Das Interview führten Konstanze Ameer und Martin Jander.
Sieben Jahre lang ertrug Familie Neuschäfer in Rudolstadt (Thüringen) den dort offenbar für ganz gewöhnlich gehaltenen Alltagsrassismus. Frau Neuschäfer und ihre Kinder sind dunkelhäutig und waren immer wieder verschiedensten Diskriminierungen und Attacken ausgesetzt. In der Fußgängerzone wurden sie angemacht und sogar bespuckt; die Kinder mussten sich in der Schule fremdenfeindliche Äußerungen anhören, der Sohn wurde auf dem Schulhof verprügelt. Eine ganze Zeit lang ging Frau Neuschäfer nicht vor die Türe, um nicht wieder irgendwelcher Anmache ausgesetzt zu sein. Anzeigen bei der Polizei und Vorsprachen bei der Schulleitung fruchteten nicht. Auch gute Freunde reagierten, wenn sie Details dieser Diskriminierung erfuhren, häufig nur achselzuckend. Das sei eben so, man könne da nichts tun.
Konstanze Ameer und Martin Jander haben Reiner Andreas Neuschäfer in der ersten Juliwoche 2008 in ein Seminar mit dem Thema Rechtsextremismus und Antisemitismus, veranstaltet von der ver.di – Bildungsstätte in Saalfeld (Nachbarstadt von Rudolstadt), eingeladen und ihn im Anschluss daran interviewt.
Frage: Vor etwa sieben Jahren sind Sie mit Ihrer Familie nach Rudolstadt gezogen. Sie haben sich dort eine Eigentumswohnung gekauft. Eigentlich wollten Sie also bleiben. Warum haben Sie diesen Entschluss revidiert? Was geschah genau?
Reiner Andreas Neuschäfer: Die Lebensqualität meiner Familie hatte nach Jahren so unter Fremdenfeindlichkeit gelitten, dass dieser Schritt sich eigentlich von selbst ergab. Man kann nicht dauernd kämpfen. Das war für uns aussichtslos, ja: hoffnungslos. Gerade meine Frau wurde immer wieder angemacht, weil Menschen mit ihrem anderen Aussehen nicht umgehen konnten. Beleidigende Bemerkungen, böse Blicke und beschämendes Bespucken waren quasi an der Tagesordnung. Ein Schauspieler am Rudolstädter Theater fragte mich öfter, wie meine Frau und Kinder das überhaupt hier aushalten. Wenn er mit dunkelhäutigen Freunden vor Ort ist, bekäme er immer ein mulmiges Gefühl. Und genau das hatte ich auch. Besonders als ich von den Erfahrungen erzählte und bei etlichen die Sensibilität für das Thema „Alltagsrassismus“ zu wünschen ließ, empfand ich eine große Ohnmacht. Eben das Gefühl, meine Frau und besonders die Kinder nicht mehr schützen zu können. Natürlich haben wir auch schöne Sachen in Rudolstadt erlebt und auch freundliche Menschen. Doch insgesamt hat meine Familie unter den alltäglichen Erlebnissen erheblich gelitten. Das kann keine Seele auf Dauer aushalten. Und ich will gar nicht wissen, wie viel Tränen da auch nach Innen geflossen sind! Wer nur ein Kind hat, kann vielleicht noch einiges ausgleichen oder sein Kind nach Jena zur Schule bringen oder so. Doch wir haben fünf Kinder. Und die Fremdenfeindlichkeit gegenüber den beiden älteren war schon so massiv, dass ich sagte: diesem will ich die Jüngsten nicht auch noch aussetzen. Dafür sind solche Erfahrungen und Erlebnisse viel zu traumatisierend, als dass man damit leichtfertig umgehen könnte.
Sie haben sicher versucht mit Freunden und Kollegen über ihre Erlebnisse zu sprechen. Wie waren deren Reaktionen? Wie reagierten offizielle Stellen, wenn Sie das Thema zur Sprache brachten? Wie reagierte vor allem ihr Arbeitgeber, die evangelische Kirche?
Über solche Erfahrungen redet man nicht so wie über Fußball oder so. Das sind sehr sensible Dinge. Das waren ja quasi alles „Ohrfeigen für die Seele“. Wenn Sie bespuckt werden, kommt vor dem Erzählen der Ekel. Und wenn man dann davon berichtet, braucht es so etwas wie einen Schutzraum für sooo sensible Geschichten. Wie gesagt: sonderlich feinfühlig ging man nicht damit um. Ich hatte den Eindruck, dass die meisten einfach überfordert waren. Wir passen ja auch nicht in die Klischees zu Fremdenfeindlichkeit, da meine Frau und Kinder weder ausländisch noch Immigranten sind, sondern wir eine deutsche Familie sind. Etliche reagierten in einer Art Schubladendenken: zum Beispiel ist ein Ratschlag wie „Wendet euch doch an den Ausländerbeauftragten!“ ein Schlag ins Gesicht, zumal wir ja keine ausländische Familie sind. Und selbst wenn, dann will man doch Empathie erfahren und nicht an andere Stellen verwiesen werden, oder?! Ganz schlimm war es, wenn dann versucht wurde, die Schuld für die Vorfälle dann bei meiner Familie zu suchen oder die Erlebnisse versucht wurden schön zu reden. Ein Freund meinte sogar, „Nigger“ sei genauso ein Schimpfwort wie „Blödmann“ oder so. Also insgesamt eher so, dass man sich quasi für seine „Empfindlichkeit“ rechtfertigen müsste. Und wer sich mit Traumatisierungen auskennt, weiß, dass so eine Reaktion alles andere als richtig oder hilfreich ist.
Als mein Sohn zusammengeschlagen worden war, bin ich auf Dienstreise gewesen und bat meinen Chef darum, vorzeitig nach Hause fahren zu dürfen – leider vergebens. Von den Erfahrungen meiner Familie erzählte ich dann immer freimütiger. Im März 2007 erzählte ich bei einer Präsentationsveranstaltung zu meinen neu erschienenen Büchern „Das brennt mir auf der Seele“ davon, was mir selber auf der Seele brannte. Dabei waren auch Kirchenvertreter anwesend. Später beklagte ich auch in Leserbriefen, was meiner Familie passiert. Bis ich schließlich Ende August um einen persönlichen Kommentar zu Mügeln in drei ostdeutschen Kirchenzeitungen gebeten wurde. In diesem machte ich deutliche Worte zu meiner persönlichen Situation und vermutete, dass die alltägliche Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland nicht nur etwas mit „rechts“ zu tun hat, sondern auch in „links“ eingestellten Bevölkerungsschichten anzutreffen ist. Daraufhin wurde ich von meinem Chef einbestellt und aufgefordert, solche Beiträge nicht noch einmal zu veröffentlichen, da sich Leute in den Gemeinden auf den Schlips getreten gefühlt haben. Daraufhin meinte ich, dass man einen Schlips ja auch ausziehen könne und die Zeiten der Zensur doch eigentlich vorbei seien … Später gab es noch ein Gespräch mit einem Oberkirchenrat. Hierbei wurden mir manche Bewusstseinsbindungen deutlich, die eigentlich eine sachliche Auseinandersetzung unmöglich machen. Und letztendlich war dies der Anlass, tatsächlich aufzugeben und nicht weiter auf eine Veränderung der Situation zu hoffen. Es hatte ja auch kein seelsorgliches Angebot oder eine persönliche Nachfrage bei meiner Frau gegeben.
Sie beschreiben den Alltagsrassismus mit dem Sie konfrontiert waren als ein Phänomen, das seine Wurzeln in Ostdeutschland sowohl rechts als auch links hat. Was genau meinen Sie damit?
Wenn ich alle Fremdenfeindlichkeit ausschließlich auf „rechts“ schiebe, bin ich auf dem „linken“ Auge blind. Dies wurde ja auch bei der Berichterstattung zu Mügeln deutlich. Ich übersehe dann, dass es in Ostdeutschland nicht nur eine andere Quantität, sondern eben auch eine andere Qualität von Fremdenfeindlichkeit gibt, die nicht in erster Linie politisch motiviert ist. Auch eine Sehnsucht nach Homogenität oder ein Zwang zum Kollektivismus und der Wunsch nach Freiheit ohne Verantwortungsübernahme kann dazu führen, mit dem Anderssein, Andersaussehen oder dem anderen Lebensstil eines Mitmenschen nicht umgehen zu können. Dieses alte Phänomen in den neuen Bundesländern ist ja keine Erfindung von mir. Dazu gibt es historische Studien, die die Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland auch mit dem Umgang mit dem Fremden in der DDR in Zusammenhang bringen. Und genau diese Spuren hat meine Familie auch wahrgenommen und zu spüren bekommen. Kurz gesagt: Die DDR ist nicht spurlos an den Menschen in Ostdeutschland vorüber gegangen, sondern hat ganz allgemein den Umgang mit Menschen anderer Meinung und Aussehen geprägt. Manche, aber nicht alle haben es geschafft, diese Spuren wahrzunehmen und offen mit ihnen umzugehen. Auch innerhalb der Kirchgemeinden nicht, wo es einer Bielefelder Studie zufolge teilweise bis zu 40 % Personen mit fremdenfeindlichen Einstellungen gibt.
Gab es ein bestimmtes Ereignis, das ihren Entschluss zur Flucht auslöste, einen Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte?
Es gab mehrere Eindrücke, die für uns die Situation unerträglich machte. Das fing an beim Umgang mit der Situation als unser Sohn Jannik auf dem Schulhof verprügelt worden war und dabei fremdenfeindliche Äußerungen fielen. Unser Sohn hatte wochenlang nicht mehr zur Schule gehen können. Als die Schulleitung tatenlos blieb, wurde ich aktiv und erzählte den Vorfall der Polizei. Diese ermutigte uns, Anzeige zu erstatten. Damit konnte die Schule nicht umgehen. Die Reaktionen waren von Überforderung und Ohnmacht gekennzeichnet. Ein Gespräch mit der Schulpsychologin sollte z.B. nicht den Fall selbst noch mal nachzeichnen und Möglichkeiten der Vermeidung derartiger Vorfälle überlegen. Vielmehr hatte die Schule ein Problem mit uns Eltern und wollte in dem Gespräch lediglich klären, ob wir unsere Kinder noch gut in der Schule aufgehoben wissen. Später, als auch noch unsere Tochter Fenja angemacht wurde mit Sätzen wie „Ich weiß, warum du so braune Haut hast: du schmierst dich jeden Morgen mit Scheiße ein!“, meinte eine Lehrerin zu mir: „Herr Neuschäfer, was soll ich denn machen, wenn Schüler so etwas sagen?!“ Spätestens da wurde mir deutlich: Wir können unsere Kinder nicht schützen und es gibt keine eigenen Ideen, solche Sachen zu vermeiden. Dann gab es noch Vorfälle, wo Leute vom Spielplatz verschwanden, als meine Frau auftauchte und ähnliches. Dass niemand meiner Frau zu Hilfe kam, als sie in der Fußgängerzone angespuckt worden war, machte mich besonders wütend. Dies ist für meine Frau auch ein wesentlicher Unterschied zu anderen deutschen Gegenden: die geringere Zivilcourage und der selbstverständliche Einsatz gegen Unrecht.
In mehreren Veröffentlichungen heißt es, ihre Frau habe nicht von Anfang an, aber doch ab einem bestimmten Moment, die Diskriminierungen notiert. Warum? Glaubten Sie damals selbst die Diskriminierungen wären gar nicht wirklich?
Im Grunde genommen sind diese Vorfälle unglaublich, wenn man sie nicht selbst mitbekommen hat. So etwas kann man sich gar nicht vorstellen. Allerdings auch nicht ausdenken. Deshalb ermutigte ich meine Frau, die Sachen aus ihrer ganz persönlichen Sicht einmal zu Papier zu bringen. Gerade traumatische Momente will man ja oft später nicht mehr wahrhaben. Daher hat sie zig Sachen aufgeschrieben. Und wir wundern uns selbst im Nachhinein, wie viel da zusammengekommen ist. Und es hat uns erschreckt, wie viel wir schon mitbekommen und ausgehalten hatten. Das konnte ja so nicht weitergehen. Ich fragte meine Frau: Muss eigentlich erst richtig Blut fließen bis wir kapieren: es geht nicht mehr?!?
Sie arbeiten momentan noch als Beauftragter der evangelischen Kirche in Südthüringen für den evangelischen Religionsunterricht. Ist das Thema Alltagsrassismus im Religionsunterricht Thüringens präsent und in welcher Weise ist es das? Haben Sie selbst das Thema schon einmal unterrichtet? Wie machen Sie das?
Alltagsrassismus könnte man bei ganz verschiedenen Themen im Religionsunterricht aufgreifen. Die Betonung liegt auf „könnte“. Denn man braucht es nicht unbedingt. Es brauchte bei mir persönlich sehr lange um zu begreifen, dass ja gar nicht alle Pädagogen automatisch etwas gegen rechts oder gegen Fremdenfeindlichkeit haben. Natürlich tauchen immer wieder Vorbilder wie Mahatma Gandhi, Martin Luther King oder Mutter Teresa auf. Doch kann man Werte nicht vermitteln wie beim Nürnberger Trichter: Oben Werte rein und unten kommt ein antirassistischer Schüler heraus. So einfach geht es eben nicht. Deshalb habe ich in meinem eigenen Unterricht möglichst ohne erhobenen Zeigefinger gearbeitet und habe selbst versucht, Fremdenfreundlichkeit vorzuleben. Das fängt ja schon bei der Sprache an. Ich sage immer: Sagen lassen sich die Menschen nichts; aber erzählen eine ganze Menge. So habe ich immer gerne Geschichten erzählt oder mit den Schülerinnen und Schülern zusammen etwas gestaltet oder Theater gespielt. Nur so lernt man, sich in andere hineinzuversetzen. Auf der anderen Seite ist mir ein realistisches Menschenbild wichtig: Die Menschen sind nicht automatisch für Frieden und gegen Rassismus. Die Wurzeln für Intoleranz liegen ganz tief im Herzen. Das hat viel mit der Identität zu tun, mit dem eigenen Selbstbild. Viele junge Menschen wünschen sich im anderen lediglich die Wiederholung ihrer selbst – ein Spiegelbild. Der Satz „Alle Menschen sind gleich!“ ist gut gemeint, aber auch gefährlich. Ich denke: alle Menschen sind ungleich, jeder Mensch ist anders. Und das ist auch gut so. Und gerade trotz dieser Verschiedenheit haben alle Menschen das gleiche Recht auf Menschenwürde.
Für mich heißt zum Beispiel Christsein auch, ein anderer Mensch werden zu dürfen. Ich darf mich verändern. Und ich muss nicht immer gleich sein, ein Gleicher sein. Ich gehe nicht im Konsens auf. Und auch nicht im Kollektiv! Nicht in der Einheitlichkeit liegt die Zukunft, sondern darin, das Anderssein eines anderen als Bereicherung zu sehen. Ich habe an einem neuartigen Unterrichtsmaterial mitgearbeitet, das eben nicht in Klischees das Thema Rassismus aufgreift, sondern mit unscheinbaren Dingen die Schülerinnen auf Entdeckungsreise zur Gewaltlosigkeit schickt: Das Buch hat den Titel „Hau drauf!? Kopiervorlagen zum Thema Gewalt, Streit und Schlichten und ist dieses Jahr bei Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen erschienen. Das Thema Gewalt in der Schule fängt für mich bei den Lehrkräften selbst an: Gibt es strukturelle Gewalt in meiner Schule oder im Unterricht? Wie gewaltvoll ist meine Sprache? Wie gehe ich mit der Heterogenität meiner Lerngruppen und meines Lehrerkollegiums um usw.
Sie haben mehrfach versucht, die Situation Ihrer Familie öffentlich zu thematisieren. Was genau unternahmen Sie und wie waren die Reaktionen darauf?
Darüber könnte ich inzwischen ein ganzes Buch schreiben … Niemand spricht über solche Sachen sonderlich gerne. Wir haben die Sache nie herumposaunt oder sind etwa damit hofieren gegangen. Doch haben wir natürlich in unserem Bekanntenkreis von Anfang an die Dinge angesprochen. In Lehrerfortbildungen und Arbeitskreisen habe ich vor ca. drei Jahren angefangen, die Dinge konkret beim Namen zu nennen und eben zu sagen, dass vieles nicht in die Rechts-Links-Schubladen passt. Bei einer Buchvorstellung Anfang 2007 sprach ich schonungslos alles an und auch durch Leserbriefe und eben den persönlichen Kommentar in den drei Kirchenzeitungen. Meine Frau führte Anfang September 2007 ein Interview, wo sie ihre Situation erschreckend offen zur Sprache brachte. Dies führte zu drei Radiobeiträgen, die Thüringen- und sogar weltweit gesendet wurden. Eine Journalistin der Kirchenzeitung führte daraufhin noch mal ein Interview mit meiner Frau. Dieses führte zu einem Beitrag anlässlich der „Woche des ausländischen Mitbürgers“ führte. Diese Bezeichnung finde ich übrigens schon bezeichnend … Meine Frau erklärte schon damals: „»Ich will nicht sagen, dass im Westen alles besser sei, aber dort im Rheinland gab es weniger Probleme. Ich habe hier ein neues, schlimmeres Leben kennen gelernt und zum ersten Mal erfahren, was es heißt, eine andere Hautfarbe zu haben.« Vor allem die Kinder leiden darunter. Der Älteste (9) habe bei der Geburt des jüngsten Geschwisterchens gesagt: »Hoffentlich bekommt er nicht so dunkle Haut wie ich.« Das macht betroffen.“ Es gab etliche Solidariätsbekundungen, zum Beispiel aus Mühlhausen und von einer Apothekerin in Rudolstadt. Jedoch keine Reaktion von kirchlicher Seite.
Erst 2008, als ihre Familie bereits wieder in die Gegend von Köln gezogen war, begann eine öffentliche Wahrnehmung dessen was geschehen war. Ein Artikel des Journalisten Markus Decker löste eine regelrechte Welle von Berichterstattung aus. Wie beurteilen Sie diese Berichterstattung? War sie eher fair oder eher unfair?
Wir erzählten nichts anderes als das, was wir schon längst zur Sprache gebracht hatten. Es wurde also quasi nur erneut aufgegriffen. Das, was meine Frau und ich zu erzählen hatten, wurde von den Journalisten wunderbar auf den Punkt gebracht. Es war eine Hilfe – besonders für meine Frau und unseren ältesten Sohn Jannik – eine Sprache für all das Erlebte zu finden. Die Fernsehteams waren unglaublich sensibel, wie z.B. der Beitrag in der Deutschen Welle dokumentiert. Wir haben viele Tränen in den Augen gesehen und echte Betroffenheit wahrgenommen. Was für uns inzwischen schon „normal“ geworden war, erschien plötzlich in einem klaren Licht und wurde als unglaublich eingestuft, als eine Form von Rassismus im Alltag. Natürlich gab es auch eine andere Form der Berichterstattung – insbesondere vor Ort in Thüringen. Dort war es etlichen wichtiger, den Ruf einer Region zu retten, als Unrecht beim Namen zu nennen. Die Differenzierungen, die wir gebracht hatten, wurden einfach ignoriert, um das Bild eines Nestbeschmutzers zu bedienen. Es wurde Muster aus alten Zeiten wiederbelebt: z.B. verstanden einige Journalisten und Pressesprecher noch immer gut die Methode der Diffamierung und Isolierung. Besonders beschämend fand ich den rein journalistisch schon unhaltbaren Beitrag in „Neues Deutschland“ oder im Deutschlandfunk, der von Landesbischof Kähler im Übrigen als „einzig sorgfältig recherchiert“ bezeichnet wurde, weil er ihm in den Kram passte. Da spielt die Wahrheit keine Rolle. Da waren die Tagesthemen schon seriöser. Tom Buhrow fragte ja zurecht, was es denn anderes als rechtsextremer Sprachschatz sei, wenn einer Frau gesagt wird „So etwas wie dich hätte man früher zwangssterilisiert!“. Der Tagesthemen-Beitrag löste ja eine Welle der Empörung aus. Ein Nachbar klingelte mich frühmorgens raus und brüllte mich an, ich würde die Medien bedienen.
Was mir noch aufgefallen war, dass in den Medien deutlich wurde, wie die Stadt und Kirche dauernd ihre Position verändern und anders reden musste, während meine Frau und ich quasi ungeschützt einfach erzählen konnten – mit ruhigem Gewissen, weil wir eben nicht lügen oder verzerren mussten. Ich fand es z.B. amüsant, dass in der ersten Mitteilung der Kirche stand, man hätte von den ausländerfeindlichen (!) Schwierigkeiten gewusst und mir Stellen an der „innerdeutschen Grenze“ angeboten. Diese innerdeutsche Grenze gibt es Gott sei Dank seit fast zwanzig Jahren nicht mehr. Und Ausländer ist in meiner Familie niemand. Und Stellenangebote hatte es auch nicht gegeben.
Wie reagierten Ihr Umfeld, die Bevölkerung von Rudolstadt und die Administration der Gemeinde auf die Berichterstattung?
Es gab keine einheitliche Reaktion. Viele hatten uns ja Mut gemacht, die Dinge beim Namen zu nennen. Als erstes leugnete man permanent, dass es überhaupt rechtsradikale Einstellungen in der Stadt gäbe. Dann brüstete sich sogar die Kirche damit, eine neonazistische Aktion verhindert zu haben. In Rudolstadt gab es jedoch auch gleich den Vorwurf, wir hätten Rudolstadt pauschal verurteilt als Neonazi-Nest und ähnliches. Wir galten bei vielen sogleich als Nestbeschmutzer. Die offiziellen Reihen schlossen sich. Man wollte uns zu Tätern machen. Ein alter Mechanismus, wenn es um das Recht von Opfern geht. Manche öffentlichen Äußerungen oder Leserbriefe und Beiträge im Internet kann man allerdings nur dann verstehen, wenn man um die Symbiosen und Zusammenhänge innerhalb der Stadt im Bilde ist. Der tiefgehende TAZ-Beitrag „Eine Stadt findet Schuldige“ hat diesen Sachverhalt erschreckend vor Augen gemalt. Der Superintendent gefiel sich zum Beispiel in der Funktion als jemand, der die Meinungen bündelt und so die Stadtbevölkerung zusammenschweißt. Man versuchte, meiner Familie die Schuld für die Vorfälle in die Schuhe zu schieben und die eigene Weste weiß zu waschen. Man forderte Beweise, sogar eine Entschuldigung für die angeblich von uns initiierte Medienkampagne. Es gaben sich Leute als unsere Freunde, Bekannte oder Nachbarn aus und diskreditierten insbesondere meine Frau und unseren Sohn. Mich selbst versuchte man in alt(national)sozialistischer Manier als kranken Reaktionär darzustellen und verzerrte Äußerungen von mir. Das ging sogar mit zum an Lächerlichkeit grenzenden Vorwurf, ich hätte dieses „Theater“ arrangiert, um mein Buch besser zu verkaufen. Ich glaube, dass viele einfach nur gekränkt waren – und vielleicht auch froh über ein gemeinsames Thema und ein verbindendes Feindbild.
Was sich mir überhaupt nicht erschließt ist folgender Gedankengang, der aus vielen Äußerungen mir entgegen springt: Wenn es fremdenfeindliche Attacken gab, dann war Familie Neuschäfer selbst schuld, denn sie hat sich ja nicht integriert oder hätte sich selbst isoliert oder war selbst aggressiv oder oder oder. Das hieße ja, dass jemand, der anders aussieht, sich besonders gut benehmen müsse oder er sei selbst für Probleme dann verantwortlich. Solche Gedankengänge sind für mich zutiefst rassistisch! Dies würde ja auch bedeuten, dass nach Einschätzung der Leserbriefschreiber die Personen, die meine Frau bespuckt haben, von meinen Einstellungen gewusst und deshalb diese Entwürdigung betrieben haben. Solche Gedankengänge finde ich irre. Sie sagen meines Erachtens viel aus über die Personen, die solche Äußerungen öffentlich machten.
Wie reagierte Ihr Arbeitgeber auf die Presseberichterstattung?
Im Grunde genommen war ihm ja schon alles bekannt gewesen. Doch aufgrund des Medienechos forderte man plötzlich eine Auflistung, um der Sache selbst nachzugehen. Das hätte man allerdings schon Monate vorher tun können. Erst aufgrund der erneuten Darstellungen in einigen Medien, sah man es für notwendig an, sich damit zu beschäftigen. Letzten Endes glaubte man wohl den Aussagen meiner Frau und mir nicht. Oder besser gesagt: diese Aussagen passten nicht in das kirchliche Weltbild. Das wurde dann meines Erachtens in dem Kanzelwort des Landesbischofs auf die Spitze getrieben. Er brachte das Stichwort „Sebnitz“ ins Spiel, wehrte sich gegen eine pauschale Verurteilung (die es ja nie von uns gegeben hatte!) und mahnte uns, nicht falsch Zeugnis zu reden. Dieses unsägliche Kanzelwort empfinde ich deshalb als äußerst infam und grotesk, weil der Landesbischof so etwas von den Kanzeln zu verlesen aufforderte, ohne mit meiner Frau oder mir gesprochen zu haben. Dies verletzte die Fürsorge und Integritätspflicht meines Arbeitgebers. Erst später wurde ich zu Gesprächen mit autoritärem Charakter eingeladen. Meine Frau und ich ließen uns auf keine Konspiration, Einschüchterung oder so ein, sondern sagten offen, was wir wie erlebten. Bis heute hat es keine Entschuldigung für das Kanzelwort oder andere Äußerungen gegeben. Ich weiß bis heute nicht, ob man wirklich an einer Lösung interessiert war.
Kann man sagen, dass Sie in Reaktion auf die Presseberichterstattung in Rudolstadt zu einem Verschwörer, Nestbeschmutzer u.ä. gestempelt wurden? Dass aus den Attackierten angeblich aggressive Angreifer gemacht worden sind?
Dies trifft die Sache auf den Punkt! Das Problem ist natürlich auch, dass bei der ganzen Sache viele verschiedene Facetten eine Rolle spielten: Während es uns lediglich um den Rassismus im Alltag ging, brachten andere immer wieder Nebenschauplätze ins Spiel. Damit meine ich, dass es für viele ein gefundenes Fressen war, dass ich was mit Kirche zu tun habe. Anderen war es ein Dorn im Auge, dass meine Frau und ich gemeinsam fünf Kinder haben. Wiederum problematisierten andere, dass wir ja ursprünglich aus dem Westen kamen. Alle diese Punkte haben meiner Meinung nach einen Fluchtpunkt bzw. Fixpunkt, nämlich den der Kränkung. Nachbarn, die von allem wussten, gaben sich plötzlich als nichtsahnend, um nicht unter den Verdacht zu fallen, nicht oder falsch reagiert zu haben. Es ist für Nachbarn natürlich auch unschön, eine leere Wohnung zu sehen, wo vorher Leben herrschte. Auch deshalb ist man gekränkt und enttäuscht.
Viele Bewohner Rudolstadts und andere Menschen in den fünf neuen Bundesländern behaupten, die Berichterstattung habe die Ostdeutschen kollektiv für die Diskriminierungen verantwortlich gemacht, die Ihre Familie durchlitten hat. Ist dies in der Berichterstattung geschehen?
Soweit ich das überblicken konnte, war die Berichterstattung differenziert. Wir haben immer betont, dass wir die Erfahrungen in Ostdeutschland gemacht haben. In Westdeutschland hatten wir derartige Probleme nie gehabt und auch seit nunmehr einem halben Jahr nicht. Das ist eine Tatsache, an der man nicht vorbei kann. Mir sagte ein Journalist, er habe den Eindruck, wir hätten in ein Wespennest gestochen. Das trifft es ganz gut: viele in Ostdeutschland wollen, dass die fremdenfeindlichen Besonderheiten lieber unter den Tisch gekehrt werden, anstatt sie offen anzusprechen und dann natürlich auch anzupacken. Das ist ja nicht mit Aktionen gegen rechts erledigt. Das habe ich einmal so formuliert, dass man „die Heilige Kuh“ des Ostens schlachten müsse. Damit meinte ich, dass wir eine Aufarbeitung der DDR-Geschichte ähnlich der 68er brauchen. Die DDR-Diktatur wird noch immer glorifiziert oder verharmlost. Ein ansprechender Schritt ist für mich zum Beispiel die hervorragende Ausstellung über den Antisemitismus in der DDR von der Amadeu Antonio Stiftung.
Gab es auch Menschen, die in dieser Auseinandersetzung öffentlich an Ihre Seite getreten sind?
Es gab etliche Politiker-Persönlichkeiten, die sich gegen eine Verharmlosung unseres „Falles“ ausgesprochen haben. Frau Göring-Eckhardt von den Grünen oder Bodo Ramelow von Die Linke positionierten sich deutlich. Der (damalige) SPD-Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende des Innenausschusses, Sebastian Edathy, hatte die ganze Sache ja überhaupt erst auf die journalistische Ebene gebracht. An der Uni Jena, wo ich als Lehrbeauftragter tätig bin, sorgte ein Professor dafür, dass auch im Fakultätsrat die Sache zur Sprache kam. In Leserbriefen haben sich etliche Personen geäußert. Wenn ein Leserbrief nicht unmittelbar aus der Rudolstädter Umgebung kam, wurde er sogleich als nicht ernst zu nehmen abgestempelt. Es ging also nicht um eine sachliche Auseinandersetzung, sondern um einen persönlichen Rachefeldzug vor allem gegen meine Person. Eine Leserbriefschreiberin wurde sogar als „Wessi-Freund“ beschimpft und bekam zu hören „Euch sollte man an die Wand stellen!“. Pfarrer, die sich öffentlich oder persönlich gegen Äußerungen der Kirche wandten, bekamen Post von höchster Stelle. Seit dem allem kann ich mir noch besser vorstellen, wie der Stasi-Apparat und die NS-Diktatur funktionieren konnten. Beeindruckt hat mich, dass ein Großteil der Pfarrer und Pastorinnen sich weigerte, das unsägliche Kanzelwort des Landesbischofs im Gottesdienst zu verlesen. Dazu standen sie auch öffentlich vor ihrem Dienstherrn. Diese Courage hat mich beeindruckt.
Die Stadt Rudolstadt hat, wie man der Presse entnehmen kann, inzwischen einen „Runden Tisch“ eingerichtet, der das Thema Rechtsradikalismus und Fremdenfeindlichkeit behandeln soll. Wurden Sie zu diesem „Runden Tisch“ eingeladen? Hat die Stadt je den Versuch gemacht, Sie mit Ihrer Familie zur Rückkehr zu bewegen?
Nein, diesen Versuch gab es nicht. Auf die Einladung, auch mit meiner Frau in Erkelenz oder auf halbem Wege ins Gespräch zu kommen, ging man gar nicht ein. Ich hatte sowieso den Eindruck, dass jede Investition oder Mühe zuviel war. Der „Runde Tisch“ war ja schon geplant gewesen, ehe die ganze Sache erneut an die Öffentlichkeit gekommen war. Auch dies ist für mich ein Signal, dass das Problem ja doch vorhanden gewesen sein muss, sonst hätte man ja nicht die Notwendigkeit eines solchen „Runden Tisches“ gesehen … Ich bin zu keinem der „Runden Tische“ eingeladen gewesen. Ich hatte auch nicht den Eindruck, dass man mit meiner Frau oder mir auf Augenhöhe kommunizieren wollte oder konnte. Man redete lieber hinter dem Rücken über mich als mit mir. Der Rudolstädter Superintendent hatte kein Problem damit, im Pfarrkonvent über mich zu reden, obwohl ich gar nicht darüber informiert war, dass „mein Fall“ auf der Tagesordnung stand. Ich war weder dazu eingeladen noch anwesend. Mir gegenüber verteidigte er diese Verhaltensweise als völlig richtig. Auch wenn ich nicht da bin, dürfe man doch über mich reden … „Also wenn das in der Kirche Schule machte, sähe ich schwarz!“, habe ich da nur geantwortet. Auch hier zeigt sich für meine Frau ein typisches Muster, wie mit Konflikten umgegangen wird. Man tut so, als wolle man Probleme klären, lässt aber die Betroffenen nicht wirklich zu Wort kommen, sondern diskreditiert sie. Vielleicht hat der Superintendent allergisch auf die Flucht meiner Familie reagiert, weil das Flüchtlingsverhalten am Ende der DDR-Zeit noch wie ein Trauma nicht verarbeitet ist. In einem Beitrag sagte der Superintendent, wenn man in der DDR so wie ich vor jedem Problem davongelaufen wäre, weil man angeblich (!) Feindschaft erlebt habe, hätte man einpacken können.
Ebenfalls der Presse war zu entnehmen, dass Sie demnächst Ihren Arbeitsplatz in Rudolstadt verlassen werden, nach Wernigerode wechseln werden. Was genau werden Sie dort machen?
Meine Stelle in Rudolstadt wird in die Südthüringer Kirchenmetropole Meiningen verlegt werden. Das war – ehe meine Familie übergangsweise nach Erkelenz zog – noch gar nicht klar gewesen. Dies entschied sich erst Anfang dieses Jahres. Mir ist nun für ein Jahr eine Projektstelle angeboten worden. Hierbei soll ich meine religionspädagogischen Kompetenzen in die Arbeit des Pädagogisch-Theologischen Instituts einbringen. Das mache ich gerne und darauf freue ich mich.
Ist schon jemand mit dem Wunsch an Sie herangetreten, die Geschichte Ihrer Flucht aus Rudolstadt, ihrer Ursachen und der Reaktionen auf die Presseberichterstattung zu dokumentieren? Halten Sie das für sinnvoll?
Reiner Andreas Neuschäfer: Von verschiedenen Seiten wurde schon angeregt, eine Dokumentation dazu zu erstellen. Auch ein Dokumentarfilm ist im Gespräch. Ich persönlich finde das sinnvoll, da wir ja kein Einzelfall sind. Vielleicht würden dadurch manche ermutigt, die eigenen Erfahrungen auch zur Sprache zu bringen. Noch wichtiger wäre wahrscheinlich, dass dadurch die Möglichkeit besteht, für die Thematik „Alltagsrassismus“ sensibler zu werden. Wenn dadurch Menschen auf andere Gedanken kommen oder Fremdenfeindlichkeit vermieden würde, hätte sich die Mühe schon gelohnt.
Herzlichen Dank für dieses Interview!
Das Interview ist ursprünglich auf dem Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ erschienen (2002-2022).