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Wehrhafte Demokratie Birlikte trotz Unwetters: Wir stehen zusammen

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Den Anfang machte eine gemeinsame Schweigeminute – Gänsehaut, als mehrere zehntausend Menschen den Opfern rechter Gewalt gedachten. Im Anschluss ergriff (der damalige) Bundespräsident Joachim Gauck das Wort. Das Staatsoberhaupt zeigte sich begeistert vom „Zusammenstehen der vielen”, die sagen: „Ja, das ist unsere Heimat.” Birlikte sei ein Appell, um die Offenheit der Gesellschaft zu stärken – „hier in diesem Viertel und im ganzen Land!“ Gauck erinnerte auch an die Opfer des NSU: „Wir fühlen mit denen, die an Körper und Geist verletzt wurden.“ Er appellierte: „Wir schenken denen, die Gewalt und Hass verbreiten, nicht unsere Angst.“ Es gehe um ein „Land, in dem wir ohne Angst verschieden sein können“. Jeder könne und müsse dazu im Alltag seinen Beitrag leisten – indem er etwa nicht über einen rassistischen Witz lache. In dem Zusammenhang sei Birlikte auch überaus wichtig: „Birlikte beantwortet den Hass der wenigen mit dem Mitgefühl und der Solidarität der vielen“, so der Bundespräsident.

Auf Joachim Gauck folgte ein Auftritt, der zu dem Anlass und bei dem Ort nicht fehlen durfte: Die „Bläck Fööss” gaben „Unsere Stammbaum” mit der „AG Arsch huh, Zäng ussenander!” zum Besten – die Kölsche Hymne über Vielfalt und Toleranz. Trotz der sengenden Hitze fielen viele Zuschauer*innen  lauthals in den Refrain mit ein.

Für viele im Publikum war der nächste Auftritt eine Riesenüberraschung: Die „Fantastischen Vier” eroberten die Bühne. Smudo rief dazu auf, Rechtsextremismus immer entschieden entgegen zu stehen: „Gegen Rassismus helfen keine Antibiotika, sondern nur regelmäßiges Engagement!“ Songs wie „Ernten, was wir säen“ und „MfG” brachten das schwitzende Publikum zum Tanzen.

Ein Zeichen gegen Rassismus und Nazis

Nicht minder umjubelt waren der Auftritt der auf Kurdisch singenden türkischen Sängerin Aynur sowie die gemeinsame Show von Eko Fresh und Brings. Angesichts der ganz besonderen Stimmung auf dem Freigelände an der Schanzenstraße ist es kein Wunder, dass sich Meral Sahin von der IG Keupstraße überwältigt zeigt: „Ich freue mich, dass so viele Menschen ein Zeichen gegen Rassismus und gegen Nazis setzen!“ Im Anschluss eine weitere Überraschung: Mit einer Videobotschaft grüßte Lukas Podolski Birlikte aus dem WM-Trainingslager der Deutschen Nationalelf in Brasilien: „Wir sind im Trainingslager, aber mit den Herzen auch bei Euch.“

Nach dieser überraschenden Grußbotschaft sorgte die Kölner Rockband „Kasalla für tosenden Applaus im Publikum – nicht nur mit ihrer Musik, sondern auch mit einer eindringlichen Botschaft Richtung Neonazis: „Nur weil wir friedlich sind und keine Bomben bauen, heißt das nicht, dass wir keine rote Linie haben, die nicht überschritten werden kann!“ Ebenso eindrücklich war die Botschaft des folgenden Redners: „Hier spricht ein Oldie —das muss gesagt werden, denn von 1933 bis 1945 habe ich im Gefängnis gelebt, das hieß Nationalsozialismus und rechte Gefahr“, so Alfred Neven DuMont, Herausgeber des „Kölner Stadt-Anzeigers“. Dieses rechte Gefängnis wollten wir nicht mehr, daher müssten wir zusammenstehen. Die Deutschen hätten zwar aus ihrer Vergangenheit gelernt und seien Demokraten geworden, doch was sei mit den Menschen „außerhalb der Festung Europas“, fragte Neven DuMont: „Die Frau, die mit ihrem Kind aus Syrien zu uns kommt ist genauso unsere Schwester. Lasst diese Menschen rein, wir müssen uns dazu verpflichten und für diese Menschen da sein.“

Im Anschluss an den mitreißenden Appell ergriff der Journalist und langjährige „Spiegel”-Chefredakteur Stefan Aust das Wort: Er kritisierte die Arbeit der Ermittlungsbehörden bei den NSU-Verbrechen und hier vor allem den Verfassungsschutz scharf. Spätestens nach dem Anschlag in der Keupstraße hätten die Täter ein Gesicht gehabt. „Die Ermittler konnten wissen, wo die Täter zu suchen seien“, so Aust.

„Die Keupstraße ist überall“

Die folgenden Auftritte sorgten dafür, dass das Publikum wieder in Bewegung kam: Sertab Erener und Demir Demikan, bekannt als türkische Sieger des Eurovision Song Contests 2003, sorgte für Begeisterungsstürme vor der Bühne, ebenso die Comedy Show von Carolin Kebekus, die nachdenklich schloss: Integration sei keine einseitige Sache, „auch wir müssen unsere Herzen öffnen“, so die Entertainerin. Multi-Kulti sei schon lange keine Vision mehr, „sondern Realität”. Danach übernahmen die Höhner gemeinsam mit der deutsch-italienisch-türkischen Rap-Band „Microphone Mafia“ die Bühne – auch sie mit einer eindeutigen Botschaft: „Die Keupstraße ist überall.“

Unterdessen erklärte Kölns (ehemaliger)  Oberbürgermeister Jürgen Roters (SPD) hinter der Bühne dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ hinter der Bühne, er könne sich eine Wiederholung von Birlikte durchaus vorstellen – nicht so groß wie an diesem Pfingstwochenende, aber: Es solle künftig in jedem Jahr eine besondere Veranstaltung zum Gedenken an den Nagelbombenanschlag in der Keupstraße geben.
Vor der Bühne brachten derweil Clueso, der Kölnische Kinderchor Wilmas-Pänz und Tommy Engel zusammen mit dem Jugendchor St. Stephan die Menschen zum Mitsingen. Donnernden Applaus gab es allerdings auch für kritischere Töne. So ging der Schauspieler, Autor und Kabarettist Serdar Somuncu hart mit den Feinden einer pluralistischen Gesellschaft ins Gericht: „Das müssen nicht immer Nazis sein. Das können auch Leute wie Sarrazin sein, oder solche wie Pirinçci, die früher Katzenbücher geschrieben haben – und es besser wieder tun sollten.”

Nach Somuncus klaren Worten folgte der Auftritt Wolfgang Niedeckens mit BAP – der Künstler, der sich schon seit Jahren gegen Rassismus und Rechtsextremismus engagiert, lobte das Publikum vor Ort: „Ihr hättet auch zum Baggersee fahren können, aber Ihr seid ja hier — vielen Dank dafür!“ Doch mitten in den Auftritt von BAP musste Moderatorin Sandra Maischberger, die bereits den ganzen Tag gemeinsam mit Fatih Çevikkollu durchs Programm geführt hatte, mit der schlechten Nachricht: „Ich habe den beschissensten Job der Welt.“ Wegen der akuten Unwetterwarnung müsse die Kundgebung abgebrochen werden. Angesichts des drohenden Starkregens und der angekündigten Orkanböen wäre die Lage auf dem Kundgebungsgelände zu gefährlich geworden. Die Veranstalter haben sich diese Entscheidung nicht leicht gemacht: Hinter der Bühne warteten noch Stars wie Peter Maffay und Udo Lindenberg auf ihren Auftritt. Wichtiger war allerdings, dass alle Besucher*innen das Gelände rechtzeitig verlassen konnten. So fand eine bewegende, unterhaltende, nachdenkliche und wichtige Veranstaltung, zu der über den Tag verteilt etwa 100.000 Menschen kamen, ein jähes Ende.

Was bleibt nun nach drei Tagen Birlikte? Hier bringt es stellvertretend für viele andere Aussagen und Kommentare ein Facebook-Nutzer auf der Birlikte-Seite auf den Punkt. „Das Wichtigste ist jetzt, jeden Tag daran zu denken, dass wir die Nazis bekämpfen!“

Dieser (leicht veränderte) Beitrag ist ursprünglich auf dem Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ erschienen (2002-2022).

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