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Was macht das Internet mit der politischen Sozialisation von Jugendlichen – und was machen sie mit ihm?

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Die Zahlen sprechen für sich: 80 % der Kinder zwischen 10 und 13 Jahren nutzen das Internet. 57 % der deutschen Internetnutzer sind bei Facebook. Der norwegische Attentäter Anders B. Breivik radikalisiert sich in islamfeindlichen Foren im Internet und die Piratenpartei bekommt in Berlin 8,9 % der Wählerstimmen. Das Internet und besonders die sozialen Netzwerke sind als Orte der Meinungsbildung, der Öffentlichkeit und des Sozialverhaltens Alltag geworden. Aber verändert das die Menschen vor den Maschinen? Und ihre politische Entwicklung? Dieser Frage ging am Montag in Berlin die Tagung „Personale und soziale Identität und virtuelle Öffentlichkeit“ der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Philosophisch-politischen Akademie (PPA) Bonn nach.

Allein oder aktiv?
Der Einführungsvortrag „Gemeinsam allein?“ hielt Prof. Dr. Christoph Bieber, Politikwissenschaftler der Universität Duisburg. Vereinzelt der Mensch vor dem Laptop, hält sich nur noch in Kreisen auf, die denken wie er selbst und zieht sich komplett ins Private zurück, weil er keine sozialen Erfahrungen mit anderen teilt und keine Auseinandersetzungen mit anderen mehr hat? Oder ist das Gegenteil der Fall, vernetzt das Internet die unterschiedlichsten Menschen und gibt ihnen gemeinsamen Einfluss? Für beide Theorien gibt es seit den achtziger Jahren vielfältige Für- und Widersprecher.

Eines machte Christoph Bieber in seinem Vortrag klar: Um eine Auseinandersetzung mit dem Leben im Internet kommen Pädagoginnen und Pädagogen nicht mehr herum, weil es für Jugendliche eine Selbstverständlichkeit ist. Sie leben mit dem und im Internet, finden es selbstverständlich, nicht nur real an einem Ort zu sein, sondern über das Internet immer zugleich auch wo anders. Sie genießen die Macht, die sie als ProduzentInnen haben, sind aber auch manchmal müde, weil es Zeit und Energie kostet, in den sozialen Netzwerken dabei zu sein. Denn das nimmt wirklich einen nicht unbedeutenden Teil ihres sozialen Lebens ein, beschreibt die Amerikanerin Sherry Turkle. Die Forscherin beobachtet, dass die Jugendlichen gerade in den sozialen Netzwerken Bestätigung und Unterstützung suchen, wenn sie unsicher sind, wie sie ihre Identität entwickeln wollen.

Einfluss auf persönliche Entwicklung und politische Sozialisation
Die Kommunikation über die sozialen Netzwerke und die digitale Mediennutzung beeinflussen aber nicht nur die persönliche Entwicklung, sondern auch die politische Sozialisation. Aber was passiert dabei? Dafür gibt Christoph Bieber verschiedene Beispiele. So gibt es Studien, die belegen, dass das Internet jungen Menschen einerseits oft die Initialzündung gibt, sich mit politischen Themen auseinander zu setzen. Andererseits haben die Jugendlichen Angst davor, dass ihr Engagement Spuren im Netz hinterlässt, die sie vielleicht später bedauern.

Breivik in der Echokammer
Und wer kommuniziert mit wem im Internet? Ein oft diskutiertes Phänomen sind die „Echokammern“: Die Echokammer-Theorie von Cass R. Sunstein besagt, Gruppen tendierten im Internet dazu, mit Gruppen zu kommunizieren, die eine ähnliche Meinung vertreten wie sie. Gleichgesinnte reden miteinander, dadurch verstärkt und polarisiert sich die Meinung, weil sie von den Mitdiskutanten getragen und argumentativ weiter untermauert wird. Allerdings hat die Kommunikation in der Echokammer wenig Einfluss auf anders denkende Gruppen. Schlimmstenfalls – denn nicht immer muss so eine Einstellung etwas Positives sein – funktioniert dies wie beim norwegischen Attentäter Anders B. Breivik. Er radikalisierte sich in islamfeindlichen Internetcommunities, bis er zur Waffe griff und 77 sozialdemokratische Jugendliche und Erwachsene ermordete, die nicht in sein rechtes Weltbild passten.

Neue Streitkultur nötig
Hier führte die Verschärfung des Kommunikationsklimas, die im Internet allgemein zu beobachten ist, zu einer tödlichen Konsequenz. Das zeigt, wie nötig es ist, für das und im Internet eine neue Streitkultur zu entwickeln. Aktuell schreien sich die Diskutierenden hier oft eher die Meinungen ins Gesicht, als sich auf die Suche nach Lösungen für Probleme zu machen.

Gemeinsam Dinge erreichen, Kompetenzen entwickeln
Ein positiveres Beispiel des „Gemeinsam aktiv“-Seins ist der Erfolg der Piratenpartei, die Offenheit und Transparenz verspricht, nicht zuletzt mittels Online-Kommunikation, die eine erweiterte Öffentlichkeit ermöglicht. Aus der Welt der Jugendlichen benennt Christoph Bieber den Online-Fankult um Stars wie Justin Bieber als schulendendes Instrument der Gemeinschaftsbildung und Teilhabe. Teenager finden etwa unter den anderen Millionen Justin Bieber-Fans externe Impulse und positives Feedback, werden angeregt, ihre Online-Medien kreativ und aktiv zu nutzen, um ihre Begeisterung auszuleben – und lernen etwas über ihre eigene Kraft, wenn Millionen Fans die Online-Marketing-Strategien von Großkonzernen über den Haufen werfen.

Für einen pädagogischen Umgang hieße das im Optimalfall, die Kompetenzen aufzugreifen, die sich Jugendliche auf diesen und anderen privaten Wegen in den Online-Medien erarbeitet haben – und dafür sorgen, dass die „Möglichkeitsräume“ im Internet auch allen zugänglich sind – aber auch mit Bedacht und werteorientiert gestaltet werden.

Sind die Jugendlichen im Medienbereich nicht kompetenter als die LehrerInnen?
Im Anschluss ging es im Workshop von Professor Bardo Herzig, Erziehungswissenschaftler von der Universität Paderborn, um die Frage, wie denn nun eine adäquate Medienpädagogik aussehen könnte. Die aktuelle JIM-Studie zeigt, dass für die 12- bis 19-Jährigen die Beschäftigung mit Medien die liebste Freizeitbeschäftigung ist. Und dabei steht an erster Stelle das Handy, mit dem sich 80 % der Jugendlichen täglich beschäftigen, und an zweiter Stelle mit 63 % das Internet – und im Internet sind 70 % der Jugendlichen täglich auf sozialen Netzwerken.

Dabei, so legt Herzig da, bietet das Internet den Jugenlichen Raum und Material zur Identitätsbildung. Sie konsumieren, um mitreden zu können, spezialisieren sich in ihren Hobbies und Kompetenzen, nutzen das Internet als Lebensraum, etwa in Fantasie-Spielwelten oder über Chats, präsentieren sich in Blogs oder sozialen Netzwerken oder probieren sich künstlerisch und technisch als GestalterInnen aus. Die aktiveren Formen werden allerdings vornehmlich genutzt, wenn die Jugendlichen einen höheren Bildungsgrad haben.

Was heißt eigentlich Medienkompetenz?
Ziel einer guten Medienkompetenzarbeit müsse es also sein, so Herzig, die Jugendlichen in die Lage zu versetzen, Medien sachgerecht, selbstbestimmt, kreativ und soziale verantwortlich zu nutzen. Wer mit Jugendlichen über Handy-Nutzung spreche, könnte und sollte dabei auf rechtliche Aspekte (wen darf ich fotografieren und veröffentlichen?) genauso eingehen wie auf ethische Aspekte (Was macht das, wenn ich Gewalttaten und Mobbing publiziere?), wirtschaftliche Aspekte (Wie komme ich aus meinem Klingelton-Abo wieder heraus?), soziale Aspekte (Mit wem schreibe ich mir, und wie?) und technische Aspekte (ist Handy-Strahlung gefährlich?). Denn: Medienhandeln erfordert Kompetenzen, die über die funktionale Bedienung der Geräte hinausgeht.

Wer mit Medien technisch umgehen kann, geht mit ihnen noch lang nicht wertorientiert und intelligent um. Da dies aber das Ziel sein müsse, schlussfolgerte Bardo Herzig, brauchen Jugendliche keine immer wieder diskutierten „neuen Schutzphilosophien“ für das Internet – der normale Jugendschutz reicht dort völlig. Jugendliche sollten vielmehr unterstützt werden, sich als aktiv handelndes Subjekt zu begreifen, dass für sein Handeln intellektuell und sozial-moralisch einstehen kann.

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