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„Warum sollen wir dein Buch lesen?“ „Nicht Kopfschmerzen bearbeiten, sondern den Türrahmen“

Ausschnitt des Covers von Miriam Burzlaffs Buch "Selbstverständnisse Sozialer Arbeit" (Quelle: Beltz-Verlag)

Diesmal mit: Miriam Burzlaff

Das Buch: Selbstverständnisse Sozialer Arbeit. Individualisierungen – Kontextualisierungen – Policy Practice. Eine Curriculaanalyse. Zweite und aktualisierte Auflage.

Erschienen 2022, 276 Seiten, € 39,95

In dieser Reihe stellt des Projekt „ju:an – Praxisstelle antisemitismus- und rassismuskritische Jugendarbeit“ Bücher vor, die für Fachkräfte der Offenen und anderer Jugendarbeit interessant und wichtig sind. Dabei sollen die Autor:innen die Leser:innen selbst davon überzeugen, das Buch für das Team anzuschaffen – und auch zu lesen 😉   Die Bücher sind alle natürlich auch für andere Interessierte eine bereichernde Lektüre!

Die Interviews führt das Team von der ju:an-Praxisstelle antisemitismus- und rassismuskritische Jugendarbeit.

Liebe Miriam, Du ist aktuell Professorin für Methoden Sozialer Arbeit. Was hast du mit Offener Jugendarbeit zu tun?

Den größten Teil meiner Praxiserfahrungen habe ich in der Kinder- und Jugendhilfe gesammelt. Ich habe in einer Kita gearbeitet, die ich mit aufgebaut habe, und ich war an einer Schule tätig. Dann war ich auch eine Zeit lang die Leitung der ju:an-Praxisstelle der Amadeu Antonio Stiftung. Seitdem kooperieren wir bei Angeboten zu antisemitismus- und rassismuskritischer Sozialer Arbeit, z. B. im Rahmen von Seminaren für Studierende. Ich denke, es ist leicht zu erkennen, dass die Arbeit bei ju:an mich und auch mein Buch geprägt hat. Zum Beispiel habe ich versucht, so zu schreiben, dass es konkrete Anknüpfungspunkte „für die Praxis“ gibt. Mir ist es ein besonderes Anliegen, Theorie- und Praxisperspektiven miteinander zu verbinden und immer wieder der Frage nachzugehen, was theoretische Überlegungen für das konkrete Handeln bedeuten können.

Warum sollte man dein Buch lesen?

Weil es um Policy Practice geht! Das Konzept kommt aus den USA und ist in Deutschland noch ziemlich neu. Aber es hilft Sozialarbeiter:innen, sich nicht nur an Einzelfällen abzuarbeiten, sondern sich für eine gerechtere Gesellschaft einsetzen zu können. Letztlich möchte ich mit dem Buch ein Selbstverständnis Sozialer Arbeit stärken, das über die Arbeit mit Einzelnen hinausgeht und auch Ansätze auf struktureller Ebene umfasst. Und zwar in Form eines Engagements in Policy Practice. Policy Practice bedeutet, als Sozialarbeiter:innen Einfluss auf die Gestaltung von Politiken zu nehmen – mit der Zielperspektive grundlegender(er) gesellschaftlicher Veränderungen zugunsten von Gerechtigkeit. Natürlich gibt es auch hier viele Sozialarbeiter:innen, die sich schon lange für gerechtere Verhältnisse einsetzen. Bei Policy Practice jedenfalls ist die Frage zentral, warum überhaupt etwas zu einem Problem geworden ist bzw. was passieren muss, damit dieses auf lange Sicht gelöst ist. Damit geht der Blick weg  von Personen als Einzelne hin zu den gesellschaftlichen Strukturen. Metaphorisch gesprochen geht es nicht darum, bei Kopfschmerzen lediglich Schmerzmittel zu verteilen, um Symptome zu lindern. Vielmehr gilt es zu ergründen, warum bestimmte Menschen immer wieder an Kopfschmerzen leiden. Und wenn sich herausstellt, dass sich manche Personengruppen ständig ihre Köpfe am „Türrahmen“ stoßen, der symbolisch steht für die Politiken, die ihren Alltag beeinflusst, dann zielt ein Engagement in Policy Practice darauf ab, ein Problem „an seinen Wurzeln“ zu packen und den Rahmen der Bedürfnisse der Menschen entsprechend (um)zugestalten.

Policy Practice ist übrigens nicht mit Parteipolitik zu verwechseln. Vielmehr sind mit dem Begriff Politiken jegliche Absprachen und Regularien – von etablierten Umgangsweisen einer bestimmten Einrichtung bis hin zu (inter-)nationalen Gesetzen – gemeint, die in einem bestimmten Kontext herrschen. So sind z.B. die gesetzlichen Bestimmungen des SGB VIII als Politiken zu verstehen. Aber auch wenn Kita-Kinder einen Mittagsschlaf machen müssen, handelt es sich um eine Politik, eben die „Schlaf-Politik“ dieser Kita. Ausgehend vom Zusammenhang von Sozialer Arbeit und Gerechtigkeit/Social Justice dreht sich mein Buch um genau dieses Thema.

Eine weitere Frage, der ich in dem Buch nachgehe, ist übrigens die folgende: Auf welchen Norm- und Normalitätsvorstellungen basieren Curricula für Soziale Arbeit? Hintergrund dieser Frage ist eine diskriminierungskritische Perspektive. Dann fällt auf, dass auch in Curricula für Soziale Arbeit Diskriminierungen reproduziert werden. Etwa basieren einige Curricula auf einer Logik, laut welcher es „normal“ sei, dass Sozialarbeiter:innen Angehörige der (christlichen) Mehrheitsgesellschaft seien und selbst keine Migrationserfahrung hätten. Eng damit verbunden ist die Konstruktion von Migration als ein Problem – ein Problem, das Interventionen Sozialer Arbeit als erforderlich erscheinen lässt. Diese Normsetzungen können wir hinterfragen. Anders ausgedrückt regt das Buch dazu an, Selbstverständlichkeiten zu überdenken und sich der Norm- und Normalitätsvorstellungen, die (nicht nur) das eigene Denken und Handeln beeinflussen, bewusst zu werden sowie diese kritisch zu hinterfragen.

Was hat dich selbst motiviert, das Buch zu schreiben?

Im Mittelpunkt des Buches stehen Fragen von Gerechtigkeit/Social Justice und deren Realisierung. Dieses Thema beschäftigt mich, seitdem ich denken kann. In der Sozialen Arbeit sind wir laut unserem ethischen Kodex dazu aufgefordert und verpflichtet, auf mehr Gerechtigkeit hinzuwirken. Das ist eine große, teilweise auch widersprüchliche, Aufgabe. Und ich frage mich immer wieder, wie das in der Praxis möglich ist. Im Zentrum steht deshalb im Buch das ganz konkrete Handeln von Sozialerarbeiter:innen, das auf mehr Gerechtigkeit zielt. Um in Policy Practice engagiert sein zu können, brauchen Studierende der Sozialen Arbeit aber das hierfür notwendige Wissen. Da gibt es in Deutschland eine sehr große Lücke. Ich würde gern zur Schließung der Lücke beitragen. Inspiration hierfür habe ich übrigens von David G. Gil erhalten. Gil war ein jüdischer Sozialarbeiter, der in Österreich geboren und vor den Nationalsozialist:innen geflohen ist, bis zu seinem Tod lebte er in den USA. Er hat insgesamt die Entwicklung der Sozialen Arbeit stark beeinflusst und z. B. ein Buch geschrieben, das „Gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung. Strategien und Konzepte für Sozialarbeiter“ heißt. Dieses Buch hat mich sehr geprägt. Davon abgesehen ist es mir ein Anliegen, die Beiträge von Juden:Jüdinnen zur Entwicklung Sozialer Arbeit sichtbarer zu machen. Denn dies ist etwas, das oft verschwiegen und unsichtbar gemacht wird.

Was findet sich nur in deinem Buch und nirgendwo anders?

Eine sehr intensive Auseinandersetzung mit der Frage, wie Gerechtigkeit/Social Justice tatsächlich realisiert werden kann. Illustriert mit konkreten Handlungsmöglichkeiten. Wie gehe ich es an, meine Anliegen zu Gehör zu bringen bei Treffen mit Entscheidungsträger:innen, etwa beim Jugendhilfeausschuss? Es lässt sich nachlesen, wie solche Treffen so vorbereitet werden können, dass Anliegen und Forderungen möglichst gehört werden und überzeugen.

Darüber hinaus handelt es sich um das erste deutschsprachige Buch, das umfangreich in Policy Practice einführt. Letztendlich ist mein Buch auch ein Plädoyer dafür, Politik und Soziale Arbeit eng zusammenzudenken, statt: Politik und Gesetze hier, Soziale Arbeit da. Das spiegelt sich auch in Curricula für Soziale Arbeit wider, die ich ja analysiert habe, um zu erfahren, inwiefern das Studium zu einem Engagement in Policy Practice befähigt. Ein Ergebnis meiner Arbeit ist, dass dies durch das Studium nicht ausreichend gefördert wird. Dass Fachkräfte der Sozialen Arbeit allerdings nicht als Akteur:innen verstanden werden, die Politiken aktiv (mit-)gestalten, steht im Widerspruch zur internationalen Definition und zu den ethischen Prinzipien Sozialer Arbeit.

Apropos ethische Prinzipen Sozialer Arbeit: Es gibt noch etwas Anderes, das sich in meinem Buch findet: Und zwar eine diskriminierungskritische Interpretation des ethischen Kodex aus der Perspektive von Social Justice und Diversity – einem Bildungskonzept, das ursprünglich von Leah C. Czollek, Gurdrun Perko und Heike Weinbach entwickelt und dann von Czollek und Perko zusammen mit Corinne Kaszner und Max Czollek modifiziert wurde. Hintergrund hierfür jedenfalls war, dass ich den Ethikkodex Sozialer Arbeit als Analyserahmen für die Interpretation meiner Forschungsergebnisse nutzen wollte, diesen aber, aufgrund seiner Abstraktheit, zunächst einmal inhaltlich fundieren musste. Denn was eigentlich bedeuten Begriffe wie Partizipation, Solidarität oder Gerechtigkeit? In meinem Buch habe ich mich auf die Suche nach Antworten begeben. Was bedeutet es konkret, als Sozialarbeiter:innen solidarisch zu sein? Es geht darum zu überlegen, welchen Beitrag ich als Einzelne:r leisten kann sowie – und das vor allem – einmal zu ergründen, was als Kollektiv möglich ist.

Warum gelingt Jugendarbeit besser, wenn man die Ideen aus deinem Buch verfolgt?

Das Buch liefert eine gute Grundlage dafür, noch mal über das eigene professionelle Selbstverständnis nachzudenken. Und es stärkt Sozialarbeiter_innen, die sich gegen Diskriminierung bzw. für Gerechtigkeit einsetzen. Ich würde sagen: Wenn man das Buch gelesen hat, gelingt (nicht nur) Jugendarbeit besser, weil es eine fundierte Argumentationsgrundlage dafür liefert, warum ein Einsatz für Gerechtigkeit und ein Engagement in Policy Practice als integrale Bestandteile Sozialer Arbeit zu verstehen sind, und es zeigt auf, wie dies gelingen könnte.

Etwas, was du noch loswerden möchtest?

Ich weiß, dass akademische Texte oft schwer verständlich sein können. Deshalb war es mir ein Anliegen, dass mein Buch möglichst zugänglich ist und dass es einen deutlichen Bezug zur Praxis gibt. Dies scheint, zumindest in Teilen, gelungen zu sein: Denn ich habe die Rückmeldungen von Leuten „aus der Praxis“ erhalten, dass das Buch verständlich und wichtig ist, da es ein kritisches Selbstverständnis Sozialer Arbeit stärkt und verdeutlicht, wie wichtig ein Einsatz für grundlegende gesellschaftliche Veränderungen ist – auch wenn sich das mit den Arbeitsbedingungen nicht immer leicht vereinbaren lasse. Außerdem seien die Beispiele und aufgezeigten Handlungsoptionen für ein Engagement in Policy Practice sehr hilfreich, da klar werde, was ganz konkret gemacht werden kann, um sich gegen Diskriminierung bzw. für gerechtere Verhältnisse einzusetzen. Über dieses Feedback habe ich mich sehr gefreut. Und noch was: Wer Lust hat, sich zu den Themen des Buches auszutauschen oder mir eine Rückmeldung dazu zu schicken, kann sich gerne bei mir melden: burzlaff@hs-nb.de

Miriam Burzlaff… kurze! Personenbeschreibung

Miriam Burzlaff ist Sozialarbeiterin (MA) und Sozialarbeitswissenschaftlerin. Aktuell forscht und lehrt sie als Professorin für Methoden Sozialer Arbeit mit Schwerpunkt Beratung am Fachbereich Soziale Arbeit, Bildung und Erziehung der Hochschule Neubrandenburg. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Politik, Ethik und Professionalisierungsprozesse Sozialer Arbeit. Ihr Fokus liegt insbesondere auf Policy Practice, Social Justice und Diskriminierungskritik. Außerdem hat Miriam langjährige Erfahrungen in der politischen Bildung und in der Kinder- und Jugendhilfe, z.B. als Leitung der ju:an Praxisstelle.

 

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