Rudolf Hess, der letzte überlebende Repräsentant des „Dritten Reichs“, starb 1987 in der Haft in Berlin-Spandau. Beerdigt wurde er im oberfränkischen Wunsiedel, aus dem die Familie seines Vaters stammte. Damit war er der einzige Nazi-Führer, der ein Grab bekam: Die im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess verurteilten und hingerichteten NS-Führer wurden eingeäschert und ihre Überreste in einen Bach gestreut. Damit war Wunsiedel wie geschaffen als Nazi-Wallfahrtsstätte für Jung- und Altnazis. Schon im Jahr nach Hess’ Tod organisierten Rechtsextreme um Christian Worch und Michael Kühnen den ersten „Gedenkmarsch“. Wunsiedel, so Kühnen, solle niemals zur Ruhe kommen.
Anfangs trafen sich um den Hess-Todestag im August nur rund 100 Neonazis in Wunsiedel, bis 1990 stieg die Zahl jedoch auf 1600. Ab 1991 wurden die Demonstrationen verboten, die Neonazis wichen in andere Orte aus, etwa Bayreuth, Rudolstadt oder Fulda aus. Bis nach Luxemburg oder Dänemark wurden die Neonazis durch Verbote und Gegendemonstrationen getrieben. Bis der Hamburger Anwalt und Neonazi Jürgen Rieger erstmals 2001 die Verbotsverfügungen des örtlichen Landratsamtes zu Fall brachte und vor Gerichten wieder einen Hess-Aufmarsch in Wunsiedel durchsetzte. In den Folgejahren stiegen die Teilnehmerzahlen stark, zur letzten zugelassenen Demonstration 2004 kamen nach Polizeiangaben 3800 Neonazis. Auch aus dem Ausland reisten Neonazis an, das alljährliche Spektakel entwickelte sich zum regelrechten „Pflichttermin“ im europäischen Nazi-Veranstaltungskalender.
Zunächst hatte die Stadt versucht, die Nazi-Demos durch Ignorieren und „menschenleere Straßen“ zu bewältigen – aktive Proteste, hieß es lange, schadeten dem Ansehen der Wunsiedels. Doch bald setzte sich die Einsicht durch, dass dies der falsche Weg war. 2004 beteiligte sich sogar CSU-Bürgermeister Karl-Willi Beck an einer Sitzblockade. Eine örtliche Jugendinitiative wurde 2005 vom Bundesinnenminister als „Botschafter der Toleranz“ ausgezeichnet.
Der Bundestag erließ 2005 eine „Lex Wunsiedel“
Bis 2010 hatte Jürgen Rieger in Wunsiedel jährliche Aufmärsche angemeldet. Stadt und Landkreis forderten Änderungen des Strafrechts, damit die Neonazi-Aufmärsche wieder verboten werden könnten. Am 1. April 2005 trat tatsächlich die „Lex Wunsiedel“ in Kraft, so wurde der neue Absatz 4 genannt, um den der Volksverhetzungsparagraph 130 im Strafgesetzbuch ergänzt wurde:
„Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer öffentlich oder in einer Versammlung den öffentlichen Frieden in einer die Würde der Opfer verletzenden Weise dadurch stört, dass er die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft billigt, verherrlicht oder rechtfertigt.“
Damit hatte der Bundestag ein grundsätzliches Verbot geschaffen, die Nazi-Herrschaft zu verherrlichen – und ab 2005 wurden die Demonstrationen auch in Wunsiedel wieder verboten. Dagegen klagte der Jürgen Rieger, Jahr für Jahr. Er ging den langen Weg durch die Instanzen, vom Verwaltungsgericht Bayreuth über den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof bis hinauf zum Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) in Leipzig. Am heutigen Mittwoch entschieden die Richter, sie hatten zwei grundgesetzlich garantierte Rechte gegeneinander abzuwägen: die Meinungs- und Versammlungsfreiheit gegenüber der Würde der Nazi-Opfer. Nach ausgiebiger Verhandlung und Beratung war das Urteil klar. Die Richter bestätigten das neue Gesetz. Und entschieden darüber hinaus, dass das 2005 vom Landratsamt Wunsiedel erlassene Verbot der Absicht dieses Gesetzes entsprach. Ob also die Demonstration „die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft billigt, verherrlicht oder rechtfertigt“ – oder ob sie als Meinungsäußerung zwar abscheulich sein mag, aber hingenommen werden muss. Auch hier stellten sich die Leipziger Richter hinter die örtliche Versammlungsbehörde: „Mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit“, so das Urteil, wären die „schweren Menschenrechtsverletzungen gebilligt worden“, die kennzeichnend für die NS-Herrschaft waren.
Dass die Teilnehmer der Nazi-Kundgebungen nur der Person Hess hätten huldigen wollen, wie Rieger argumentiert hatte, mochte das Gericht nicht glauben. Die in Neonazi-Kreisen beliebte Legende vom „Friedensflieger Hess“ diene dazu, „das nationalsozialistische System insgesamt als friedenswillig“ hinzustellen. Es dränge sich auf, dass „die Glorifizierung der Person Rudolf Hess als Billigung des nationalsozialistischen Regimes in allen seinen Erscheinungsformen und damit auch als Gutheißen der von diesem Regime ausgeübten Gewalt- und Willkürherrschaft“ wahrgenommen worden wäre, entschied das Gericht, das als Inhalt der Demonstrationen eine zwar verdeckte, aber „klar erkennbare, einschränkungslose Billigung des nationalsozialistischen Regimes“ sah.
So wegweisend wie das Brokdorf-Urteil von 1985
Das letzte Wort über die Zukunft der Neonazi-Aufmärsche in Wunsiedel ist damit aber noch nicht gesprochen. Der Verwaltungsrechtsweg ist mit der heutigen Entscheidung zwar ausgeschöpft. Rieger jedoch hatte bereits im Vorfeld angekündigt, bis nach Karlsruhe zu gehen. Das dortige Bundesverfassungsgericht hatte sich bereits in den vergangenen Jahren mit den Aufmärschen in Wunsiedel befassen müssen, denn Rieger hatte seit 2005 jedes Mal versucht, die Verbotsverfügungen per einstweiliger Verfügung aus Karlruhe kippen zu lassen. Jeweils erfolglos.
Das Hauptsacheverfahren aber ist durchaus offen, schon in ihren bisherigen Entscheidungen gaben die Verfassungsrichter zu erkennen, dass sie es sich nicht leicht machen werden. So hieß es in einer der Entscheidungen, dass der Fall „eine Reihe schwieriger verfassungsrechtlicher Fragen“ aufwerfe. Beobachter erwarten in jedem Fall ein ähnlich richtungsweisendes Urteil, wie es 1985 anlässlich der Demonstrationen von Atomkraft-Gegnern in Brokdorf erlassen wurde. Damals hatte Karlsruhe gegen die einschränkende und restriktive Praxis von Versammlungsbehörden geurteilt und das Versammlungsrecht unter liberalen Grundsätzen definiert, etwa durch die Zulassung von Spontandemonstrationen ohne vorherige Anmeldung. Nun könnte das Verfassungsgericht beispielsweise entscheiden, dass auch das Verherrlichen und Rechtfertigen der Nazi-Herrschaft vom Grundrecht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit geschützt wird – und damit Pläne zu Gesetzesverschärfungen zum Beispiel durch die Bayerische Landesregierung durchkreuzen.
Jürgen Rieger und Kameraden lässt sich von alldem nicht beirren. In diesem Jahr hat er für den 16. August eine Demonstration in Wunsiedel angemeldet.