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„Zusammenrücken in Mitteldeutschland“ Neonazistische Umzugshilfe von West nach Ost

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Die rechtsextreme Initiative „Zusammenrücken in Mitteldeutschland“ unterstützt völkische Neonazis, die mit ihren Familien aus Westdeutschland in die östlichen Bundesländer ziehen möchten. (Quelle: Screenshot Promo-Video "Zusammenrücken Mitteldeutschland")

„Zusammenrücken“ ist „eine Gemeinschaft von Deutschen, die der Überfremdung nicht einfach weiter tatenlos zusehen wollen“. Die Initiator:innen hätten sich zusammen gefunden, weil das deutsche Volk, die Völker Europas, angeblich bedroht seien. Deshalb wollen sie zusammenrücken, um letztendlich das „deutsche Volk zu erhalten“, so erklärt es ein rechtsextremer Netzwerker der Initiative „Zusammenrücken“ in einem Interview. Die Aktivist:innen sprechen von einer angeblichen „großen zusammenhängenden Volkssubstanz“, die es in Mitteldeutschland noch gäbe und die sie nun nutzen müssten.  

Neonazis der Initiative „Zusammenrücken“ helfen völkischen, deutschen Familien, die wegen einer imaginierten Überfremdung ein Leben in Westdeutschland nicht mehr erstrebenswert empfinden, bei ihrem Umzug gen Osten. 

Mit rassistischer Werbung, in der auf die geringe Anzahl von Migrant:innen in Ostdeutschland verwiesen wird, versuchen Neonazis eine Art faschistische Landnahme voranzutreiben. Besonders betroffen sind Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Die Aktivist:innen der Initiative wirken dabei als Netzwerker:innen, um die Umzugswilligen in die neuen Dorfgemeinschaften einführen. Es gibt sogenannte Botschafter für bestimmte Regionen, die Leitungsaufgaben innehaben und Familien bei einem geplanten Umzug helfen, bei der Hof- und Jobsuche und beim Netzwerken.

Der völkische feuchte Traum: Weiße Siedlungsräume in Ostdeutschland

Seit Februar 2020 werben Neonazis in sozialen Netzwerken für„Zusammenrücken in Mitteldeutschland“. Einer der Hauptverantwortlichen ist Christian Fischer. Er will im Osten Deutschlands Siedlungsräume schaffen, die frei von Migrant:innen oder Deutschen mit Migrationshintergrund sind.

Christian Fischer war am 13. Februar in Dresden bei einem neonazistischen Gedenkmarsch als Ordner tätig

In einem rechtsextremen Podcast spricht er von einer angeblichen „großen zusammenhängenden Volkssubstanz“ in Mitteldeutschland, die genutzt werden müsse. In Westdeutschland gebe es überall „afrikanische und arabische Siedlungsgebiete“ und deren Jugendkultur sickere auch in den ländlichen Raum in Westdeutschland ein. Er schwärmt von mittelgroßen Städten im Osten, die quasi „ausländerfrei“ seien. In Sachsen gäbe es zwar „linke“ Städte wie Leipzig, sagt Fischer, das seien aber immerhin noch Deutsche, mit denen könne man noch arbeiten. „Die haben das Potenzial, noch ein anständiger Deutscher zu werden. Politisch mit irgendeinem Moslem oder mit irgendeinem Araber zu arbeiten nutzt nichts, auch wenn der hinterher meiner Meinung ist.“ Auch wenn er nach einer ideologischen Indoktrinierung Weißwurst äße und Bier trinken würde, bliebe er Araber oder Afrikaner.

Spätestens hier sollte klar sein, was für ein Volksverständnis diese Siederler:innen haben: Ein biologistisches. Deutschsein, gar die deutsche Rasse, definiert sich bei ihnen über das Blut, über die Vorfahren. Menschen, die seit Generationen in Deutschland leben, deren Großeltern jedoch beispielsweise aus der Türkei kamen, sind für Fischer und Co. trotz ihres deutschen Passes keine Deutschen.

Die Blut-und-Boden-Ideologie der Nazis

Die ideologischen Ursprünge dieser Bewegung liegen weit zurück, im Blut-und-Boden-Weltbild der Nazis. Bäuerliche Lebensformen wurden dabei nicht nur idealisiert und als Gegengewicht zur Urbanität gesetzt, sondern auch mit rassistischen und antisemitischen Ideen verknüpft, die eine germanisch-nordische Rasse als Bauerntum einem angeblichen jüdischen, entvölkerten Nomadentum entgegensetzen. Die ideologische Basis bot die Vorstellung eines rassistisch definierten Volkskörpers in harmonischer Einheit mit seinem Siedlungsgebiet. Für die reine, bäuerliche Gesellschaft brauchten die Nazis neuen Lebensraum, den sie im Osten eroberten und „germanisierten“. Davon träumen auch heutige Nazis noch.

Leisnig und seine völkischen Bewohner:innen

Christian Fischer stammt ursprünglich aus dem niedersächsischen Vechta und war ehemals Kader der inzwischen verbotenen „Heimattreuen Deutschen Jugend“ (HDJ). Die HDJ galt bis zu ihrem Verbot 2009 als Nachfolgeorganisation der „Hitler Jugend“ und diente der nationalsozialistischen Indoktrinierung von Kindern. Später wurde Fischer Landesvorsitzender der Jugendorganisation der NPD, der „Jungen Nationalisten“ (JN). Weil er „Rasseschulungen“ für Kinder organisiert hatte, wurde er zur einer Bewährungsstrafe verurteilt. 2014 nahm er am Aufmarsch der gewaltbereiten „Hooligans gegen Salafisten“ in Hannover teil. Fischer besuchte gen Ende öfter den NSU-Prozess. Mit weiteren Kameraden hörte er sich Teile der Plädoyers der Anwält:innen von Andre Emminger und Ralf Wohlleben an. 2018 hat er sich einen Hof im rund 65 Kilometer von Leipzig entfernten sächsischen Leisnig erworben. Dort lebt er nun mit Frau und Kindern und ist Teil einer Gruppe von militanten Neonazis, die seit 2019 in der Region Immobilien erwirbt. Zu seinen rechtsextremen Nachbarn zählen etwa die beiden Neonazis Lutz Giesen und Mario Matthes, beide waren ebenfalls in der HDJ aktiv.

Lutz Giesen war am 13. Februar bei einer rechtsextremen Gedenkveranstaltung in Dresden als Redner tätig

Völkische Siedler:innen

Fischer will, dass weitere Kamerad:innen seinem Beispiel folgen und auf dem ostdeutschen Land Höfe kaufen, um weiße-völkische Siedlungsprojekte zu gründen. Die völkische Siedler-Bewegung will sich im ländlichen Raum niederlassen, um dort ihre Idealvorstellung der „Volksgemeinschaft“ im Kleinen umzusetzen. Abseits von staatlichen Strukturen versuchen die rechtsextremen Siedler:innen hier, eigene Netzwerke aufzubauen und bereits bestehende Gefüge zu unterwandern. Ihre Strategie ist langfristig angelegt und zielt darauf ab, vor Ort eine Vormachtstellung und so politischen Einfluss zu erlangen.

Frauen mögen nach außen hin nicht so sichtbar wirken, sind jedoch von hoher Relevanz für diese Szene: Sie sorgen dafür, dass Hemmschwellen gegenüber den Nachbar:innen fallen. Sie sind häufig die Netzwerkerinnen mit der Dorfgemeinschaft und geben der rechtsextremen Familie ein freundliches Gesicht. Ideologisch sind sie jedoch genau so gefestigt wie ihre Männer und daher nicht weniger gefährlich.

Die Aktivist:innen geben sich gerne als hilfsbereite Nachbar:innen und sorgende Eltern, um in ihrem Umfeld akzeptiert zu werden und Vertrauen aufzubauen. Über ihren rund 5.000 Abonnent:innen starken Telegram-Kanal rufen die Aktivist:innen von „Zusammenrücken“ beispielsweise gleichgesinnte Nationalist:innen dazu auf, sich als Lehrkräfte an Schulen in Sachsen-Anhalt zu bewerben. Die Neonazis wollen den rechten hegemonialen Raum in Ostdeutschland noch stärker erweitern. Dabei versuchen sie in alle Teile des gesellschaftlichen Lebens einzudringen.

Tendenz zur Sichtbarkeit

In der Regel geben sich rechtsextreme völkische Siedler:innen unauffällig. Sie meiden die Öffentlichkeit. Alles läuft sehr klandestin. Bei den Aktivist:innen von „Zusammenrücken“ ist das anders. Im Zuge der Proteste gegen die Corona-Schutzmaßnahmen treten sie offen auf, veranstalten etwa Kundgebungen in Leisnig. Vordergründig geht es um Freiheit, um das Wohl der Kinder. Die Rechtsextremismus-Expertin Andrea Röpke sagt in einem MDR Interview, dass sie diese Tendenz, dass Völkische die Öffentlichkeit suchen, an mehreren Orten sieht. Sie deutet das als gestiegenes Selbstbewusstsein der Szene.

Warum ist gerade der Osten so attraktiv?

Ziel der rechtsextremen Siedler-Bewegung ist es, ländliche Regionen zu besetzen, um völkische Traditionen auszuleben. Sie wollen in den betroffenen Gebieten auf Jahrzehnte hinweg kulturelle Hegemonie für die eigenen Ideale erlangen. Auf großen Widerstand treffen sie dabei im Osten meist nicht.

Seit den 1990er Jahren warnen Expert:innen davor, dass Neonazi-Kader sich bewusst in strukturschwachen Regionen einnisten, um ihre Ideologien wegen des geringeren demokratischen Widerstands verbreiten zu können. Ihre Präsenz hat für die regionale Szene einen beschleunigenden Effekt. Doch auch in Westdeutschland gibt es strukturschwache Gebiete. Was macht den Osten, speziell Mitteldeutschland, so begehrt für Neonazis?

Die günstigen Immobilienpreise spielen sicherlich ein Rolle für die Umzugsbewegungen, doch relevanter scheint das gesellschaftliche Klima, in das sich die Neonazis hier begeben: Die rechtsextreme Jugendkultur der 1990er Jahre wurde in einigen Teilen Ostdeutschlands zum Mainstream. So hat sich über die Jahrzehnte hinweg eine Art rechtsextreme Erlebniswelt etablieren können, von Netzwerken bis zu Rechtsrock-Konzerten. Rechtsextreme Symbole, die Neonazis im Alltag zeigen, werden oft kaum bis gar nicht sanktioniert. Die Zivilgesellschaft in ostdeutschen Bundesländern ist an vielen Orten schwach aufgestellt und permanenter Einschüchterung ausgesetzt. Neonazis können hier ungestört unter sich leben. Sie versuchen sich in Selbstversorgung und können wirtschaftliche und soziale Netzwerke aufbauen. An den Schulen müssen sie keine störenden Einflüsse befürchten, eine kritische Zivilgesellschaft scheint zunächst nicht zu existieren und von Verwaltungsseite droht auch keine nennenswerte Störung, analysiert das Kulturbüro Sachsen in einer Broschüre über völkische Siedler:innen im Freistaat. Gleichzeitig wähnen sich die Aktivist:innen in einem gesellschaftlichen Klima, welches die rassistischen Positionen mitträgt: „Mich hat das schon manchmal gewundert, dass der normale Bewohner Mitteldeutschlands teilweise radikaler in seinem freien Sprechen ist als Nationalisten in Westdeutschland“, so einer der Akteure der Initiative „Zusammenrücken“.

„Zusammenrücken“ nimmt nun seit 2020 eine Vermittlerrolle ein, um die Hürden eines Umzugs in den Osten für völkischen Familien und Neofaschist:innen so gering wie möglich zu halten. Nach eigenen Aussagen soll das Projekt nicht nur Nationalist:innen ansprechen, sondern jeden Deutschen. Wer deutsch ist, darüber haben sie ihre ganz eigenen Vorstellungen. Zu ihren Zielgruppen gehören nationale Familien, politische Aktivist:innen und  „Deutsche, die einfach nur deutsch sind“. Die Angebote der Initiative sollen bereits Aktivist:innen von der neofaschistischen Partei „III. Weg“, von der NPD und von freien Strukturen angenommen haben, „sogar ein paar halb Rechte, aber diese Organisation nennen wir jetzt nicht, weil sonst kriegen wir Ärger“, so einer der Initiatoren in einem Podcast. Die Initiative „nimmt eine Scharnierfunktion zwischen verschiedenen rechten Gruppen ein und forciert somit die Ausbildung einer faschistischen Bewegung in ländlichen Räumen“, schreibt das Kulturbüro Sachsen

Nach eigenen Angaben bekommt die Initiative mehr Nachfragen, als sie Angebote schaffen kann. Ob das stimmt, ist schwer zu beurteilen. Doch bedingt durch die Corona-Pandemie und den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine könnte die faschistisch-völkische Szene weiter an Zuwachs und Aufwind gewinnen. 

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