An dieser Stelle 1990 schlugen Neonazis mit Lattenzäunen und Baseballschlägern Amadeu Antonio brutal zusammen, während die Polizei zusah. Elf Tage später, am 6. Dezember, starb er – eines der ersten Todesopfer rechter Gewalt im wiedervereinigten Deutschland. Heute, 32 Jahre später, haben sich rund 150 Menschen am Tatort an der Bundesstraße 167 in Eberswalde versammelt, um dem angolanischen Vertragsarbeiter Amadeu Antonio zu gedenken. Ein stiller Trauermarsch darf für kurze Zeit die Straße zurückerobern, einen Teil davon wollen Antonios Freunde und Familie seit Jahren nach ihm umbenennen lassen. Hier, wo heute ein griechisches Restaurant steht, legen sie Blumen nieder, zünden Kerzen an. Der Moment der Trauer wird aber immer wieder von hupenden oder rasenden Autos unterbrochen.
Ahmed Rahama, ein 35-jähriger Geflüchteter aus dem Sudan, ist sauer. „Jeden Montag machen die Rechten eine Kundgebung und schließen die ganze Straße bis zum Bahnhof“, sagt er ins Mikro. Er meint damit die wöchentlichen Demonstrationen der Pandemieleugner und Putinversteher. Es sei respektlos, dass heute die Straße für Amadeu Antonio nicht gesperrt sei, sagt er. Und dass sich Menschen nur einmal im Jahr am Tatort versammeln, reicht ihm nicht: „Wir brauchen kein Mitleid. Wir müssen das Problem des strukturellen Rassismus im ganzen Landkreis Barnim beenden.“
Seit drei Jahren wohnt Rahama in Eberswalde. Ein Schicksal, das er dem deutschen Asylgesetz zu verdanken hat, nach dem Asylsuchenden ein Landkreis zugeteilt wird. Hier engagiert er sich in der antirassistischen Initiative „Barnim für alle“. Kurz nach seiner Ankunft in der brandenburgischen Stadt erfuhr er zum ersten Mal von der Geschichte Amadeu Antonios, erzählt er nach seiner Rede im Gespräch. Zum zweiten Mal nimmt er heute an der jährlichen Gedenkveranstaltung teil. Das sei ihm wichtig: „Denn die Gefahr von rassistischer Gewalt besteht immer noch.“ In Brandenburg habe er wie fast alle Geflüchteten öfter Rassismus erlebt. Und angesichts der drohenden Wirtschaftskrise mache er sich Sorgen: „Das wird zu mehr rechtem Hass und Rassismus führen.“
Am Rande der Trauernden hält ein Mann im Anzug ein Schild hoch, auf dem „Amadeu-Antonio-Straße“ steht. Der 61-Jähriger heißt Neves, stammt ebenfalls aus Angola, war früher mit Amadeu Antonio befreundet. Eine Liebe für Motorräder hat die beiden Männer damals verbunden. Auch Neves war Vertragsarbeiter in der DDR: Im Werk des „Industrieverband Fahrzeugbaus“ im brandenburgischen Ludwigsfelde montierte er Nutzfahrzeuge. Bis heute kämpft er um seine Löhne von damals, wie viele Vertragsarbeiter aus den „sozialistischen Bruderländern“.
Heute arbeitet Neves im Bibliothekswesen und wohnt in Berlin. Er nimmt dieses Jahr zum ersten Mal an der Gedenkveranstaltung für seinen damaligen Freund teil. Er sei aber weder mit Auto noch Motorrad nach Eberswalde gekommen, sondern mit dem öffentlichen Nahverkehr – „aus nachhaltigen Gründen“, erzählt er. Aber ein Umweltbewusstsein hat für Neves einen Preis: „Die Angst ist immer da“, sagt er. Die Angst, unterwegs beleidigt, attackiert, gar ermordet zu werden. Er kritisiert, dass keine diplomatischen Vertreter seines Heimatlandes Angola zum Gedenken gekommen seien. „Wahrscheinlich denken sie, das betreffe sie nicht“, sagt er. „Aber rassistische Gewalt könnte jeden von uns betreffen.“
Nach der Gedenkveranstaltung treffen sich Freunde, Familie und Mitstreiter*innen beim afrikanischen Kulturverein „Palanca“. Gründer des Vereins ist Augusto Jone Munjunga: Er und Amadeu Antonio gehörten damals zu den rund 100 Vertragsarbeitern aus Angola, die im August 1987 in Eberswalde ankamen. Die beiden wohnten im selben Plattenbau, schufteten im selben Fleischkombinat. Über seinen damaligen Freund sagt Munjunga: „Er war eine gute, ruhige Person. Er hatte keine Probleme mit niemandem.“
Die Stimmung nach der Wende beschreibt Munjunga als „aggressiv“: „Im Kaufhaus wollten sie uns nicht bedienen. Auf die Straße zu gehen war sehr gefährlich, das war alleine nicht möglich, sondern nur zu dritt oder zu viert.“ Die Nachricht über die Ermordung Antonios war dennoch ein Schock. „Es hat uns noch mehr Angst gemacht.“
32 Jahre nach dem Tod seines Freunds kämpft Munjunga immer noch unermüdlich gegen Rassismus. „Sie haben einen von uns getötet“, sagt er, „aber wir bleiben hier in Eberswalde“. Wenn er heute noch Angst hätte, könnte er bei „Palanca“ nicht weitermachen. „Wir haben gesagt: Wir müssen kämpfen.“ Seit 1994 gibt es den Verein, der über Rassismus und das Schicksal der Vertragsarbeiter*innen in der DDR aufklären will. Zum Schwerpunkt gehört Bildungsarbeit in lokalen Schulen. Der Laden ist inzwischen ein Anlaufpunkt für Geflüchtete aus aller Welt, zuletzt auch aus der Ukraine.
„Wir brauchen aber auch finanzielle Mittel, um unsere Arbeit weitermachen zu können“, sagt Munjunga, „wir brauchen Unterstützung“. Aktuell arbeiten alle Vereinsmitglieder ehrenamtlich. Doch die Arbeit wird nicht weniger, im Gegenteil. „Gegen Rassismus zu kämpfen ist keine Aufgabe, die heute oder morgen erledigt sein wird“, so Munjunga.
Das wird heute in Eberswalde besonders deutlich: In den 32 Jahren seit der Ermordung Amadeu Antonios seien alleine in Brandenburg 34 Menschen aus rechtsextremen, rassistischen und antisemitischen Motiven getötet worden, sagt in seiner Rede Timo Reinfrank, Geschäftsführer der Amadeu Antonio Stiftung. Bundesweit sind es mindestens 219 Todesopfer. „Und das Gedenken an Amadeu Antonio passiert nicht von alleine“, betont Reinfrank. „Wir müssen es erkämpfen.“