Von Magdalena Marsovszky, Budapest
Das Budapester Sziget-Festival ist mittlerweile eines der größten in Europa. Hunderttausende Musikfans kommen jährlich zusammen, um so unterschiedliche Bands wie Tool, die Skatalites, Leningrad und Manu Chao zu sehen. Hier kann jeder spüren, was ein Europa fast ohne Grenzzäune bedeutet. Doch das Mega-Festival hat Gegner. Nicht etwa solche, die sich an Lärm oder Müll stören ? einigen Anwohnern ist das Festival zu „jüdisch“. Nur wenige Kilometer von der Donauinsel in Obuda mitten in Budapest entfernt, auf der das Sziget jeden August stattfindet, organisiert eine rechtsnationale, ungarische Intitiative jährlich eine Gegenveranstaltung: das Magyar Sziget („Ungarische Insel“).
Zum mittlerweile achten Mal fand dieses völkische Spektakel im August 2008 statt. Unter dem Motto „Für eine Woche werden die Grenzen niedergerissen“ träumten im malerischen Csattogó Tal, nördlich von Budapest, etwa fünfzehntausend Teilnehmer von einem Großungarn mit Gebieten, die seit 88 Jahren zu den Nachbarländern gehören. Man kennt sich, es gab alte Lieben, ja inzwischen „rassenreine magyarische? Kinder, deren Eltern sich hier kennen gelernt hatten, vielleicht sogar mit Hilfe eines der Zeitungsinserate, die dafür werben, rein-magyarisches Blut zu vererben. Sie haben urmagyarische Namen und trugen kleine Papierversionen der rot-weiß gestreiften Arpadfahne, deren eindeutige Botschaft heißt: „Hier ist eine national befreite Zone“.
Auch die Ungarische Garde, eine 2007 gegründete paramilitärische Organisation, war anwesend; ja, sie bestimmt inzwischen sogar die Umgangsformen. Seit diesem Jahr grüßt man hier nämlich nicht etwa mit „Guten Tag“, sondern mit dem Gardengruß: „Schönere Zukunft!“ Aber auch der Hitlergruß war bei den abends stattfindenden Skinhead- und NS-Konzerten zu sehen. Der stellvertretende Vorsitzende der Garde, Levente Murányi, mobilisierte das Publikum: „Nehmt bitte zur Kenntnis: Wer die Grenzrevision nicht will, ist kein Magyare! Die magyarischen Soldaten müssen nicht nur gegen die ganze Welt, sondern auch gegen das Judentum ihren Kampf führen! Auch die Zigeunerkriminalität ist eine hinterhältige Machenschaft der Zionisten! Ich hasse Sofarevolutionäre, die zu Hause vor der Glotze ihre Schlachten austragen!“ Er wandte sich ? mit einer bemerkenswerten Argumentation ? gegen den Ausdruck, seine Garde sei faschistisch. „Der Faschismus ist eine korrekte Ideologie. Im Verhältnis zum Kommunismus und zum Liberalismus allemal. Die Deutschen und die Ungarn waren aber niemals Faschisten!“.
Wer aber „Faschist“ sagt wird verklagt ? und verliert
Damit hat er streng historisch sogar Recht: Die Deutschen und die Ungarn waren völkische Nationalsozialisten, und gegen diese Bezeichnung haben viele Rechte und Rechtsextreme auch überhaupt nichts einzuwenden. Bezeichnet sie dagegen jemand als „Neonazi“ oder „Faschist“, wird er verklagt ? und verliert auch meistens. Eine ganze Reihe von linksliberalen Intellektuellen musste in den vergangenen Jahren „Richtigstellungen“ abgeben und hohe Strafen zahlen. So der berühmte Publizist Tibor Bakács, der vor kurzem in einer Radiosendung die rechtsextreme Motorradgang „Goj“ in die Nähe von Faschisten rückte und dem deshalb abermals der Prozess droht. „In Ungarn herrscht ein semantisches Chaos“, sagt er. „Wie soll man denn eine Vereinigung nennen, die sich offensichtlich nach rassistischen Kriterien formiert?“ Doch ungarische Gerichte zeigen sich sehr verständnisvoll, wenn Rechtsextreme sich beleidigt fühlen.
Überhaupt sind in dem Land, das seit 2004 EU-Mitglied ist, Dinge möglich, die von Deutschland aus betrachtet unglaublich erscheinen. „In Ungarn dürfen rechtsextreme Gruppen beispielsweise als offiziell eingetragene Kulturvereine arbeiten“, berichtet Tibor Bakács. Die vom Parlament geschaffenen Gesetze bemängelt die Ungarische Antifaschistische Liga (MAL) als „ungenügend“, um den Rechtsextremismus zurückzudrängen, und „die Behörden nutzen nicht einmal die spärlichen Möglichkeiten der Gesetzgebung aus“. Noch schlimmer seien Gerichtsentscheidungen: „Die Judikative wirkt nicht selten geradezu ermunternd auf die Rechten, statt deren Vordringen aufzuhalten.“ Die MAL wurde vor zwei Jahren von ein paar Linksliberalen gegründet, hat heute gerade 62 Mitglieder und kein eigenes Büro. Sie bräuchte dringend Geld, um Anwälte zu bezahlen und Menschen wie Bakács beizustehen. „Es ist ernsthaft zu befürchten, dass die extreme Rechte in Ungarn zu einer entscheidenden politischen Kraft wird“, sagt ihr Präsident, der Jurist, Dr. György Tenner. „Sie strebt eine Machtübernahme mit außerparlamentarischen Mitteln an ? notfalls mit Gewalt.“
Es ist auch kein Geheimnis, dass hinter diesen Organisationen reiche Industrielle stehen, die ihnen notfalls Staranwälte zahlen. So ist beispielsweise der auch in Deutschland als Reitsportler bekannte Vilmos Lázár Miteigentümer der äußerst erfolgreichen Supermarktkette CBA und Ehrenvorsitzender der Motorradgang „Goj“. Tibor Bakács dagegen weiß nicht, wie er im Falle einer erneuten Niederlage die Kosten bezahlen soll. Schweigen will er trotzdem nicht. Obwohl er, wie so viele linksliberale Intellektuelle, auf regelrechten Killerlisten steht, die der Rechtsextreme im Internet veröffentlichen. „Früher oder später gibt?s hier garantiert Tote“, sagt er.
Selbst renommierte bürgerliche Zeitungen hofieren die „Ungarische Garde“
Regelmäßig kommt es in Ungarn zu gewalttätigen Angriffen von Rechtsextremen, die nach Ansicht von Kritikern bereits die Kriterien „antisemitischer Pogrome“ erfüllen. Roma werden in aller Öffentlichkeit angefeindet, in einer Meinungsumfrage wurden sie kürzlich von mehr als zwei Drittel der Ungarn als „asozial“ und „ungarnfeindlich“ bezeichnet. Offenbar ist in der Gesellschaft die Ablehnung von Fremden tief verwurzelt: Als Soziologen vor ein paar Jahren in einer Studie nach den Einstellungen gegenüber einer gar nicht existierenden Migrantengruppe mit fiktivem Namen fragten, bekamen sie höchst feindselige Antworten.
Selbst in den großen, anerkannten, bürgerlich-konservativen Zeitungen und Fernsehsendern werden roma-feindliche Beiträge publiziert. So schrieb etwa der Journalist Zsolt Bayer, einst Gründungsmitglied der bürgerlichen Fidesz-Partei („Bürgerliche Union“) und guter Freund von deren Vorsitzenden Viktor Orbán, vor anderthalb Jahren in Magyar Hírlap: „Jeder, der in diesem Land ein Zigeunerkind überfährt, tut es am besten, wenn es ihm nicht einmal einfällt, anzuhalten. Im Falle, dass wir ein Zigeunerkind überfahren, sollten wir aufs Gaspedal treten. … Aber etwas sollten wir dennoch tun. Es ist nützlich, dass wir uns vor der Abfahrt ein Gewehr besorgen. … Und wenn sich die Tiere beginnen um uns herum anzusammeln, machen wir ruhig aus unseren Schusswaffen Gebrauch.“
Zeitungen wie Magyar Hirlap oder auch der populäre Sender EchoTV betreiben regelmäßig antisemitische, antiziganistische und homophobe Hetze. Beide sind im Eigentum des Medienmagnaten, Forintmilliardärs und ehrenamtlichen Präsidenten der Ungarischen Arbeitgeber- und Industriellenvereinigung, Gábor Széles, der nach einem möglichen Wahlsieg der Fidesz als Wirtschaftsminister gehandelt wird. Die Fidesz ist die größte Partei Ungarns und befindet sich zurzeit in der Opposition. Széles? Medien schreiben nicht nur über sie äußerst wohlwollend, sondern auch über die kleine rechtsextreme Jobbik-Partei („Partei für ein Besseres, Rechteres, Richtigeres Ungarn“) und deren Jugendorganisation, die paramilitärische und offen rassistische Ungarische Garde.
Auf rechtsextremen Festivals wie dem Magyar Sziget bekommt das Publikum regelrechte Schulungen im völkischen Denken. Der Theologe und Hungarist János Tudós-Takács, ständiger Redner bei der Blood & Honour Hungaria (wie in Deutschland ist dieses Skinhead-Netzwerk auch in Ungarn verboten, aber trotzdem weiter aktiv), beklagte dort den „Untergang“ der „national gesinnten Elite“ nach dem Zweiten Weltkrieg und geißelte die Nürnberger Prozesse sowie die entsprechenden Kriegsverbrecher-Prozesse in Ungarn einen Vorgang, in dem „geltendes Recht mit Füßen getreten wurde“. Dass die Juden systematisch ermordet worden wären, sei eine Lüge, sie seien zu ihrem eigenen Schutz in Ghettos getrieben worden und an Krankheiten gestorben oder verhungert, wie so viele andere Kriegsopfer auch.
Großen Beifall bekam in diesem Jahr auch der Historiker Kornél Bakay, der über das „Hunnien“ von heute sprach, in dem „endlich etwas passieren“ müsse und vorschlug, die gegenwärtige Verfassung durch die „Lehre der Heiligen Ungarischen Krone“ (einer völkischen Lebensraumideologie) zu ersetzen. Er zählte alle Volksgruppen auf, die in diesem „Lebensraum“ ihren Platz hätten ? und schloss dabei die „Rasse der Zigeuner“ und „Juden“ aus, denn die würden ja nicht aus dem christlichen Europa stammen. „Ungarn“, rief er, darf nicht von Fremden geführt werden!“ Ein Großteil der heute regierenden Elite sei „seelenfremd“ und habe eine vom Volk abweichende Genetik. Nach 1990 habe man Ungarn seiner Waffen beraubt, so dass es sich heute nicht mehr verteidigen könne, wohingegen sich die zionistische Bewegung ungehemmt ausbreite. Die Bewaffnung der Ungarischen Garde sei daher unbedingt notwendig, so Bakay. Es sei überhaupt ein Wunder, dass die Magyaren noch existierten, aber Gott sei Dank gebe es „immer mehr“ tatkräftige „Patrioten“. Die Garde wachse, die Zahl der „national gesinnten“ Schulen nehme zu, die Zuschauerzahl des „patriotischen“ Echo TV werde immer größer, und zum Schluss rief Bakay: „Die Nation braucht einen kämpferischen Führer! Aus Hunnia werde Karpatenheimat!“ Er erntete stürmischen Beifall und laute Rufe „Weg mit den judäo-bolschewistischen Lehrbüchern!“
Drei Viertel der Ungarn wünschen einen „starken Führer“
Tatsächlich nimmt in Ungarn die Zahl der sogenannten „national gesinnten“ Schulen, freien Universitäten und Volkshochschulen zu, die die „Lehre der Heiligen Ungarischen Krone“ (und nicht die demokratische Verfassung) als Rechtsgrundlage betrachten, die ihre „magyarische nationale Identität“ durch Vermittlung der „wahren magyarischen Geschichte“ stärken und der „geistig-moralischen Selbstverteidigung“ dienen wollen. Bakay selbst ist Professor an der „Freien Universität zur Heiligen Ungarischen Krone“.
Mit ihrer Parlamentsabgeordneten Maria Wittner war sogar die bürgerliche Fidesz-Partei auf dem Festival Magyar Sziget vertreten ? auf Deutschland übertragen wäre das etwa so, als würde eine CDU-Parlamentarierin beim rassistischen „Fest der Völker“ der NPD reden, ohne dass sich jemand daran stört. Der Fidesz-Vorsitzende, Viktor Orbán, war es auch, der 2002, nach seiner Wahlniederlage als erster einen „nationalen Widerstand“ gegen die „illegitime Regierung“ der Sozialliberalen ausrief. Seitdem fühlt sich die Partei offensichtlich den Rechtsextremen näher als anderen demokratischen Parteien. Seit zwei Jahren verlassen die Fidesz-Parlamentarier jedes Mal den Raum, wenn Ministerpräsident Gyurcsány eine Rede hält.
Die Fidesz-Abgeordnete Wittner wirkte auch diesen August wie ein Stargast der „Insel der Magyaren“. Für sie sind Sozialisten und Liberale gleichermaßen „Parteien der Würmer“, die am Land schmarotzen. „Nicht wir sind die Hooligans, sondern die da oben! Die sind so machtgeil, dass man den Gyurcsány nicht aus seinem Stuhl schmeißen kann. Den muss man samt seinem Stuhl in die Donau werfen!“ Eine Äußerung, die in Ungarn jeder ganz eindeutig versteht: Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges wurden viele Juden am Rand der Donau erschossen und in den Fluss gestoßen.
Nach Wittners Hassrede wollte die Menge nicht aufhören zu jubeln. Und Worte wie ihre finden auch in der breiten Öffentlichkeit Anklang. In einer repräsentativen Umfrage wünschten sich kürzlich 75 Prozent der Ungarn einen starken Führer an der Spitze des Staates, der gegen die „Tricks der Juden“ und gegen die „Zigeunerkriminalität“ vorgehen solle. Der Publizist Tibor Bakács sagt, viele Ungarn hätten offenbar den politischen Umbruch von 1989 noch immer nicht verdaut und fühlen sich orientierungslos in der neuen Ordnung. „Die Menschen möchten, dass jemand im Chaos Ordnung macht, und sie trauen nicht der Demokratie, sondern einer Diktatur.“
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