Kellner (Belltower berichtete bereits letztes Jahr über ihn) hatte über seine Social-Media-Kanäle dazu aufgerufen, ihn mit einem „Meer aus Schwarz-Rot-Gold“ zu unterstützen. Den Prozess stellt er als „Kampf“ zwischen „Team Deutschland und Team Orient“ dar, indem er die „Spielführerbinde“ trage – so viel zu dem plumpen Rassismus, mit dem er seine Zielgruppe bedient.
Diejenigen, die am Donnerstag den Eingang des Gerichtsgebäudes belagern, meinen, dort die Meinungsfreiheit zu verteidigen und der vermeintlichen politischen und justiziellen Kampagne gegen „Deutsche“ entgegenzutreten. Etwa 150 von ihnen sind erschienen. Einige tragen Deutschland-Fahnen, andere gehören offensichtlich zu den „Gelben Westen Berlin“ oder sind in AfD-Merchandise gekleidet. Es fällt schwer, beim Anblick dieser Menschenansammlung nicht an „Pegida“ zu denken. Auch inhaltlich scheinen Kellners Fans der rechtsradikalen Bewegung nicht allzu fern zu sein. Nachdem der Einlass gestoppt wird, da der Gerichtssaal keine weiteren Plätze aufweist, werden Sprechchöre gestartet: „Wir wollen rein!“ und „Volksverräter!“. Parallel werden fleißig Videos für Kellners Fangemeinde in den sozialen Medien gedreht und Verschwörungstheorien ausgetauscht. Kellner würde allein schon deshalb verurteilt werden, weil er Deutscher sei, prognostiziert einer der Anwesenden. Kellner selbst allerdings ignoriert seine “Fans”, er lässt sich nicht vor der grölenden Menge blicken.
Nachdem klar wird, dass durch den Besucher*innen-Eingang kein weiterer Einlass möglich sein wird, versuchen die etwa 150 Personen, durch den Haupteingang näher an den Verhandlungsraum zu gelangen. Selbstverständlich ist kein Durchkommen, schließlich ist der Verhandlungsraum bereits voll. Die Kellner-Fans fühlen sich trotzdem in ihren Rechten verletzt und schwadronieren von nordkoreanischen Zuständen. Im Vorraum des Gerichtsgebäudes singen sie die Nationalhymne und stimmen erneut Sprechchöre an. Als die Polizei sie aus dem Gerichtsgebäude schickt, um anderen Menschen den Eintritt zu ermöglichen, wird „Rechtsbeugung“ moniert. Einer der Anwesenden hält eine scheinbar spontane Rede darüber, dass das „Volk“ seit Jahrzehnten hinters Licht geführt würde und spielt auf rechtsextreme Verschwörungstheorien wie den „Großen Austausch“ an. Dafür erntet er begeisterten Beifall der Kellner-Fangemeinde.
Erschreckend ist, wie fest Kellners Community in ihrer verschwörungstheoretischen Weltsicht verankert ist. Kellner selbst befeuert sie online mit rassistischen Inhalten und einer Plattform zum Austausch ihrer Parolen. Dass solche Ideologien alles andere als ungefährlich sind, sollte spätestens seit dem rassistischen Attentat in Hanau klar sein. Der dortige Täter war ebenfalls von einer geheimen Verschwörung gegen das „Volk“ überzeugt, die den „Großen Austausch“ steuere. Es wird Zeit, die Gefahr, die von solchen in sich geschlossenen Szenen ausgeht, ernst zu nehmen.
Das Amtsgericht Tiergarten hält Kellners Aussagen gegenüber Chebli unterdessen für gedeckt von der Meinungsfreiheit, wie der Tagesspiegel berichtet. Während der Staatsanwalt Kellners Beschimpfungen als massiv abwertend und rassistisch einschätzt – es sei um bewusste Diffamierung und nicht um politischen Diskurs gegangen – folgte das Gericht offenbar der Einschätzung Kellners, er hege keinen Groll und keine bösen Absichten gegenüber Chebli, er wolle ihr nur “Paroli bieten”.
Wer einen Blick allein auf Kellners YouTube-Channel (rund 200.000 Abonnent*innen) wirft, kann sich ansehen, wie das “Paroli bieten” aussieht: Allein in 2020 – zwei Monate! – hat Kellner 11 abwertende Videos über Chebli veröffentlicht, auch, weil sie sich gerichtlich gegen ihn zur Wehr setzt und die Hetze nicht kommentarlos hinnimmt. Das ist eine klare Einschüchterungsstrategie gegenüber anderen Angegriffenen. Doch auch 2019 geriert er sich bereits als geradezu besessen von der SPD-Politikerin – nur Carola Rakete hasst er mit vergleichbarer Intensität.
Nach Verkündigung des Urteils tritt Tim Kellner vor die Unterstützer*innen-Menge, die ihn mit der deutschen Nationalhymne begrüßen. Das gefällt der rechtsextremen Bloggosphäre natürlich, aber auch Max Otte von der “WerteUnion”.
Chebli kommentierte später: „Das heutige Urteil ist ein bitterer Tag, eine bittere Nachricht für alle, die sich tagtäglich für unsere Demokratie stark machen, für alle, die von Hass und Hetze betroffen sind, für alle, die von Rassisten beleidigt, bedroht und angegriffen werden.“
Das Signal, das dieses Urteil an rassistische Agitator*innen und vor allem an die Betroffenen rassistischer und rechtsextremer Gewalt aussendet, ist mindestens enttäuschend. Die radikalisierende Wirkung rassistischer Sprache im Internet wird offenbar weiterhin grob unterschätzt und die Betroffenen werden mit den Anfeindungen und Angriffen allein gelassen. Der Fall zeigt außerdem: Alle Verschärfungen des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes nützen nichts, wenn nicht auch Richter*innen bereit oder in der Lage sind, Hassrede als solche zu erkennen.
Sawsan Chebli hat gegen das Urteil auf Twitter Revision angekündigt. Unter dem Post finden sich eine Unmenge an Hasskommentaren gegen die Politikerin und Solidaritätsbekundungen mit Tim K.
Kellners Wutbürger-Community ist bestens vorbereitet: Die Abwertungen liegen zum größten Teilen nicht im strafrechtlich relevanten Bereich, versprühen ihr Gift aber dennoch. Wie aktiviert Kellners Fans sind, zeigt sich auch daran, dass sämtliche mit Chebli solidarischen Postings von mehreren Hass-Postings beantwortet werden.