Wenn Johannes Hartl morgens auf dem Weg zur Schule ist, trifft er sie fast jedes Mal. Neulich fuhren sie im Auto fast eine Minute im Schritttempo neben ihm her und beobachteten ihn. „Die machen nichts. Die wollen einfach nur, dass ich sie sehe“, sagt Hartl.
„Die“, das sind Neonazis aus dem Ort, die dem Schüler das Leben schwer machen wollen. Sie wissen genau, dass die Polizei gegen diese subtile Art der Bedrohung kaum etwas unternehmen kann.
Es ist nichts Neues, dass Neonazis gezielt Angst verbreiten. „Anti-Antifa“-Arbeit nennt die Szene das. Journalisten, Politiker und alternative Jugendliche: Wer sich öffentlich gegen die Neonazis stellt, soll eingeschüchtert werden. Doch während die Rechtsextremen früher verhältnismäßig wahllos vorgingen – sie sammelten öffentlich zugängliche Informationen und Adressen für schwarze Listen – investieren sie inzwischen viel Mühe und Augenmaß, um Neonazigegner möglichst zielgenau auszuspähen.
Hartl hat den Zorn der örtlichen Szene auf sich gezogen, weil er genau das machte, was Politiker stets von den Bürgern einfordern: Wachsam bleiben gegenüber rechtsextremen Umtriebe. Angefangen hat alles im Frühling vergangenen Jahres. Da marschierten die Rechtsextremisten durch Hartls Heimatort Schwandorf in Bayern. Der damals 16-Jährige beteiligte sich an der Gegendemonstration, doch das reichte ihm nicht. „Ich wollte mich damit inhaltlich stärker auseinandersetzen“, sagt er.
Internet als Einschüchterungsplattform
Im Internet stieß er schnell auf Naziwebseiten der Region. Hartl startete das Blog Schwandorf gegen Neonazis und begann regelmäßig über rechtsextreme Veranstaltungen zu berichten. Die Lokalzeitung druckte Artikel von ihm ab und auch ZEIT ONLINE veröffentlichte im Störungsmelder seine Texte. Die SPD zeichnete ihn für seine Arbeit mit dem Hans-Weber-Preis aus.
Bald begannen die Rechtsextremisten, ihn bei Aufmärschen gezielt zu fotografieren und direkt anzusprechen. Kurze Zeit später fand er sein Foto auf der Homepage der örtlichen Kameradschaft. Aber die Drohungen liefen ins Leere. Das Schwandorfer Wochenblatt, das lokale Bündnis gegen Rechtsextremismus und auch ZEIT ONLINE stellten sich öffentlich hinter Hartl. „Diese Unterstützung war für mich ganz wichtig“, sagt er. Ein bisschen Sorge hätten seine Eltern schon, aber der Stolz überwiege.
Dabei ist das, was Hartl erlebt hat, noch vergleichsweise harmlos. Ein befreundeter Fotojournalist verkaufte vor ein paar Monaten exklusive Bilder von Nazi-Funktionären an einen Fernsehsender. Kurz darauf verübten Unbekannte einen Brandanschlag auf sein Auto.
Eine wichtige Plattform für rechtextreme Einschüchterung ist das Internet. Die Zahl der professionell gemachten „Anti-Antifa“-Webseiten, die für die Justiz meist unerreichbar im Ausland gehostet werden, steigt stetig. Die Szene veröffentlicht Fotos, Adressen und private Daten der Betroffenen. Vieles stammt aus sozialen Netzwerken. Ob Schule, Arbeitsstelle, Lebenslauf oder Vereinsmitgliedschaften – alles was im Netz zu finden ist, wird von den Neonazis gesammelt. Die von den Rechtsterroristen der Zwickauer Zelle erstellte Liste, mit 10.000 aus Telefonbüchern abgeschriebenen Adressen, wirkt dagegen geradezu dilettantisch.
Besonders eifrig sind die sogenannten Autonomen Nationalisten (AN) – junge und gewaltbereite Neonazis, die äußerlich eher an Mitglieder der linken schwarzen Blocks erinnern. In Dortmund etwa brachte es eine rechtsextreme Aktivistin zur Telefonistin bei einem Mobilfunkanbieter. Aus den Kundendaten besorgte sie den Rechtsextremen die Privatadressen von alternativen Jugendlichen. Bei manchen von ihnen wurden bald darauf Scheiben eingeworfen. Andere wurden auf dem Schulweg zusammengeschlagen.
In Berlin nahm ein führendes Mitglied der verbotenen Kameradschaft Tor einen Job bei einem privaten Briefzustelldienst an. Postsendungen an vermeintliche Linke nahm sie mit nach Hause und wertete die erbeuteten Informationen aus. Ein anderes Tor-Mitglied nutzte seine Anstellung bei einem Finanzamt, um insgesamt 184 Adressen von politischen Gegnern und einem Polizisten vom Staatsschutz aus der Datenbank zu ziehen. Über rechtsextreme Anwälte besorgen sich die Neonazis zudem immer häufiger Privatadressen von Zeugen und Opfern aus Prozessakten. Wer vor Gericht gegen Neonazi-Schläger aussagt, dem kann es passieren, mit Mord bedroht zu werden.
Ein blutiges Schweineherz
Auch Linke sammeln Daten über Nazis und stellen sie ins Netz. Doch die Dimension der Bedrohung geht bei den Nazis viel weiter. Während es den Linken vorrangig um die Demaskierung und öffentliche Bloßstellung von Rechtsextremen geht, veröffentlichen die Nazis Steckbriefe. Sie listen potenziell zu bedrohende Opfer auf.
Bianca Klose ist Leiterin der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus in Berlin. Sie beobachtet die Einschüchterungsstrategie der Neonazis schon länger. „Mit relativ wenig Aufwand“ gelinge es ihnen, spektakulär in Erscheinung zu treten: durch Aktionismus, einen konfrontativ geführten Kampf um die Straße und direkte Angriffe auf Wohnhäuser und Einrichtungen. Diese zielgerichtete Gewalt stelle für Engagierte eine neue, unmittelbare Bedrohung dar. Klose weiß, wovon sie spricht. Fotos von ihr, garniert mit Gewaltaufrufen, kursieren im Netz.
Auch in Aachen haben die Neonazis auf offene Einschüchterung umgeschaltet. Am ersten Weihnachtsfeiertag 2011 erhielt ein junger Mann eine besonders unappetitliche Drohung. Wochen zuvor hatte er an einer Demonstration gegen einen Naziaufmarsch teilgenommen. Die Rechtsextremisten identifizierten ihn auf Fotos und fanden seine Privatadresse heraus. Nun fand er ein blutiges Schweineherz in seinem Briefkasten. Daneben ein Zettel mit der zynischen Botschaft: „Ein Herz für Antifas. Frohe Weihnachten, deine Kameradschaft Aachener Land.“
Eine Drohung, die man in Aachen durchaus ernst nehmen muss. Im Mai 2010 hatten zwei Mitglieder der Kameradschaft Aachener Land (KAL) versucht, selbstgebaute und mit Glasscherben umwickelte Sprengsätze zu einem Naziaufmarsch nach Berlin zu bringen. Fünf Monate später war ein früheres KAL-Mitglied an dem Mord des 19-jährigen Irakers Kamal Kilade in Leipzig beteiligt.
Auch in Berlin hätte es durch die „Anti-Antifa“-Arbeit der militanten Szene beinahe Tote gegeben. Am 26. Juni 2011 verübten Neonazis in einer Nacht gleich fünf Brandanschläge auf linke Hausprojekte und ein Jugendzentrum des sozialistischen Jugendverbandes Falken. Nur durch Zufall wurden die Feuer rechtzeitig entdeckt. Alle betroffenen Projekte wurden zuvor auf der Internetseite des „Nationalen Widerstands Berlin“ mit Foto und Adresse als „gute Anschlagsziele“ genannt. Seitdem wurden viele weitere der genannten Häuser beschmiert, Scheiben wurden zerstört.Die Spur zur NPDIhre virtuelle Feindesliste betreiben die führenden Köpfe der Berliner Szene mit viel Aufwand. Regelmäßig veröffentlichen sie Steckbriefe von missliebigen Personen. Auch Bundestagsabgeordnete wie Wolfgang Thierse (SPD) oder Wolfgang Wieland (Grüne) sind unter den rund 200 Namen zu finden. Ein „Strick um den Hals oder [eine] Kugel in den Bauch“. So wird allen gedroht, die sich den Rechtsextremisten in den Weg stellen.
Der mutmaßliche Betreiber der Seite ist dem Staatsschutz wohl bekannt. Sebastian Schmidtke (27) gilt als Führungskader der Autonomen Nationalisten und ließ sich gerade erst zum neuen Chef der Berliner NPD wählen. Sein Naziladen im Bezirk Schöneweide wurde vergangene Woche durchsucht, Computer und Speichermedien beschlagnahmt. Die Polizei ermittelt jetzt gegen ihn und zwei weitere Rechtsextremisten unter anderem wegen Volksverhetzung und Aufforderung zu Straftaten. Schmidtke nahm die Beschlagnahmung seiner Datenträger gelassen. „Keine Sorge“, versicherte er seiner Anhängerschaft auf Facebook, „alles Wichtige ist verschlüsselt“.
Dieser Text erschien zuerst auf ZEIT online am 28.03.2012. Mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und des Autors.
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