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Werden Menschen rechtsextrem, wenn sie einen Nazi-Beitrag lesen?

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Geben wir die Frage weiter an die Medienwirkungsforschung. Publizistikwissenschaftler Peter Maurer sagte dazu im Interview auf netz-gegen-nazis.de: »Medieninhalte wirken auf das Wissen und die Vorstellungen von Rezipientinnen und Rezipienten, weniger auf deren Meinung. Schon rechtsextrem eingestellte Personen können allerdings durch rechtsextreme Internetauftritte in ihrer Meinung bestärkt werden.« Ist das eine Entwarnung? Die Sozialwissenschaftler Oliver Decker und Elmar Brähler kommen in ihrer Studie »Die Mitte in der Krise« 2010 zu dem Schluss: 22,6 % der Befragten wünschen sich ein antidemokratisch-völkisches Gesellschaftskonzept. Rund 34 % stimmen rassistischen Thesen zu. 16 % bejahen antisemitische Aussagen. Demokratiefeindlichkeit oder Demokratiemüdigkeit reichen weit bis in die Gesellschaft hinein. Also müssen wir wohl doch aufmerksam sein, dass im Internet nicht gesellschaftliche Standards verwässert werden, die allen Menschen Freiheit, Gleichberechtigung und Selbstentfaltung ermöglichen.

Wer aufmerksam sein möchte, braucht Informationen. Die gibt es beim »Netz gegen Nazis – Mit Rat und Tat gegen Rechtsextremismus«. www.belltower.news wurde 2008 von der Wochenzeitung »DIE ZEIT« gegründet. Seit 2009 gehört das Internetportal zur Amadeu Antonio Stiftung. 2010 wurde es mit dem »CIVIS Online Medienpreis für Integration und kulturelle Vielfalt in Europa« ausgezeichnet. Um Reportagen und Berichte an Leserinnen und Leser zu bringen, nutzen wir seit 2009 auch Gruppen in sozialen Netzwerken. Sie sind für die Öffentlichkeitsarbeit von NGOs sehr effektiv: So kann ein sehr viel größerer Interessentenkreis zuverlässig und regelmäßig mit Nachrichten versorgt werden, die zudem an Ort und Stelle diskutiert und kommentiert werden können. Aktuell erreichen wir rund 81.000 Abonnentinnen und Abonnenten in verschiedenen sozialen Netzwerken.

Auf der anderen Seite machen wir in den »Netz gegen Nazis«-Gruppen ganz direkte Erfahrungen mit Rassisten, Antisemiten und Neonazis. Sie versuchen, vernünftige und angeregte Diskurse zu zerstören oder zu dominieren. Sie machen nicht-rechte Userinnen und User lächerlich. Sie bedrohen sogar. Manchmal reagieren die anderen Gruppenmitglieder darauf prompt. Anderes, etwa Subtiles oder mit großer Penetranz Vorgetragenes, bleibt unwidersprochen stehen. Im Umgang mit rechtsextremen, rassistischen oder antisemitischen Postings ist Unsicherheit zu bemerken, bei Userinnen und Usern wie Betreibern: Sind sie Teil der Meinungsfreiheit, müssen sie toleriert werden? Soll man den Beitrag löschen? Oder gleich das ganze Nutzerprofil? Wann lohnt es sich zu diskutieren? Hinter allen praktischen Diskursen stehen große Fragen, um die es sich zu streiten lohnt: Wenn das Internet frei sein und sich selbst regulieren soll – was sind wir bereit zu tun, damit darin trotzdem grundlegende demokratische Werte gelten?

Auch auf Belltower.news haben wir Diskussionsforen. Sie werden moderiert und haben klare Regeln. Trotzdem versuchen Neonazis immer wieder, mal offen, mal versteckt, dort mitzudiskutieren. Zum Start von Belltower.news tauschten sie sich sogar in rechtsextremen Diskussionsforen darüber aus, was bei uns gerade noch stehen gelassen wird und wofür sie gelöscht wurden. Neonazis nutzen jede Möglichkeit, das Wort zu ergreifen, um ihre menschenverachtende Ideologie ins Internet zu stellen. Man konnte Studien treiben. Das haben wir getan.

Dabei zeigte sich: Rechtsextreme, rassistische oder diskriminierende Profile oder Beiträge in sozialen Netzwerken zu melden und zu löschen ist wichtig. Das setzt die Grenze, was als akzeptabel gelten soll. Es entmutigt die Diskriminierenden und ermutigt die Userinnen und User, die sich für Menschenrechte und Gleichwertigkeit einsetzen. Aber als zentrale Gegenmaßnahme greifen restriktive Schritte zu kurz: Das auch in der realen Welt gültige Mantra, dass Rechtsextremismus nicht weg ist, nur weil er nicht mehr zu sehen ist, zeigt sich im Netz praktisch: Gelöschte User können sich auf der Stelle wieder anmelden. Hassvideos werden einfach an anderer Stelle wieder hochgeladen. Die riesigen Datenmengen, die täglich in soziale Netzwerke geladen werden, sind unüberschaubar und nicht kontrollierbar. Hat man einen Patrioten wegen rassistischer Kommentare gesperrt, steht der nächste Nationalist schon bereit. Wir werden auch im Internet nicht umhinkommen, Strategien zu entwickeln, um sich inhaltlich mit Rechtsextremen auseinander zu setzen. Dies geschieht aktuell vor allem durch engagierte Einzelpersonen in den sozialen Netzwerken. Deshalb haben die Amadeu Antonio Stiftung und Belltower.news überlegt: Wie können wir diese Menschen stärken? Wie das Netzwerk der Aktiven erweitern? Entstanden sind in den Jahren 2009 und 2010 ein Projekt und eine Kampagne.

Generation 50plus aktiv im Netz gegen Nazis

Im Jahr 2009 entstand das Projekt »Generation 50plus aktiv im Netz gegen Nazis«, gefördert vom Generali Zukunftsfonds und der Freudenberg Stiftung. Die Idee: Das Web 2.0 könnte für engagierte Demokratinnen und Demokraten der Generation 50plus ein ideales Betätigungsfeld sein – wenn ihnen gezeigt wird, wie soziale Netzwerke funktionieren und wenn sie Argumentationsstrategien kennen lernen, die ihnen helfen, gegen Neonazi-Diskutanten aktiv zu werden. Genau dies geschieht in den Workshops, die wir bundesweit anbieten, ganz praktisch am Computer und mit vielen Beispielen. Nach den Workshops bleiben wir über die sozialen Netzwerke mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern in Kontakt und beraten sie bei ihrem weiteren Engagement. Ihr Feedback, dass gerade die Informationen über Themen und Gesprächsstrategien der Neonazis für sie sehr hilfreich waren, hat uns ermutigt, die Erfahrungen in dieser Broschüre einem größeren Leserinnen- und Leserkreis zugänglich zu machen.

Soziale Netzwerke gegen Nazis

Immer wieder erreichten die Redaktion von Belltower.news Emails von Menschen, die sich über schlecht zu findende Meldebuttons in sozialen Netzwerken beschweren. Andere sahen mangelnde Transparenz oder Konsequenz im Umgang mit rechtsextremen Einträgen oder Nutzern. Sie fragten sich: Bringt das überhaupt was? Oder wollen die Netzwerke gar nichts gegen Neonazi-Nutzer machen, die ja auch ihre Kunden sind?

Im Frühjahr 2010 trugen wir diese Fragen an verschiedene Betreiber sozialer Netzwerke heran. Kein einziges Netzwerk leugnete, dass Rechtsextremismus auf ihrer Plattform ein gravierendes und bekanntes Problem sei. Das ist eine gute Grundlage zum Handeln und längst nicht in allen gesellschaftlichen Bereichen normal. Im Umgang mit rechtsextremen Einstellungen setzen die meisten Netzwerke auf Löschungen, Verbote und auf Software, die unerwünschte Begriffe und Nicknames filtert und verbietet. Das verhindert zwar, dass Adolf Hitler Mitglied wird, nicht aber Ady H. Die Betreiber sozialer Netzwerke können an der Verbesserung der Bedingungen auf ihrer Plattform arbeiten. Sie bleiben aber darauf angewiesen, dass sie Nutzerinnen und Nutzer haben, die aufmerksam gegenüber menschenfeindlichen Umtrieben sind.

Um darauf aufmerksam zu machen, entstand die Kampagne »Soziale Netzwerke gegen Nazis«. Eine Woche lang, vom 11. bis zum 17. Oktober 2010, positionierten sich die beteiligten sozialen Netzwerke mit Buttons auf der Homepage, Werbeflächen und Diskussionsgruppen. Sie sagten ihren Nutzerinnen und Nutzern: Wir wollen hier keine Neonazis, Rassisten, Antisemiten, die andere mit ihrer menschenverachtenden Ideologie abwerten und ausgrenzen. Setzt mit uns ein Zeichen und helft uns, deren Treiben in diesem Netzwerk klare Grenzen aufzuzeigen. Anfangs waren zwanzig soziale Netzwerke beteiligt. Im Laufe der Aktionswoche schlossen sich 43 weitere große und kleine Netzwerke und Foren an (alle auf www.soziale-netzwerke-gegen-nazis.de). 345.300 Menschen haben sich in dieser Woche durch ihre Teilnahme in den Gruppen für die Aktion und damit gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus ausgesprochen. Zwei Monate nach Aktionsende, im Dezember 2010, sind es 595.000 Menschen, denn die inhaltliche Diskussion in den Gruppen dauert an. Tausende begeisterte Kommentare bestärken uns und die sozialen Netzwerke, dass den Nutzerinnen und Nutzern dieses Thema wichtig ist. Es wurde diskutiert und gestritten, wie es für eine lebendige Demokratie wichtig und notwendig ist. Auch wenn das die Moderatorinnen und Moderatoren der Gruppen oft an den Rand des Machbaren brachte.

Die Aktionswoche zeigte auch, wie viel in den sozialen Netzwerken zu tun ist. Auch Nazis, Rassisten und Antisemiten strömten in die Gruppen zur Aktion, um zu agitieren und zu pöbeln. Die sozialen Netzwerke machten sich entsprechend des Kampagnenmottos daran, diese Nutzerinnen und Nutzer zu verwarnen und auszuschlie- ßen – zum Wohle ihrer User, die ernsthaft an einer Auseinandersetzung über die Themen interessiert sind, die Deutschland politisch bewegen.

Die Website zur Kampagne: www.soziale-netzwerke-gegen-nazis.de

Wie geht es weiter?

Demokratie müssen wir im Alltag mit Leben füllen. Durch die Aktionswoche konnten wir tausenden Menschen klar machen, dass sie gebraucht werden, damit das Internet kein formaldemokratischer, sondern auch ein wirklich demokratischer Raum ist, in dem Menschenrechte, Gleichwertigkeit und Minderheitenschutz als Handlungsgrundlage zählen. Diese Broschüre ist ein weiterer Schritt, über rechtsextreme Internet-Strategien aufzuklären und Handlungsmöglichkeiten zu erläutern. Wir werden außerdem mit interessierten Netzwerkbetreibern neue Methoden im Umgang mit Neonazis, Rassisten und Antisemiten in sozialen Netzwerken erarbeiten. Das Internet bietet fantastische Möglichkeiten, viele Menschen unkompliziert für wichtige Themen zu erreichen. Das müssen wir für die Arbeit gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus ausnutzen.

Aber warum sind Nazis in sozialen Netzwerken überhaupt ein Problem?

Doch unser Engagement stößt nicht nur auf Verständnis. Eine Frage, die immer wieder (mehr oder weniger freundlich) gestellt wird: »Warum ist Euch das Engagement (gerade) gegen Nazis im Netz so wichtig? Sind das nicht nur ein paar Spinner, über die man hinwegsehen kann?« Das fragt man sich manchmal ja auch selbst. Aber nein, man kann es nicht: Neonazis greifen mit ihrer Ideologie die Grundlage unserer demokratischen Gesellschaft an, die Gleichwertigkeit aller Menschen. Wo Neonazis Hass, Rassismus, Menschenverachtung und NS-Verherrlichung verbreiten, vergiften sie das gesellschaftliche Klima. Tun sie es oft genug unwidersprochen, trägt das zur Normalisierung abwertenden Gedankenguts bei. Es erscheint sagbarer, vielleicht auch wahrer. Politikwissenschaftler Hajo Funke formuliert es im »Buch gegen Nazis« so: »Wenn rechtsextreme, fremdenfeindliche Inhalte in öffentlichen Internetforen unwidersprochen bleiben, setzen sie sich in zu vielen Köpfen zu oft fest.«

Und das wiederum ist ein Problem, weil es Opfer rechtsextremen Gedankenguts gibt – Menschen, die nicht ins Weltbild der Neonazis passen. Im Internet werden sie verbal attackiert. In der realen Welt werden sie von Rechtspopulisten nach rassistischen oder Nützlichkeits-Kriterien bewertet und deshalb von der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft ausgeschlossen. Von Neonazis werden sie körperlich angegriffen oder sogar getötet. 149 Todesopfer rechtsextremer Gewalt gab es seit der Wende. Jedes einzelne ist ein Grund, aufmerksam zu sein und einzuschreiten, wenn Neonazis Sympathisanten suchen.

 

Dieser Text ist ein Auszug aus der Broschüre „Neonazis im Web 2.0: Erscheinungsformen und Gegenstrategien“ von no-nazi.net und Netz gegen Nazis. Hier gibt es die Broschüre zum Download als PDF. Die Printversion ist vergriffen.

 

| Inhalte der Broschüre auf netz-gegen-nazis.de

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