„Es scheint hier im Kiez einfach dazuzugehören, ein negatives Bild über Israelis und Juden zu haben“ stellt ein Kreuzberger Jugendarbeiter im Gespräch mit „amira“ fest. „Wir wollen, dass Antisemitismus auch unter Menschen mit Migrationshintergrund abgebaut wird. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist, dass diese Arbeit auch von Migrationsverbänden mitgetragen wird“ sagte Eren Ünsal, Bundesgeschäftsführerin der Türkischen Gemeinde Deutschland am 16. September 2008. Anlass war die Präsentation der Studie „Antisemitismus unter Jugendlichen mit Migrationshintergrund“, die vom Projekt „amira“ des Vereins für Demokratische Kultur e.V. ins Leben gerufen wurde.
Der Stadtteil Kreuzberg ist in den letzten Jahren durch Berichte über Antisemitismus von Jugendlichen mit Migrationshintergrund häufiger in die Schlagzeilen geraten. Nun präsentierte „amira“ die Ergebnisse der Befragung von über 40 Jugendarbeitern und Vertretern von Migranten-Organisationen und Jugendclubs über ihre Erfahrungen und Auseinandersetzungen mit Antisemitismus. „amira“ stellte nicht nur die Ergebnisse vor, sondern realisierte gleichzeitig auch eine Tagung mit über 100 Besuchern zu dem Thema in der Alten Feuerwache in Berlin-Kreuzberg. Das Projekt „amira“ entwickelt Angebote zum Umgang mit Antisemitismus unter jugendlichen Migranten für die offene Jugendarbeit in Kreuzberg und vergleichbaren Stadtteilen.
Timo Reinfrank, Vorsitzender des Vereins für demokratische Kultur, stellte bei der Eröffnung des Programms klar, dass das Ziel dieser Tagung nicht die Skandalisierung des Antisemitismus in Kreuzberg sei, sondern die Unterstützung derjenigen, die sich dagegen engagieren. Der Berliner Integrationsbeauftragte Günter Piening hob besonders den Stellenwert dieses Themas für Berlin hervor. Berlin sei als Ort der Wannseekonferenz die Geburtsstätte der Shoa und deshalb für immer mit diesem Thema verknüpft. Er betonte den Stellenwert von Konzepten für die Jugendarbeit gegen Antisemitismus. Uwe Wunderlich vom Jugendamt Friedrichshain-Kreuzberg bemerkte, dass es bislang nur wenige Projekte gegen Antisemitismus in der Jugendarbeit gebe und deswegen „amira“ wegen seines Modellcharakters umso wichtiger sei.
Vorurteile stark verbreitet
Anschließend wurden vom „amira“ Projektleiter, Dr. Serhat Karakayali, und seiner Mitarbeiterin Susanna Harms die Ergebnisse einer Befragung von über 20 Jugendclubs und Migranten-Organisationen in Berlin-Kreuzberg über ihre Erfahrungen mit Antisemitismus vorgestellt: Fast alle Jugendclubs und Organisationen haben von Antisemitismus in ihren Einrichtungen berichtet. Dabei stellte sich heraus, dass „Jude“ als Schimpfwort in der Jugendsprache mittlerweile salonfähig geworden ist. Die Handlungsweise Israels im Nahostkonflikt wird pauschal auf alle Juden übertragen, teilweise ist es den Jugendlichen gar nicht bewusst, dass auch außerhalb Israels Juden leben. Äußerst virulent unter den Heranwachsenden sind verschwörungstheoretische Vorurteile über „die Juden“.
Antisemitismus als ‚Bindemittel‘
Die Bedeutung ihrer Aussagen ist den Sprecher*innen häufig nicht bewusst, antisemitische Äußerungen werden zumeist unreflektiert von Peer Groups und Familie übernommen. Antisemitismus funktioniert als identitätsstiftendes Bindemittel zwischen Jugendlichen verschiedener Herkunft und schafft gleichzeitig ein Gefühl von Gruppenzugehörigkeit. In vielen Fällen geht es auch einfach um Provokation, um das „Austesten von Grenzen und Reaktionen“.
Eigene Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen, z.B. in der Schule oder auf dem Arbeitsmarkt, werden durch Antisemitismus zum Teil kompensiert. Häufig kann auch eine „Opferkonkurrenz“ bei arabisch-stämmigen Migranten festgestellt werden. Dies äußert sich dann z.B. in Fragen wie „Warum wird immer nur das Unrecht an den Juden und nicht an den Moslems thematisiert?“ Tatsächlich sahen viele der Gesprächspartner*innen die schlechte soziale und ökonomische Stellung der Jugendlichen mit Migrationshintergrund sowie ihre mangelhafte Integration als zentrale Ursache für antisemitische Einstellungen an. In der Befragung wurde außerdem festgestellt, dass Antisemitismus oftmals auch eine Konsequenz aus fehlendem Kontakt mit Juden ist.
Deshalb wurden von den interviewten Pädagog*innen mehr interkulturelle Begegnungen gefordert, um Vorurteile abzubauen. Interessant ist auch die Tatsache, dass antisemitische Einstellungen bei Jungen und Mädchen unterschiedlich stark ausgeprägt sind. In der Regel werden Mädchen als weniger antisemitisch wahrgenommen. Von einigen Interviewpartner*innen wurde dies auf geschlechtsspezifische Unterschiede zurückgeführt, in denen sich eine traditionelle Geschlechterrollenverteilung widerspiegelt. Mädchen mit migrantischem Hintergrund seien insgesamt zurückhaltender und hätten nicht gelernt, ihre Meinung zu äußern.
In der anschließenden Diskussion wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass Antisemitismus ein gesamtgesellschaftliches Problem in Deutschland sei und nicht nur ein spezielles Problem bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Birgit Rommelspacher, emeritierte Professorin und Rechtsextremismusforscherin, lobte die Studie. Sie verwies darauf, dass immer Gefahr bestehe, die deutsche Mehrheitsgesellschaft könne den eigenen Antisemitismus ausblenden, wenn sie über den Antisemitismus der vermeintlich „Anderen“ spricht. Darauf erwiderte Dr. Karakayali von „amira“, Antisemitismus sei „kein monolithischer Block“ sondern habe vielfältige Erscheinungsformen. Um diese Erscheinungsformen des Antisemitismus effektiv in ihrem Kontext bekämpfen zu können, müsse man „die Teilgebiete beleuchten“. Vier Workshops boten anschließend die Möglichkeit, einzelne Fragestellungen zu vertiefen.
Alle gesellschaftliche Akteure gefordert
Die Teilnehmer*innen zogen in der Abschlussdiskussion ein Resümee und gaben Ausblicke auf die weitere Zusammenarbeit. Als Fazit der Tagung forderte Astrid Messerschmidt „Handlungskonzepte für die pädagogische Praxis“. Sie verlangte den „Fokus auf die Pädagogen und Multiplikatoren statt auf die Schüler“ zu legen, da Sozialarbeiter und Lehrer oftmals nur unzureichend über das Thema informiert seien. Die Bundesgeschäftsführerin der Türkischen Gemeinde Deutschland, Eren Ünsal, sprach sich dafür aus, Sensibilisierung für die Diskriminierung seiner selbst und anderer zu schaffen. Sie forderte „alle gesellschaftlichen Akteure in den Diskurs“ einzubinden, sowohl die Vertreter von Minderheiten als auch die der Mehrheitsgesellschaft. „In einer Einwanderungsgesellschaft muss man sich mit den verschiedenen Formen von demokratiegefährdenden Einstellungen auseinandersetzten“ formulierte es Günter Piening. Izabella Wieczorek vom KinderJugendKulturZentrum Alte Feuerwache Kreuzberg lobte die Reflektion, die im Vordergrund stand und wünschte sich von den Besuchern, diese Haltung an die Jugendlichen weiterzugeben. Andres Nader von der Amadeu Antonio Stiftung stellte noch einmal heraus, das es egal sei, „ob jemand Herkunftsdeutscher oder mit Migrationshintergrund ist.“ Verantwortung dafür, „Menschenfeindlichkeit jeder Art“ abzulehnen, würden schließlich alle tragen.
Bernhard Steinke
Mehr unter: www.amira-berlin.de, ein Projekt des Vereins für Demokratische Kultur in Berlin e.V.
Dieser Beitrag ist ursprünglich auf dem Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ erschienen (2002-2022).