Nach dem Zufallsprinzip waren Bürger aus dem Telefonbuch ausgesucht worden, im Rathaus der thüringischen Stadt zweieinhalb Tage mit Experten über ihre eigenen Wahrnehmungen von Rechtsextremismus und Rezepte dagegen zu diskutieren. Die erarbeiteten Empfehlungen wurden nun Geras Bürgermeister Norbert Vornehm übergeben und sogleich auf der Homepage Geras veröffenlicht. Sie gelten künftig als Handlungsleitfaden für die Stadtverwaltung. Als Helfer fungierte die Friedrich Ebert-Stiftung…
Die Bürger*innen fordern in ihrem Votum u.a. die Ausstattung des Runden Tischs gegen Rechtsextremismus der Stadt Gera mit einer Personalstelle, die Einrichtung eines städtischen Preises für Zivilcourage und bürgerschaftliches Engagement sowie die Einrichtung einer Kontaktstelle von MOBIT, der Mobilen Beratung in Thüringen für Demokratie – gegen Rechtsextremismus in der Stadt.
Außerdem schlagen die Bürger*innen vor, die Umsetzung ihrer Vorschläge in einem Jahr durch eine weitere Bürgerkonferenz überprüfen zu lassen, was Oberbürgermeister Dr. Vornehm ausdrücklich als guten Vorschlag lobte.
Konkret heißt es u.a.:
„Die Formierung der rechtsextremen Szene macht demokratische Gegenstrategien erforderlich. Einer straff organisierten rechten Szene muss auf kommunaler Ebene ein breites Spektrum von Maßnahmen, die miteinander vernetzt sind, gegenüberstehen.
Ausgangspunkt:
„Das rechtsextreme Spektrum in Gera weist in den letzten Jahren ein zahlenmäßig gleich bleibendes Niveau auf. Dabei ist die NPD zum „Sammelbecken“ rechter Gruppierungen und zur treibenden Kraft rechter Aktionen geworden. Es formierte sich ein breites rechtsextremes und straff organisiertes Spektrum.
Dadurch ist in der Öffentlichkeit der Effekt der gefühlten Erstarkung dieser Szene erzeugt worden. Das Erscheinungsbild der NPD äußert sich heute vor allem durch ein betont bürgernahes und ein scheinbar gesellschaftsfähiges Auftreten. Mitglieder werden durch zielgruppenspezifische Angebote, wie Integration jugendlicher Erlebniswelten, geworben.
Durch geschicktes Einbeziehen von sozialen Brennpunktthemen gewinnt die Szene zunehmend mehr Interessenten und scheinbar mehr Attraktivität. Die Nutzung moderner Medien, wie Internet und gewerblicher Strukturen (Szeneläden, Kneipen, Versandhandel, etc.), trägt dabei zur Ausbreitung von Informationen rechtsextremen Gedankengutes auf legalem Wege bei.
Politik
Die anhaltende Politikverdrossenheit großer Bevölkerungsteile unseres Landes sowie die ungenügende Parteienzusammenarbeit spielen der Entwicklung der rechtsextremen Szene in die Hände. Die Zusammenarbeit der Parteien und anderer demokratischer Kräfte in Gera am Runden Tisch geben Hoffnung.
Aber wahrgenommene soziale Ungerechtigkeit, intransparente politische Entscheidungen und auf fehlende finanzielle Mittel gegründete „Sparentscheidungen“ unserer Stadt schränken die bürgerlich gelebte Demokratie erheblich ein.
Die sinkende Wahlbeteiligung, vor allem auf regionaler und kommunaler Ebene (Gera unter 50%) sowie die mangelnde Teilnahme am politischen Alltag begünstigen rechtsextreme Aktivitäten.
Fehlende Wirtschaftskraft in Gera
Geras großes Problem ist die Deindustrialisierung nach der Wende, in deren Folge eine hohe strukturelle Arbeitslosigkeit entstanden ist (Arbeitslosigkeit zwischen 16 und 19%). Trotz der hohen Abwanderung ist die Arbeitslosigkeit nicht gesunken. Dieser Mangel an Arbeit und persönlicher beruflicher Entwicklung schafft Perspektivlosigkeit und kommt rechten Argumenten entgegen. Hierzu gehören auch die extremen Einkommensunterschiede.
Jugendarbeit
Die kommunale Jugendarbeit unterliegt starken finanziellen Zwängen und kann dadurch nicht voll wirksam werden. Dies äußert sich in fehlenden personellen und sächlichen Ressourcen. Eine unzureichende Vernetzung stadtteilorientierter Angebote sehen wir als Ursache dafür, dass zu wenige Jugendliche erreicht werden.
Randgruppen
Soziale Randgruppen wie Ausländer, Behinderte, Homosexuelle als potentielle Opfer der rechtsextremen Szene finden aufgrund der unzureichenden Vernetzung zu wenige Anlaufpunkte. Sie sind bevorzugt potentiell gefährdet. Dies trifft ebenso auf Andersgläubige und politische Gegner zu. Es fehlt häufig die gelebte Integration.
Zuviel Handlungsfreiraum für rechte Organisationen
Obwohl rechtsextreme Parteien die Mittel des demokratischen Rechtsstaates für sich beanspruchen, wollen sie gleichzeitig die Abschaffung desselben.
Ausstiegsproblematik aus der rechten Szene
Die Expertenbefragung ergab, dass vom Verfassungsschutz Aussteigerhilfe nur für den harten Kern der rechtsextremen Szene angeboten wird. Für Ausstiegswillige gibt es keinerlei Programme.
Zur Schulstruktur
Das formulierte Ziel des Stadtrates ist es, große Schuleinheiten in Gera zu schaffen. Dadurch entsteht die Gefahr der Anonymisierung und Ausgrenzung von Schülergruppen.
Empfehlungen
Transparenz und Bürgernähe
Viel Unmut kann vermieden werden, wenn Politik transparent gestaltet wird. Alle Bevölkerungsschichten sollen angemessen einbezogen werden. Hierunter verstehen wir nicht nur jugendorientierte Interessen zu betrachten, sondern auch ältere Menschen mit ihren Lebenserfahrungen zu berücksichtigen.
Demokratie selbst erlebbar gestalten
In der Einbeziehung aller Bevölkerungsgruppen sehen wir die Chance zur Erhaltung und Festigung demokratischer Werte. Die Bürger unserer Stadt sollen angeregt werden, ihr Engagement für die Gemeinschaft zu erhöhen. Die Mitarbeit in bürgernahen Gremien – wie dem Runden Tisch – muss weiterhin gefördert werden. Der mündige Bürger wird gebraucht, er soll sich im demokratischen Leben wiederfinden. Die Gestaltung einer attraktiven Demokratie ist möglich.
Aufklärung
Wir sehen Aufklärung als zentralen Punkt in der Auseinandersetzung mit rechtsradikalen Ideologien. Neben der Familie hat die Schule eine wesentliche Verantwortung bei der Entwicklung von selbstbewussten, starken und demokratischen Persönlichkeiten. Eltern sollen in ihrer Erziehungsaufgabe durch Bildungsangebote gestärkt werden.
Die Kooperation von Schulamt und Stadtverwaltung bei der Gestaltung einer ausgewogenen und sinnvollen Schulnetzplanung ist unerlässlich. Der Ausbau der Ganztagsschulen sollte dabei eine zentrale Rolle spielen. Projekte von Schuljugend- und Schulsozialarbeit sollen weiter intensiv gefördert werden.
Konkrete Möglichkeiten sehen wir:
in integrativen Formen der Kleinkind- und Vorschulbetreuung
in Projekten zur Prävention und zur politischen Bildung in Schulen
in vielfältigen Freizeitangeboten, die als Ausgleich zu befürchteten nachteiligen Auswirkungen in den geplanten großen Schuleinheiten dienen sollen
in der Aufklärung über rechtsextreme Strategien und über „Hintermänner“ (z.B. rechtsextreme Netzwerke (Personen, Firmen, Veranstaltungen))
in Maßnahmen zur Förderung der Akzeptanz sozialer Minderheiten („Gera Bunt“, Schüleraustauschprojekte)
in Bildungsangeboten im dualen System innerhalb der Ausbildungsbetriebe
in der Schaffung von Bildungsangeboten für Ältere
in der Nutzung der Angebote der Volkshochschule
Die Parteien sollen sich gemeinsam gegen rechtsextreme Bestrebungen positionieren unter Einbeziehung der Bürger und auch neue Formen der Bürgerbeteiligung fördern (unsere Bürgerkonferenz ist dafür ein gutes Beispiel). Innerhalb der Bürgerkonferenz wurde deutlich, dass die kontinuierliche Projektarbeit mit finanzieller Absicherung enorme Bedeutung hat. Dabei geht es also nicht um punktuelle Profilierung von Politikern, sondern um tatsächliche und dauerhafte Unterstützung von bereits etablierten Projekten unter Einbeziehung der Bürger.
Auch die Lehrerschaft benötigt umfangreiches Rüstzeug, um rechtsextremen Tendenzen sicher und wirksam begegnen zu können. Dieses Wissen muss stetig aktualisiert und erweitert werden. Beispielhaft hierfür sind JUREGIO und MOBIT.
Wir fordern die Schaffung einer Anlaufstelle von MOBIT für Gera! Auch der Runde Tisch bedarf unserer Auffassung nach einer personellen Ausstattung.
Handlungsräume einschränken
Wir sind der Meinung, dass die Handlungsräume der rechten Gruppen eingeschränkt werden sollen. Mögliche Maßnahmen sind:
Öffentlichmachen von Identitäten der rechtsextremen Szene
Verweigerung der Vergabe von kommunalen Räumlichkeiten an rechtsextreme Gruppierungen
Bürgerschaftliches Engagement
Wir fordern eine stärkere Würdigung von Mut zur Zivilcourage durch die Verleihung eines Preises für bürgerschaftliches Engagement und Zivilcourage der Stadt Gera.
Förderung der Integrationsmöglichkeiten
Wir fordern die Stärkung der öffentlichen Träger der Kinder-, Jugend- und Seniorenarbeit durch finanzielle Unterstützung, um Integrationsarbeit vor Ort zu ermöglichen. Gleichzeitig fordern wir die gezielte Förderung von Sportvereinen, die sich gegen die rechtsextreme Szene engagieren.
Günstige Ansiedlungsbedingungen zur Schaffung von Arbeitsplätzen
Arbeitsplätze sind eine Grundvoraussetzung, die Lebenszufriedenheit zu erhöhen. Bürokratieabbau und bessere Vermarktung können die Ansiedlung ortsfremder Unternehmen begünstigen.
Dazu fordern wir die Organisation und Durchführung einer Bürgerkonferenz zur Frage der Schaffung von Arbeitsplätzen in Gera
Netzwerk
Die Stadt Gera soll einen Netzwerkkatalog erarbeiten, der das kooperative Miteinander der verschiedenen Vereine und Träger verbessern soll. Eine trägerorientierte Stadteilaufteilung trägt zudem zur effizienteren Sozialarbeit bei.
Schaffung eines Aussteigerprogramms
Wir fordern ein konkretes Programm für ausstiegswillige Mitglieder der rechtsextremen Szene. Hierfür sollen Ansprechpartner in kommunalen Ämtern und sozialen Vereinen benannt werden.
Außerdem ist auf der Internetseite der Stadt Gera ein entsprechendes Informationsangebot bereit zu stellen. Hierzu gehört die Benennung von Vereinen, Organisationen und Ämtern die dabei konkrete Hilfe anbieten sowie Informationen über Veranstaltungen und Projekte innerhalb der Stadt.“
Und Geras Neonazis? Machten die Bürgerkonferenz unbeabsichtigt populär, indem sie zum öffentlichen Protest dagegen aufriefen, so dass jede(r) Geraer Bürger*in auf dem Marktplatz sehen konnte: Wir haben hier ein Problem….
Das komplett Bürgervotum steht als Download zur Verfügung unter www.gera.de
Dieser Beitrag ist ursprünglich auf dem Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ erschienen (2002-2022).