„Der Mord an Mehmet Kubasik ist ein Rätsel. Für wen hätte sein Tod ein Signal sein sollen? Wer hätte den Mord als Symbol begreifen können?“ Diese und andere Fragen stellt sich der Journalist David Schraven über die NSU-Mordserie – und er stellt sie jetzt an die Öffentlichkeit. In Berlin wurde gestern eine Ausstellung zur neu erschienenen Graphic Novel „Weisse Wölfe – eine grafische Recherche über rechten Terror“ eröffnet. Gemeinsam mit Timo Reinfrank von der Amadeu Antonio Stiftung stellte Schraven das Comic vor und zur Diskussion.
Eröffnet wurde die Ausstellung in den Räumen des Correctiv Recherchebüros, dessen Leiter Schraven die Geschichte über zwei Jahre recherchiert und geschrieben hat. Aus Angst vor militanten Neonazis wollte in Berlin keine Galerie die Ausstellung zeigen. Dem Recherchekollektiv wurde sogar geraten, die Veranstaltung in ein Gefängnis zu verlegen, das sei der „sicherste Ort“. Schließlich stand die Veranstaltung unter Polizeischutz, jeder Gast wurde von den Veranstaltern am Eingang namentlich registriert. „Wir hatten eine Sicherheitsbesprechung mit der Polizei“, erklärt Schraven. Dabei warnten die Behörden vor Neonazis – aber auch vor möglichen linken Angriffen, weil das Comic rechtsextreme Symbolik verwendet. Absurd, finden die Veranstalter.
„Turner Diaries“ bilden die Vorlage für rechten Terror
Die Graphic Novel handelt auf einer Ebene von den Recherchen des Journalisten Schraven in der rechten Szene von Dortmund, seinen Treffen mit Informant_innen aus der Antifa und Neonazikreisen. Und erzählt im zweiten Handlungsstrang von der Radikalisierung eines seiner Dortmunder Informanten sowie dessen Verstrickungen in militante Neonazikreise um Blood & Honour, Combat 18 und bewaffnete Neonazi-Zusammenschlüsse, die bis nach Belgien reichen. Schließlich trat der Protagonist einer Terrorzelle bei und wurde damit Teil eines größeren Netzwerks, zu dem auch der NSU um Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe gehörte. „Taten statt Worte. Anschläge und Terror“, lauteten die Ziele des Protagonisten im Comic. Die selben Worte markieren den Beginn des NSU-Bekennervideos.
Im Comic bieten Auszüge aus den „Turner Diaries“ den Rahmen. Die Tagebücher erzählen die Geschichte einer fiktiven rechten Terrorzelle in den Vereinigten Staaten, deren Ideen eines rassistischen Kampfes laut Bundeskriminalamt zur Vorlage für die Köpfe des NSU und weitere militante Neonazis wurden. Das Buch ist in Deutschland seit 2006 indiziert. Die Geschichte wird weiter durch Akten des Verfassungsschutzes und Berichte aus dem NSU-Untersuchungsausschuss belegt. „In dem Comic ist eigentlich nichts fiktiv, alle Stellen, die sich nicht eindeutig belegen ließen, sind nur schraffiert gezeichnet“, erklärt Schraven.
„Kommunikation der Tat“ durch Anschläge von Neonazis
In den vergangen Wochen war vermehrt von rassistischen Anschlägen auf Flüchtlingsheime, Bedrohung von Journalist_innen und zuletzt vom Versand fingierter Flugzeugboardkarten an Jüdinnen und Juden one way nach Israel zu lesen. Die Amadeu Antonio Stiftung führt eine Chronik rechter Gewalttaten. „Und wir stellen fest, dass in der Zeit seit Pegida sowohl die rassistische Stimmungen als auch die rassistische Gewalt gegen Flüchtlinge deutlich zugenommen haben“, erklärte Timo Reinfrank bei der Ausstellungseröffnung. Und Schraven ergänzt, „Ich sage nicht, dass Pegida das Gleiche wie der NSU ist, aber im Hintergrund läuft das Gleiche ab, wie die Zahlen der Amadeu Antonio Stiftung zeigen. Vergangenes Jahr gab es beispielsweise 39 Brandanschläge auf Flüchtlingsheime, das ist ein eklatanter Anstieg!“ Schraven erkennt hier eine „Kommunikation der Tat“ und zeichnet Parallelen zu den NSU-Morden. „Vor dem Mord an Mehmet Kubasik gab es in Dortmund vier rechte Anschläge. Das ist für die richtigen Leute, die in dem Moment Einzeltäter sein mögen, wie ein Gespräch, in dem man sich gegenseitig bestärkt.“ Er befürchtet, dass derzeit das Ähnliches passiert, aber Politik und Öffentlichkeit blind dafür sind. So wie im Februar Neonazis in Dortmund mit Fackeln vor einem Flüchtlingsheim aufmarschierten oder zuletzt in Plauen (Sachsen) Neonazis gemeinsam mit Stadträt_innen durch eine Asylunterkunft gingen, sogar Fotos machten. CDU-Stadtrat Tobias Kämpf erklärte im Stern „Wir hatten in dem Moment alle Angst. Auch unser Bürgermeister wirkte eingeschüchtert.“ Niemand verwies die Rechten aus dem Heim.
Zentral im Comic: Dortmund als Neonazihochburg
„Das Comic zeigt eine Dimension des Rechtsterrorismus, die im Alltag und auch in der NSU-Berichterstattung oft untergeht. Und es konzentriert sich nicht nur auf Ostdeutschland“, antwortet Reinfrank auf die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Graphic Novel. Für ihn ist Dortmund aktuell der Hotspot der rechten Szene. Hier zeige sich, wie die Modernisierung des Rechtsextremismus funktioniere, während die Politik dessen Gefahr seit Jahren relativiere und bis heute nicht ernst nehme. Dortmunds Oberbürgermeister Ulrich Sierau (SPD) spielt sogar im Comic mit, als er nach einem rechtsextrem motivierten Mord in der Dortmunder U-Bahn erklärte, in Dortmund gebe es kaum Neonazis und wenn, dann reisten sie nur „wegen der günstigen Verkehrslage“ in die Ruhrmetropole. Wenige Tage nach dem Verbot der Kameradschaft „Nationaler Widerstand Dortmund“ schlug er auf einem Friedensfest in Dortmund-Dorstfeld, einem von Neonazis dominierten Stadtteil, vor, dass man Antifa-Aktivisten auch beim Ausstieg aus der linksradikalen Szene behilflich sein könne. Der Blog Ruhrbarone berichtete darüber und warf Sierau ein mangelndes Verständnis für die Lage in Dortmund und das Neonazi-Problem der Stadt vor, bei dem die Antifa-Aktivist_innen als einzige frühzeitig die Gefahr von Rechts erkannt hätten.
Graphic Novel bildet mehr als die Tätersicht ab
In der Graphic Novel ist die Tätersicht omnipräsent, die Perspektive von Betroffenen kommt nur am Rande vor. In der Reportage des rechten Terrors wird jedoch mehr als die Radikalisierung einer Einzelperson gezeigt. Die Autoren zeichnen die internationale Vernetzung gewaltbereiter Neonazis nach, die sich professionell ausbilden und mit Waffen handeln. Anders als der Fokus der polizeilichen Ermittlungen forscht das Buch den Kontakten zwischen Dortmunder Rechtsradikalen und dem NSU nach, der eben keine isolierte Gruppe gewesen ist. Gleichzeitig wird deutlich, dass teilweise dieselben Personen des terroristischen Netzwerks für den Verfassungsschutz tätig sind oder waren.
Reinfrank und Schraven denken beide, dass eine pädagogische Begleitung auf das Comic aufbauen kann und sollte. „In dieser könnte die Perspektive der faktisch und potentiell Betroffenen ergänzt werden“, meint der Experte von der Amadeu Antonio Stiftung. Das Comic als Medium bietet einen leichten Einstieg besonders für Jugendliche, um sich mit dem Geschehen des rechten Terrors und der Gefahr von Neonazis auseinander zu setzen. Gleichzeitig erlangt es eine andere Tiefe, als jeder NSU-Bundestagsbericht oder ein Sachbuch über Neonazinetzwerke, weil es mittels Bildern auch Momente erzählen kann, für die es keine Bilder gibt. Diese Bilder dienen aber einem tieferen Verständnis.
Aufregende Geschichte und grafischer Bericht über eine zu lange ignorierte Gefahr von militanten Neonazis
„Weisse Wölfe“ ist mehr als eine aufregende Geschichte, es ist ein grafischer Sachbericht über eine zu lange ignorierte Gefahr von militanten Neonazis, die eben nicht nur in abgehängten Regionen Ostdeutschlands, sondern bundesweit und international präsent ist. Damit ist das Comic für alle Altersschichten interessant und auch für Personen, die keine alteingesessenen Neonazi-Expert_innen sind. Beim NSU wurde zu lange weggeschaut, weil der Terror nicht die weiße Mehrheitsgesellschaft getroffen hat. Das Comic bietet als Teil der Aufarbeitung des NSU nun die Chance, genau zu beobachten, zu verstehen und rechten Terror nicht länger hinzunehmen. Auch in Dortmund.
Das Buch:
David Schraven & Jan Feindt: Weisse Wölfe. Eine grafische Reportage über rechten Terror.Berlin 2015
Kosten: 15 Euro
Erhältlich im Correctiv Shop:| correctiv.jimdo.com/oder bei Amazon.
Jetzt auch zum hier kostenlos online lesen.
Das Recherchebüro Correctiv:
Die Ausstellung zum Buch kann über Correctiv bezogen werden. Erste Station wird Dortmund sein.
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