrecht de facto abgeschafft. Damit sollten die rassistischen Gewaltausschreitungen, die durch die verantwortungslos geführte Debatte um Asyl befeuert wurden, eingedämmt werden.

Gerichtsprozess

Neben dem traumatischen Verlust ihrer Familie beginnt für die Familie Genç schon bald ein zäher Gerichtsprozess.

Fehler bei der Ermittlungsarbeit erschwerten das Verfahren.  Die Spurensicherung reinigte den Tatort zu früh. Die Rekonstruktion der Tat war deshalb besonders schwer. Die extrem rechte und rassistische Motivation der Täter rückte medial in den Hintergrund.

Schon vor Prozessbeginn und der Urteilsverkündung versuchten die Familien zweier Täter, ihre Söhne als unschuldig darzustellen. Unterstützt werden sie von Presse und Öffentlichkeit. Während der Hauptverhandlung veröffentlichte die ARD eine Dokumentation, in der die Mutter des Angeklagten Felix K. zur Prime Time beteuerte, dass ihr Sohn ganz gewiss kein Mörder sei.  Deutschland glaubt an die Unschuld deutscher Täter. Gerüchte machten die Runde, die der Familie unterstellen, den Anschlag selbst herbeigeführt zu haben. Auch 30 Jahre später wird in Solingen noch über vermeintliche Vorteile für die Betroffenen geraunt: Seit dem Anschlag würden die Hinterblieben ihre Einkäufe beim Solinger Aldi nicht bezahlen müssen und ihr neues Haus habe einen Swimmingpool inklusive Hubschrauberlandeplatz, natürlich „vom Staat“ finanziert. Ein klassischer Fall von Verschwörungserzählungen und Täter-Opfer Umkehr.

Nach 127 Verhandlungstagen wurde im Herbst 1995 das Urteil im Solingen Prozess gegen die vier Angeklagten, zur Tatzeit zwischen 16 und 23 Jahren alt, vor dem Oberlandesgericht in Düsseldorf verlesen. Die Täter wurden zu Haftstrafen zwischen zehn und 15 Jahren verurteilt. In drei Fällen nach Jugendstrafrecht. Mittlerweile sind sie alle aus der Haft entlassen. Die Hinterbliebenen des Brandanschlags, Familie Genç, werden hingegen für immer mit den traumatischen Folgen der Tat leben müssen. Christian R., der Einzige der Täter, der sein Geständnis bis heute nicht zurückgenommen hat, blieb der Szene treu. Er gehört 2010 einer Neonazikameradschaft an und musste 2005 erneut für kurze Zeit in Haft, weil er auf einer rechtsextremen Demonstration in Hamm den Hitlergruß zeigte.

Rechtsextreme Kampfsportschule

 Die vier Täter waren Teil der örtlichen rechten Jugendszene, die sich zunehmend mit organisierten Neonazi-Gruppen verbandelte. Ein wichtiger Knotenpunkt für Rechtsextreme in Solingen war die Kampfsportschule „Hak Pao“. Die Täter, mit Ausnahme von Christian R., der ohnehin als Außenseiter im Täter-Quartett gilt, trainierten dort. Vermutlich war die Kampfsportschule ausschlaggebend für ihre Kontakte in die organisierte Neonaziszene und ihre stetige Radikalisierung. Bernd Schmitt bildete sie dort im Nahkampf aus. Angegliedert an den rechtsextremen „Deutsche Hochleistungskampfkunstverband“ (DHKKV) als Vorfeldorganisation der bundesweit vernetzten neonazistischen „Nationalistischen Front“,  machte Schmitt seine Kampfsportschule in Solingen zur Anlaufstelle für die extreme Rechte aus dem ganzen Bundesgebiet. Neonazis konnten sich dort ungestört für den „Straßenkampf“ stählen. Wer beim DHKKV ausgebildet wurde, war dann meist Personenschützer oder Ordner bei Neonazi-Veranstaltungen. Der Vorsitzende der „Nationalistischen Front“, Meinolf Schönborn, wollte mit der Hilfe von Schmitt „Nationale Einsatzkommandos“ (NEK) aufbauen. Neonazistische militante Strukturen konnten sich verfestigen durch die von Schmitt geleitete „Hak Pao“ als Treffpunkt prominenter Neonazis aus der ganzen BRD, durch rechte Jugendliche aus dem Örtchen und durch militante Neonazis, die sich als Nachfolger der SA verstanden.

Der V-Mann

Als Wende im Solingen-Prozess gilt die Selbstentarnung von Bernd Schmitt als V-Mann des Verfassungsschutzes NRW. Wichtig war dem Verfassungsschutz, der Schmitt nach offiziellen Angaben ab April 1992 regelmäßig frequentierte, anscheinend die Nähe ihres Informanten zum NF-Funktionär Schönborn. Die Zielobjekte von V-Mann Schmitt sollten sowohl die NF als auch der Aufbau der NF-Schlägertruppe „Nationale Einsatzkommandos“ sein.  Inwiefern Schmitts Rolle in Zusammenhang mit dem Brandanschlag in Solingen steht, wirft bis heute Fragen auf. Vor Gericht musste er eingestehen, dass er einen Teil der Täter kurz nach dem Anschlag vor Hausdurchsuchungen gewarnt hatte. Auch transportierte er wenige Tage nach der Tat mehrere Kisten, gefüllt mit Material, aus der Kampfsportschule. Einen Lieferwagen hielt die Polizei zwar an, dieser konnte aber weiterfahren. Als einen Monat später der vermutliche Kisteninhalt, Akten um die 55.000 Blatt, beschlagnahmt wird, sind darunter Lageskizzen von Wohnung migrantischer Menschen und Anleitungen zum Bau von Brandsätzen.

Neben diesen Verstrickungen und dem offensichtlichen Wissen des Verfassungsschutzes über die rechtsextremen Umtriebe in Solingen, war Schmitts Sportclub eine Neonazi-Kaderschmiede für Jugendliche – was offenbar als Nebeneffekt hingenommen wurde, weil dem Verfassungsschutz die so generierten Informationen wichtiger waren.

Die Verfassungsschutzakten unterliegen einer 30-jährigen Sperrfrist. Die Dokumente zu V-Leuten unterstehen indes der höchsten Geheimhaltungsstufe. Das erschwere eine Aufklärung, wie Hendrik Puls in einem Beitrag zum Solinger V-Mann im Sammelband „Solingen, 30 Jahre nach dem Brandanschlag“ anmerkt.

Warnzeichen und ein fast vergessenes Opfer

Der Brandanschlag in Solingen war nicht der erste rassistische Mord in Solingen, der in Verbindung mit der Kampfsportschule „Hak Pao“ steht. Am Morgen des 27. September 1992 stirbt der 20-jährige Şahin Çalışır auf einer Autobahn bei Meerbusch. Als er mit seinen Freunden an jenem Abend nachhause fährt, wird ihr Auto von einem Golf, in dem drei Männer sitzen, bedrängt. Nachdem der Wagen auf die Leitplanke trifft und ins Schleudern gerät, wird Şahin Çalışır beim Versuch vor den Fahrern des Golfs, rechtsextremen Hooligans, zu fliehen, von einem anderen Auto überfahren. Der Beifahrer des Hooligan-Autos trainierte wie drei der Täter des Solinger Brandanschlags bei „Hak Pao“. Lediglich der Fahrer des Golfs wird im Oktober 1993 zu einer Haft von 15-Monaten verurteilt. Ein rassistisches Motiv sei nicht erkennbar, so das Urteil.

„Dumme-Jungen-Streiche“

2021: In der Nacht vom 19. auf den 20. Oktober fliegen zwei Brandsätze auf das Wohnhaus einer deutsch-türkisch stämmigen Familie in Solingen. Eine Bewohnerin konnte den Brand löschen und erlitt dabei leichte Verletzungen. Die Bewohner*innen sind traumatisiert. Der Anschlag erinnert unweigerlich an den 29. Mai 1993.

Die Tatverdächtigen sind 13 und 14 Jahre alt. Die erste Pressemitteilung der Polizei erwähnt die Nationalität der Familie nicht und unterschlägt damit eine mögliche rassistische Motivation des Anschlags. Im nahen Umkreis des Tatorts wird eine OP-Maske mit aufgemalten Hakenkreuzen und SS-Runen gefunden. Die Wuppertaler Staatsanwaltschaft spricht lediglich von einer „jugendlichen Dummheit“. Birgül Demirtaş merkt in „Solingen, 30 Jahre nach dem Brandanschlag“ an, dass der entpolitisierende Stempel „Dumme-Jungen-Streich“ auch 1993 nach dem Anschlag auf die Familie Genç kursierte.

Knapp 30 Jahre nachdem Gürsün Ince (27), Hatice Genç (18), Gülüstan Öztürk (12), Hülya Genç (9) und Saime Genç (4) von Neonazis ermordet wurden, wird hierzulande weniger von „Dumme-Jungen-Taten“ gesprochen – jetzt sind es die sogenannten Einzeltäter, die rechtsextreme Gewalttaten vermeintliche allein begehen – egal, wie viel Netzwerk drumherum ermittelt werden kann.

Aber Rassismus und rechtsextreme Ideologie sind nie nur Hirngespinste kleiner Jungs oder einsamer Wölfe gewesen. Die Täter töten, weil Alltagsrassismus ihnen den Eindruck vermittelt, mit der Gewalt auch eine Mehrheitsmeinung auszuführen.

Foto: Wikimedia

 

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