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Welcher ist der Nazi?

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Am Samstagnachmittag marschieren sie durch Dresden, 3800 von ihnen; schweigend, Fahnen tragend und in Achterreihen. Ein seltsamer Zug, der sich da durch die Stadt windet. Rauchen ist verboten, Hände in die Taschen stecken auch, ein »allgemeines Volksgemurmel« ausdrücklich nicht erwünscht. Die Veranstalter wollen das so, das haben sie den Teilnehmern vorher schriftlich gegeben. »Würdevoll« soll es zugehen, wenn sie der Opfer des »Bomben-Holocausts« gedenken, wie die Rechtsextremen die Zerstörung Dresdens im Zweiten Weltkrieg am liebsten nennen. Die meisten halten sich daran. Nur an der einen Kurve direkt vor der Semperoper, in der Dutzende Polizeireihen es nicht schaffen, die Gegendemonstranten außer Sicht- und Rufweite zu halten, lachen die Rechten und recken ihre Fäuste und Mittelfinger in die Luft, den »Nazis raus!«-Chören entgegen.

Dann marschieren sie an der Semperoper vorbei. Drinnen wird an diesem Nachmittag Dornröschen gegeben, ein »Ballett in drei Akten mit Prolog«, draußen an der Fassade hängt ein Transparent, hoch wie zwei Stockwerke, mit einem Tucholsky-Zitat. Die Buchstaben am Anfang des Satzes wurden so klein geschrieben, dass sie aus der Entfernung kaum zu lesen sind. Nur ein paar Worte bleiben zu erkennen: »…die Kapitulation des Geistes«. Drinnen ist gerade Pause, an den Fenstern stehen die Besucher und schauen auf den Aufmarsch unten vor der Tür, die meisten von ihnen haben so etwas noch nicht gesehen. Sie wirken ratlos.

Auch die Rechten tragen Transparente. »1945? Das Ende der FREIHEIT!« steht darauf oder »Großvater, wir danken Dir!«, gemeint ist die Wehrmacht. Die meisten, die mitmarschieren, sind deutlich jünger als 30, und sie sehen nicht so aus, wie die breite Öffentlichkeit sich einen praktischen Nazi vorstellt. Einen praktischen Nazi: so einen, dem man direkt ansieht, was er für einer ist, auch wenn er gerade kein Transparent in der Hand hält. Einen, den man an Glatze, Bomberjacke oder Springerstiefeln erkennt.

Die rechte Szene will in die Mitte der Gesellschaft

Zu denen, die unten vorbeimarschieren, gehören auch die Jungen Nationaldemokraten ? die JN, das ist die Nachwuchsorganisation der NPD. Unter den Fahnen mit dem J, dem N und dem Pfeil nach rechts oben geht auch Michael Schäfer. Er ist 25, trägt einen Kapuzenpulli und kämmt seine Haare mit Gel nach hinten, er studiert Politikwissenschaften in Halle an der Saale, spricht eloquent, kann ruhig und flott argumentieren, und wenn er jemandem versehentlich auf den Fuß tritt, sagt er »pardon«. Er sieht nicht aus wie der Vorsitzende der größten bundesweiten Nachwuchsorganisation für Rechtsextreme. Insofern muss man sagen, dass Michael Schäfer ein sehr unpraktischer Nazi ist.

Das Thema Rechtsextremismus besteht in Deutschland meist aus Ortsnamen: Hoyerswerda, Mölln, Solingen, Guben ? die Medien berichten über Gewaltexzesse und dann wieder über etwas anderes. Aber zumindest hat sich in der deutschen Öffentlichkeit so ein gut funktionierender Ekelreflex etabliert, der bei den praktischen Nazis mit Bomberjacken, Glatzen und platt formulierten »Ausländer raus!«-Parolen anspringt. Allerdings weiß das auch die rechte Szene. In ihren freien Kameradschaften und rechtstextremen Parteien versuchen sie seit einigen Jahren, diesen Reflex zu unterlaufen, sie wollen unter dem Radar hindurch in die Mitte der Gesellschaft tauchen. Ihr Fußvolk auf der Straße kleidet sich unauffällig, sodass nur noch Eingeweihte die »Anti-Antifa«-Buttons und Labels der Bekleidungsfirma Thor Steinar zu deuten wissen. Ihre parteipolitische Vertretung von der NPD tritt derweil bei Wahlkämpfen mit neutraleren Protest-Parolen wie »Quittung für Hartz IV« an und geriert sich als Ökopartei. Gleichzeitig behaupten sie, dass es eine »Intellektualisierung« von Partei und rechter Bewegung gegeben habe.

Die NPD will Akademiker anlocken und Studenten, sie will Diskurse bestimmen und hat dafür eigens eine »Dresdner Schule« ausgerufen, von der sie behauptet, dass sie das rechte Gegenstück zur Frankfurter Schule um Adorno oder Horkheimer wäre. Irgendjemand muss ja auch die Denkarbeit für die Partei übernehmen, Programme entwickeln und die Strategien entwerfen, mit denen sie sich langfristig in der Gesellschaft etablieren will. Den typischen Rechtsextremen halten die meisten Menschen für einen schlecht ausgebildeten Wendeverlierer ohne Arbeitsplatz, aber mit Bierdose in der Hand. Das stimmt nicht mehr. Das hat so auch nie gestimmt. Die Rechtsextremen, sie brauchen Studierte und Studenten. Und einige davon haben sie schon.

Man muss sie kennen, um die Argumente widerlegen zu können

Wenige Tage nach der Demonstration in Dresden sitzt Michael Schäfer in der Bundeszentrale der JN in Bernburg, einer Kreisstadt mit 31000 Einwohnern, genau zwischen Halle und Magdeburg. Die JN hat etwa 400 Mitglieder bundesweit, ihre kleine Zentrale versteckt sich in einem muffigen Haus am Markt, als Sitzmöbel stehen Bierbänke darin, nebenan verkauft ein Laden Nazibedarf: T-Shirts mit »White Revolution«- oder »Good Night, Left Side«-Schriftzug, CDs, Fahnen, Schals. Im Flur stehen Bücher wie Volk. Nation. Rasse. Grundlagen der Biopolitik.

Schäfer ist ein vorsichtiger Gesprächspartner. Vor dem Interview hat er sich schriftlich versichern lassen, dass ihm alle Zitate dieses Textes vor Abdruck noch einmal vorgelegt werden. Trotzdem sagt er: »Wir sind ja froh, dass mal jemand mit uns redet anstatt immer nur über uns.« Dass man über die Rechtsextremen reden muss, versteht sich von selbst; aber muss man auch tatsächlich ? mit ihnen reden? Sollen sie überhaupt zu Wort kommen dürfen? In diesem Fall: ja. Ihre Argumente muss man kennen, um sie widerlegen zu können. Und man sollte ihnen zuhören, sorgfältig zuhören, um zu verstehen, was sich hinter ihren Parolen und Euphemismen verbirgt.

Das Interview mit Schäfer dauert zwei Stunden, und es ist nicht so, dass ihm in dieser Zeit irgendwann die Themen ausgehen. Die Politik seiner Partei verkauft er möglichst weich, und würde er nicht konsequent »Schlagballkappe« statt Baseballmütze sagen und »E-Post« statt E-Mail, würde er nicht doch hin und wieder ein Wort wie »Ausländerrückführung« in den Mund nehmen oder von der »Volksgemeinschaft« sprechen ? manchmal könnte er klingen, als sei er einfach nur sehr, sehr konservativ und vielleicht in der CSU. Als er dann später über Wirtschaftspolitik redet, klingt er manchmal, als sei er in der PDS. Tatsächlich hat er Das Kapital gelesen und war eine Zeit lang Mitglied bei den Globalisierungskritikern von Attac, aber dort wollten sie ihn nicht haben.

Auf den ersten Blick klingen Forderungen oft plausibel

Im Gespräch umschifft er geschmeidig jede radikale Forderung seiner Mutterpartei, so wie ein normaler Politiker unangenehme Wahrheiten umspielt, die besser erst nach dem Wahlkampf angesprochen werden sollten. Das mit der Ausländerrückführung ? einer Forderung der NPD, mit der sie meint, Arbeit für Deutsche zu schaffen ?, das müsse man ja nicht unbedingt genau so umsetzen, sagt Schäfer. Man könne ja auch schon mit kleinen Maßnahmen viel erreichen, Kosten sparen, den Staat entlasten. Zum Beispiel: »Die Krankenkassen versichern die Familien von hier lebenden Ausländern kostenlos mit ? auch wenn die im Ausland leben. Wenn man das streichen würde, hätte man die Kosten der letzten Gesundheitsreform schon wieder drin.« Das kann man richtig finden oder nicht, aber bis zum Beweis des Gegenteils klingt eine solche Forderung erst mal durchaus plausibel. Was die NPD denn von anderen Parteien unterscheide? »Wir sind glaubwürdiger«, sagt Schäfer. Und der Vorwurf, dass die Partei verfassungsfeindlich sei? »Unsere Politik kann mit dem Grundgesetz, so wie es jetzt besteht, gemacht werden«, sagt Schäfer. Zwischendurch schenkt er Wasser nach.

Darf man diese Sätze unwidersprochen stehen lassen, obwohl wenig daran stimmt? Nein, darf man eigentlich nicht. Zumindest nicht länger als die nächsten 18 Absätze dieses Textes. Aber bevor wieder Michael Schäfer und seine politischen Ideen betrachtet werden sollen, muss es auch um andere rechtsextreme Studenten und Studierte gehen. Schäfer ist ja nicht der einzige.

Wenig offener Rechtsextremismus an den Universitäten

Stefan Rochow zum Beispiel, sein Vorgänger als JN-Bundesvorsitzender, hat die Universitäten in Greifswald und Gießen besucht; der »Hochschulpolitische Sprecher« des NPD-Landesverbandes in Thüringen, Hendrik Heller, studiert genau wie Schäfer in Halle; der »Bundesschulungsleiter« der JN heißt Matthias Gärtner, und er ist im vergangenen Jahr an der Uni Magdeburg zur Wahl des Studentenrates angetreten. Über ihn wird später noch zu reden sein.

Es gäbe Dutzende weitere Beispiele, hier nur noch eines: David Petereit, Jahrgang 1981, Universität Rostock. Auch Petereit wurde von ZEIT Campus mehrmals um ein Gespräch gebeten; der Bitte kam er allerdings nicht nach. Möglicherweise sieht Petereit momentan Gründe, sich eine Zeit lang aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen. In Rostock hatten Rechtsextreme im vergangenen Jahr den Laden East Coast Corner eröffnet. Weil das Geschäft für rechte Utensilien im eher alternativen und studentischen Viertel Kröpeliner-Tor-Vorstadt liegt, gibt es seitdem ständig Auseinandersetzungen, nach einem Anschlag mit Buttersäure im Januar war der Laden für zwei Monate geschlossen.

Einige Fotos aus dem letzten Sommer zeigen Petereit vor dem Laden aufgebaut, bewaffnet mit einer Eisenstange. Selbst die rechte Internetplattform Altermedia bezeichnete die Bilder damals als »etwas ungünstige Fotoaufnahmen«, die »zum nächsten Landtagswahlkampf wieder auftauchen könnten«. Petereit nämlich ist Wahlkreismitarbeiter der NPD, bei der letzten Landtagswahl kandidierte er selbst auf Listenplatz 13. Neben seiner politischen Arbeit studiert er übrigens Rechtswissenschaften.

»Jemand wie Petereit, der sich offen zu seiner Gesinnung bekennt, ist allerdings eine Ausnahmeerscheinung an der Uni«, sagt Julian Barlen, selbst VWL-Student in Rostock, Mitglied bei den Jusos und Sprecher zweier Initiativen: »Endstation rechts« und »Schöner leben ohne Naziläden«. Viel mehr als Ausnahmeerscheinungen können Partei-Aktivisten wie Petereit oder Schäfer auch gar nicht sein. Mit 400 JN- und etwa 7200 NPD-Mitgliedern, die im Schnitt deutlich älter sind, können sie es kaum schaffen, unter den zwei Millionen Studenten in Deutschland systematisch aufzufallen.

Das Problem ist der verdeckte Rechtsextremismus

Julian Barlen sorgt sich deswegen auch nicht um den offenen, den organisierten Rechtsextremismus an der Universität, sondern um den verdeckten. Ist der ein Problem? »Ich kann natürlich nicht allen 15000 Studenten an der Uni hier in die Köpfe gucken«, sagt er. Aber einige Umfragedaten können die Sache zumindest erhellen. Die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung zum Beispiel hat untersucht, wie häufig die deutsche Bevölkerung zustimmt, wenn sie mit ausländerfeindlichen, national-chauvinistischen oder antisemitischen Thesen konfrontiert wird. Studierte sagen nur halb so häufig »Richtig« zu einem Satz wie »Auch heute noch ist der Einfluss der Juden zu groß«. Aber auch sie sagen manchmal: Stimmt.

Das Hochschul-Informations-System (HIS) in Hannover hat dieses Thema im vergangenen Jahr genauer untersucht, und laut seinen Ergebnissen fanden immerhin sieben Prozent der Studenten folgende Aussage richtig: »Deutschland ginge es wirtschaftlich besser, wenn nicht so viele Ausländer hier leben würden.« Die Zustimmung zu solchen und anderen Thesen schwankt je nach Bildungsform und Fachrichtung: mehr Ausländerfeindlichkeit an Fachhochschulen als an Universitäten, mehr bei Ingenieuren als bei Soziologen. Sieben Prozent, das klingt nicht nach beunruhigend viel, aber bei 15000 Studenten in Rostock würde das immerhin bedeuten: 1050 potenzielle Sympathisanten der NPD.

Also ist Barlen entsetzt, wenn Kommilitonen von einem Grillfest erzählen, bei dem ein Student bemerkte, dass es am Grill »ja nach verbranntem Judenfleisch« rieche. Er ärgert sich über den Professor, der am Schwarzen Brett Artikel aus der Jungen Freiheit aushängt ? der Zeitung, die meist dagegen klagt, wenn sie jemand als »rechtsextrem« bezeichnet. Und vor allem ärgert er sich, dass es an seiner Uni einfach kein »Klima« für ein systematisches Engagement gegen rechts gibt: »Es sind Einzelne, die sich engagieren, mehr nicht.«

Die klügsten Köpfe braucht die NPD, um ihre eigenen Leute zu schulen

Sieben Prozent Zustimmung bedeuten allerdings auch, dass 93 Prozent die Parole mit den Ausländern und der deutschen Wirtschaft ablehnen. Eine schweigende Mehrheit, aber eine riesig große. Insofern klingt es plausibel, wenn Michael Schäfer von der JN sagt: »Die Universitäten sind für uns kein Agitationsfeld.« Der Bundesverfassungsschutz schätzt das ähnlich ein. Für die Rechtsextremen würde es sich kaum lohnen, an den Universitäten offensiv in Erscheinung zu treten. Und selbst wenn sie wollten: Sie könnten es nicht. Keine Kapazitäten.

Überhaupt fällt es der NPD schwer, ihre einmal ausgerufene »Intellektualisierung« auch durchzuhalten. Die wenigen Köpfe ihrer Partei, die dazu fähig wären, sind zurzeit mit der Arbeit in den Landtagen in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen beschäftigt. Wie Jürgen Gansel zum Beispiel, Politikwissenschaftler mit einem Magister von der Uni Gießen. Die »Dresdner Schule« war seine Idee, das erwähnte Pendant zur Frankfurter Schule, mit der die NPD in Deutschland Diskurse entfachen wollte. Seit der Pressekonferenz zu ihrer Gründung ist sie allerdings kaum in Erscheinung getreten ? abgesehen von einer Argumentationshilfe, die Gansel in ihrem Namen für Kandidaten und Funktionsträger der NPD erstellt hat. Denn genau dafür braucht die NPD ihre intelligenteren Köpfe: zur Schulung der eigenen Leute. Und bevor die Rechtsextremen überhaupt systematisch Gedankengut in die Universitäten hineintragen können, müssen sie erst einmal welches heraustragen. »Uni ist für mich ein Bildungsraum. Ich hole mir hier mein Wissen«, sagt Schäfer. Und dieses Wissen müssen sie weitergeben. Mittlerweile organisiert auch die JN ihre eigene Bildungsarbeit.

Ein Freitagabend in Jena, die Luft in der Gaststätte Zum Ratskeller riecht nach Schnitzel und Zigaretten. Über dem Stammtisch prangt auf einem krummen Holzbalken der Satz »Hier wurde schon gelogen, dass sich die Balken bogen«, an der Wand hängt ein Fußballtrikot des örtlichen Vereins mit den Unterschriften der Spieler. Einige Tische weiter sitzt ein Mann von Mitte 20 mit einer scharf rasierten Kante im Haupthaar, er trinkt Kaffee, und kaum einer nimmt Notiz von ihm. Das ist Matthias Gärtner, der Bundesschulungsleiter der JN. Er wird heute Abend noch einen Vortrag halten, es gibt eine Veranstaltung des Nationalen Bildungskreises, des NBK. Vielleicht könnte man diese Organisation als die mobile Volkshochschule der rechten Szene bezeichnen: Sie will ein Netz von Referenten installieren, die zu Referaten und Schulungen quer durchs Land reisen.

Gärtner selbst hat den NBK im vergangenen Jahr gegründet, und in seinem heutigen Referat spricht er über den »nationalen Sozialismus«. Er studiert Politik, Soziologie und Psychologie in Magdeburg, er beherrscht den entsprechenden Jargon, und der fließt auch in seine Sätze ein, wenn er zum Beispiel erklärt, dass der »nationale Sozialismus« nicht das Geringste mit dem »Nationalsozialismus« zu tun habe. »Wir schauen auf die Gegenwart und versuchen mit einem neuen Ansatz, Korrosionsprozesse in der Gesellschaft zu bekämpfen«, sagt er.

Versuchte Abgrenzung vom Nationalsozialismus

Diese Abgrenzung vom Nationalsozialismus ist ein großes Thema für JN und NPD: Sie wollen als eine Partei gesehen werden, die in die Zukunft schaut ? nicht als eine, die zurück ins »Dritte Reich« will. In der Argumentationshilfe für ihre Kandidaten rät die NPD deswegen: »Auf den Themenkomplex Holocaust, Kriegsschuldfrage 1939 und Nationalsozialismus sollte sich mit dem Hinweis auf Gegenwartsaufgaben niemand festnageln lassen.« Dieses Themenfeld bedeutet wegen der »historischen Ahnungslosigkeit und damit der antifaschistischen Verblendung der Zeitgenossen« nicht das einfachste Terrain für die NPD.

Auf die Frage, welche Parallelen es denn zwischen »Nationalsozialismus« und »nationalem Sozialismus« gebe, weicht Gärtner aus. Da sei er jetzt gerade nicht auf dem neuesten Stand ? was insofern seltsam klingt, als dass er eine Stunde später ein Referat über das Thema halten will. Also noch mal die Frage. Gärtner sagt: »Es würde mir nichts einfallen, wo es Überschneidungen zur klassischen Linie gibt.« Also ein Hinweis auf die Idee der »Volksgemeinschaft«, auf die eigentlich die gesamte Politik der NPD hinausläuft. Das schreibt auch die JN in ihrem Grundsatzprogramm: »In der von uns angestrebten Volksgemeinschaft werden die Widersprüche und Unzulänglichkeiten des bestehenden politischen und wirtschaftlichen Systems überwunden werden.« Die Idee der Volksgemeinschaft war allerdings auch schon Grundlage der Politik der NSDAP.

Gärtner lässt sich ebenfalls nur mit Vorsicht interviewen. Auch er hat sich schriftlich versichern lassen, dass ausschließlich die von ihm freigegebenen Wortlautzitate verwendet werden dürfen. Später will er keinen der Sätze freigeben, in denen er einräumt, dass sich das Programm der JN in der Idee der Volksgemeinschaft sehr wohl mit dem Nationalsozialismus überschneidet.

Die Volksgemeinschaft. Ein bisschen verkürzt bedeutet das: Jedes Volk ist ganz allein für sich am besten dran, und der Mensch kann nur dann glücklich sein, frei und gut, wenn er sich in einem Umfeld bewegt, das ausschließlich aus seinesgleichen besteht. Also: Deutschland den Deutschen. Und damit das nicht so brutal klingt, spricht die NPD gern vom »Ethnopluralismus«, der dann auch sagt: Frankreich den Franzosen, Kenia den Kenianern und so weiter und so fort. Fragt sich nur, wer denn eigentlich ein Deutscher ist. Gärtner sagt: »Wer schwarz ist, kann niemals Deutscher sein.« Auch nicht, wenn er hier geboren und aufgewachsen ist, niemals ? sagen wir mal ? Rüsselsheim verlassen hat, beim Kleingartenverein mitmacht und Goethe zitieren kann. Gärtner erklärt sehr genau, warum das seiner Meinung nach nicht reicht. Am Ende läuft es auf etwas hinaus, was Gärtner aber auch nicht in seinem Namen gedruckt sehen will: dass er nämlich zwischen Deutschen und Kenianern nach Menschenrasse unterscheidet. Aber man muss schon ein bisschen nachhaken, bevor er so etwas sagt.

Man muss überhaupt ein bisschen nachhaken, wenn die Rechtsextremen ihre Ideen verkaufen wollen. Wie denn die »Volksgemeinschaft« genau organisiert sein soll, um »Widersprüche und Unzulänglichkeiten« zu überwinden? Gärtner spricht dann von direkter Demokratie, bis ins Detail hat das aber noch keiner durchdacht, nur das jetzige parlamentarische System soll es nicht sein. Das Grundsatzprogramm der JN kann das auch nicht erklären, dort gibt es zwischen viel Polemik gegen die heutige Form der Demokratie nicht einmal ein Bekenntnis zu freien Wahlen. Stattdessen steht dort: »Die für die Führungs-elite (?) hohe Verantwortung muß mit ebensolcher Geltung und Einfluß gepaart sein.«

Gärtner muss nun los, seinen Vortrag wird er ein paar Straßen weiter im Braunen Haus halten. Ursprünglich hat nur die örtliche Antifa das Haus so bezeichnet, aber auch diesen Namen haben sich die Rechten zu eigen gemacht. Die Presse darf dort nicht hinein, deswegen verabschiedet er sich jetzt, trinkt aber noch schnell seinen Kaffee aus. Neben ihm an der Wand hängen alte Fotos, an seinem schwarzen Hemd steckt ein Pin mit dem rot-weißen Logo der JN. Das J, das N, der Pfeil nach rechts oben ? er zeigt genau auf ein ausgeblichenes Bild: zwei Dutzend Menschen in Einheitskleidung, die in Reih und Glied turnen.

Während Gärtner also über den »nationalen Sozialismus« vorträgt, noch einmal zurück zu Michael Schäfer. Er hatte ja auf die Frage nach der Verfassungsfeindlichkeit seiner Partei gesagt, dass er keine Probleme mit dem deutschen Grundgesetz sehe. Das Grundsatzprogramm der JN allerdings spricht davon, die »Blockade- mechanismen« des politischen Systems abzuschaffen. Was nur heißen kann: Bundesrat und Bundesverfassungsgericht. Das wäre dann das Ende der Gewaltenteilung.

Oder, Herr Schäfer, wie steht es mit Meinungs- und Pressefreiheit? »Wir können nicht die Freiheit einfordern und sie dann abschaffen. Das wäre ja Heuchelei«, sagt er. Im Grundsatzprogramm der JN steht: »Die Medien erreichten als 4. Macht im Staate eine Stellung ohne jede Berechtigung, die die Vorherrschaft der Politik weitestgehend untergräbt.«

Und abseits von politischen Details: Wie ist das mit dem Vorwurf, dass NPD und JN nur die parlamentarische Vertretung eines gewaltbereiten Mobs seien? »Leute, die gewalttätig sind, die müssen wir rausschmeißen«, sagt Schäfer. Was er nicht erwähnt: dass zum Beispiel Norman Bordin, sein Stellvertreter im JN-Bundesvorstand, bereits wegen Körperverletzung 15 Monate lang im Gefängnis saß und insgesamt achtmal vorbestraft ist. Oder den Fall von Thorsten Heise, Mitglied des NPD-Bundesvorstands: Mehrere Vorstrafen wegen Körperverletzung, im Herbst fand die Polizei bei einer Razzia unter anderem ein Maschinengewehr bei ihm. Oder Stefan Köster, NPD-Landtagsabgeordneter in Schwerin: wurde von der ARD gefilmt, wie er eine linke Demonstrantin trat, die schon auf dem Boden lag. Geldstrafe. Beispiele gibt es genug.

Schäfer selbst hat, bevor er zur JN ging, die Kameradschaft »Wernigeroder Aktionsfront« mit aufgebaut. Laut der Landesregierung Sachsen-Anhalts ermittelte allein 2005 die Polizei neunmal wegen gefährlicher Körperverletzung gegen Rechtsextreme aus dem Umfeld der Kameradschaft, der Bundesverfassungsschutz schätzt sie ausdrücklich als »gewaltbereite Neonazi-Kameradschaft« ein; die Aktionsfront löste sich kurz vor der Gründung des JN-Stützpunktes Wernigerode auf.

»Wir schulen unsere Leute dahingehend, dass wir sagen, dass sie jede Straftat vermeiden sollen, weil es ihnen ja nichts bringt«, sagt Schäfer und meint damit vor allem den Strafbestand der Volksverhetzung. Zehn Tagen nach diesem Gespräch durchsuchen an derselben Stelle 60Polizisten die Bundeszentrale der JN und den benachbarten Laden wegen des Verdachts auf Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, Volksverhetzung und Landfriedensbruch. Sie beschlagnahmen Computer, CDs, T-Shirts und DVDs.

TEIL 4

Muss man das alles wissen? Man sollte. Das und noch einiges mehr, auch wenn es Details sind. Im Interview mit ZEIT CAMPUS hatte Michael Schäfer ja gefordert, im Ausland lebende Familienangehörige nicht mehr kostenlos in den Krankenkassen mitzuversichern. Eine schöne Forderung für die eigene Klientel, die auch andere Wähler nicht abschreckt; es scheint ja bloß um Privilegien zu gehen, mit denen Ausländer die Deutschen übervorteilen. Allerdings sollte man wissen, dass es eine solche Mitversicherung überhaupt nicht gibt.

Natürlich werden alle diese Widersprüche die Mitglieder von JN, NPD und freien Kameradschaften nicht weiter irritieren. Wozu also sollte man das alles wissen? Wohin mit solchen Argumenten? »Man darf nicht in der Szene ansetzen, sondern bei den Leuten, die noch nicht drin sind«, sagt Julian Barlen von »Endstation rechts«.

Oder bei denen, die zwar schon drinstecken, aber noch nicht so tief. Bei Marco zum Beispiel. Auch Marco studiert, und eigentlich trägt er einen anderen Namen, aber weil er noch nicht als rechtsextrem bekannt ist, soll er anonym bleiben dürfen. Eigentlich ist er auch nicht besonders rechtsextrem, aber über die JN sagt er zögernd: »Ich habe den Eindruck, dass die hier in der Gegend die Einzigen sind, die wirklich etwas bewegen.« Marco lebt in Ostdeutschland, in einer Gegend mit wenig Arbeit, kaum Industrie und einer steten Abwanderung gen Westen. Und hier, fast auf dem Land, ist die NPD tatsächlich oft eine umtriebige Partei, die Kinderfeste organisiert, Bürgerberatung für Hartz-IV-Empfänger anbietet und sich mit solchen erst einmal unideologischen Aktionen zur netten, normalen Partei von nebenan stilisiert. Was Marco denn tatsächlich vom politischen Programm von NPD und JN hält? »Diesen beinharten Rassismus zum Beispiel finde ich nicht so gut«, sagt er. Mitglied in der JN ist er trotzdem.

Das ist wahrscheinlich das wirklich Gefährliche an eloquenten Argumentierern wie Schäfer und Gärtner. Dass sie es schaffen könnten, die NPD als eine ganz normale Partei zu verkaufen, bei deren Wahl eine härtere Gangart gegen Ausländer bloß so etwas wie ein Kollateralschaden für die Gesellschaft und die Demokratie wäre ? und zwar der einzige. Sie sind flexibel genug, um ihre Politik außerhalb ihrer gut abgeschotteten Zirkel anders zu verkaufen als innerhalb, und sie wirken seriös genug, um den Ekelreflex einer breiten Öffentlichkeit einfach zu unterlaufen. Vielleicht glauben sie es ja auch selbst, wenn sie sagen, dass sie eine moderne Politik betreiben; dass sie nicht zurück- schauen, sondern nach vorn.

Zum Schluss noch einmal zurück nach Dresden. Der Gedenkmarsch ist mittlerweile zum Stehen gekommen: Abschlusskundgebung auf dem Platz zwischen Schauspielhaus und Zwinger. Es spricht Udo Pastörs, Vorsitzender der NPD-Fraktion im Schweriner Landtag. Er steht hinter einem Rednerpult auf der Ladefläche eines Lkw und bellt Tiraden heraus, in denen es meist um die »Krrriegsverrrbrrecherrr« geht, die den Zweiten Weltkrieg gewonnen haben. Er rollt das R tatsächlich so, wie es nur ein müder Karikaturist einem Rechtsextremen in den Mund legen würde, und mehrmals pro Satz hält er kurz inne, damit die Häuser rund um den Platz das Echo seiner Stimme zurückwerfen können. »Es war ein Krieg«, predigt er, »gegen die Schöpferkraft des deutschen Volkes« ? und seine Stimme kennt dabei nur eine Modulationsstufe: das Brüllen ?, »gegen seinen unaufhaltsamen Aufstieg« ? Pause, Echo ?, »für den die Grundlagen nach 1933 gelegt wurden!« Der Platz jubelt. Später singen sie in der Dämmerung gemeinsam »Deutschland, Deutschland über alles«, bevor sie ihre Transparente einrollen und 3800 Rechtsextreme zurück in die Busse steigen, die sie wieder in der Republik verteilen.

Michael Schäfer hat die Rede gut gefallen.

Dieser Text erschien erstmals in Zeit Campus, Ausgabe 3/2008 und wurde uns freundlicherweise von der Redaktion zur Verfügung gestellt.

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