„Heute ziehen wir Bilanz!“ – Marina Chernivsky, Leiterin des Kompentenzzentrums Prävention und Empowerment trat als erstes ans Rednerpult, um die Veranstaltung „Zwei Jahre Antisemitismus-Bericht: Viel erreicht – viel zu tun!? Die Perspektive der Prävention und Intervention“ in der Berliner Landeszentrale für politische Bildung zu eröffnen. Geladen hatten neben dem bei der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e.V. (ZWST) angesiedelten Kompentenzzentrum die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIgA) e.V. und das Anne Frank Zentrum.
Im Juni 2017 hatte der vom Bundestag berufene unabhängige Expertenkreis Antisemitismus einen Abschlussbericht seiner rund zweijährigen Arbeit veröffentlicht, und darin neben einer Darstellung des Problems in seiner ganzen Breite auch mehr oder weniger konkrete Handlungsvorschläge vorgelegt. Nach zwei Jahren sollte also nun der Stand ihrer Umsetzung reflektiert werden.
Chernivsky lobte in ihrem Eröffnungsvortrag zwar den Bericht der Expertenkommission nochmals für seine dem Thema angemessene Komplexität und Vielfältigkeit, besonders für die Integration jüdischer Perspektiven, zeichnete jedoch zugleich eine „beunruhigende Entwicklung“ nach, in der jüdisches Leben in Deutschland noch weit davon entfernt sei, Normalität zu sein.
Nach Marina Chernivsky begrüßten auch Aycan Demirel, Direktor der KIgA, und Patrick Siegele, Direktor des Anne Frank Zentrums, die Besucher*innen in der gut gefüllten Landeszentrale. Gerade Siegele nutzte seinen Beitrag auch für inhaltliche Bestimmungenn historisch-politischer Bildungsarbeit, wie sie das Anne Frank Zentrum betreibt, und forderte eine nicht historisierende, partizipative Arbeit mit Jugendlichen, die ihnen über eine multiperspektivische Darstellung der Handlungsspielräume im Nationalsozialismus einen Transfer des Gelernten in die Gegenwart ermögliche. Außerdem, so Siegele weiter, seien zur Bekämpfung des Antisemitismus breite Bündnisse zwischen Zivilgesellschaft, Politik und Verwaltung notwendig. Weiterhin dürfe die Präventionsarbeit im ländlichen Raum nicht vernachlässigt werden, wie es allerdings in sämtlichen Regionen nötig sei, Geschichte und Gegenwart jüdischen Lebens in Deutschland auf die Lehrpläne zu setzen, um jungen Menschen Juden nicht nur in der Opferrolle zu präsentieren.
Den Begrüßungen und Einführungen der Gastgeber folgte dann der Hauptteil der Veranstaltung, eine prominent besetzte Podiumsdiskussion unter dem Motto „Was wurde erreicht? Was ist zu tun?“, die souverän von Jutta Weduwen, der Geschäftsführerin der “Aktion Sühnezeichen Friedensdienste”, moderiert wurde. Auf dem Podium saßen Petra Pau, MdB für Die Linke und Bundestagsvizepräsidentin, Dr. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dr. Felix Klein, der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung und Thomas Heppener, Leiter des Referats für Demokratieförderung im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und damit verantwortlich für das bundesweite Förderprogramm „Demokratie leben!“.
Josef Schuster erinnerte gleich zu Beginn daran, dass dem fraglichen Antisemitismusbericht schon 2011 ein ähnliches Papier vorausgegangen war. Im Gegensatz zu diesem ersten Bericht hätten die Ergebnisse der Expertenkommission von 2017 ein enormes Echo gefunden, sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Politik. Als wichtigstes Ergebnis sei natürlich die Ernennung eines „Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus“ (kurz: Antisemitismusbeauftragten) zu werten. Gleichzeitig bezeichnete auch Schuster die Situation heute als „erschreckend“: immer deutlicher und offener werde Antisemitismus geäußert. Hoffnung gebe ihm allerdings seine Erfahrung als Mediziner: auch dort werde eine Wunde zu Beginn der Behandlung zunächst größer, bevor der Heilungsprozess einsetze.
Anschließend umriss Felix Klein seine Aufgaben als Antisemitismusbeauftragter und berichtete aus seiner mittlerweile einjährigen Arbeit. Er habe vor allem versucht, dem Thema Anerkennung zu verschaffen und ein Umdenken einzuleiten, damit Antisemitismus nicht weiter als hauptsächlich jüdisches Problem gesehen werde. Sein wichtigstes Projekt sei, neben der bundesweiten Ausdehnung der Meldestelle für antisemitische Vorfälle RIAS, die Einrichtung einer Bund-Länder-Kommission zum Thema, die kurz bevorsteht. Weiterhin seien in mittlerweile 10 Bundesländern Landesbeauftragte für Antisemitismus einberufen worden, in Berlin sei dies angekündigt. Auch Josef Schuster wertete die Einsetzung von Beauftragten auf Landesebene positiv, die Anforderungen seien doch regional teils sehr unterschiedlich und Berlin scheine oft „weit weg“.
Petra Pau mahnte, die Einsetzung von Antisemitismusbeauftragten alleine sei noch keine Lösung, diesen müssten eben auch Mittel und Infrastruktur zur Verfügung gestellt werden, wie auf Bundesebene ja lobenswerter Weise geschehen. Auch im Bundestag werde das Thema zu oft an einzelne Abgeordnete, „Zuständige“, delegiert – „es sei denn, ‚es passiert etwas‘“. Passenderweise wird heute im Bundestag über verschiedene Anträge zum Thema BDS-Bewegung debattiert. Als positives Beispiel für gute Projekte, die nur eben Zeit bräuchten, hob Pau das Online-Portal anders-denken.info hervor, auf dem didaktisches Material zur Bildung gegen Antisemitismus bereitgestellt wird. Auch hier sei die Aufklärung über jüdisches Leben in Deutschland ein Schlüssel zur Antisemitismus-Pprävention, da nur so verhindert werden könne, dass Kinder und Jugendliche ihren ersten Kontakt mit dem Judentum über antisemitische Versatzstücke in Rap-Songs erlebten.
Thomas Heppener gewährte anschließend Einblicke in die Arbeit des Förderprogramms „Demokratie leben!“ Angesiedelt im Familienministerium, fördere „Demokratie leben!“ im Bereich Antisemitismus 18 bundesweite Modellprojekte, darunter die drei veranstaltenden Organisationen. Insgesamt unterstützte das Programm im Jahr 2018 verschiedene Initiativen mit insgesamt 115 Millionen Euro. Der vielfach geäußerten Forderung nach einer Verstetigung der Förderung, um den geförderten Projekten Planungssicherheit und konstante, nachhaltige Arbeit zu ermöglichen, trage das Familienministerium mit der Entfristung des ursprünglich 2019 auslaufenden Programms Rechnung. In der Förderphase ab 2020 werde man besonderes Augenmerk auf die Entwicklung bundesweiter Kompetenzzentren und –netzwerken legen. Auch Petra Pau begrüßte die Entfristung von „Demokratie leben!“ Josef Schuster lobte das Programm dafür, breit aufgestellt zu sein und so die Breite des Problems der Demokratiefeindlichkeit zu reflektieren.
Moderatorin Jutta Wedewun weitete dann die Perspektive und lenkte die Debatte auf Ausprägungen des Antisemitismus in unterschiedlichen Milieus, von denen Thomas Heppener versicherte, sie seien durchaus im Förderprogramm abgedeckt. Weiter regte Wedewun an, bei zukünftigen Projekten stärker in den Blick zu nehmen, dass verschiedene Formen der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit oft gleichzeitig in den Zielgruppen der Präventions- und Interventionsarbeit aufträten.
In der Fragerunde schließlich wurde am ausführlichsten eine Frage nach einer internationalen Perspektive auf den Kampf gegen Antisemitismus beantwortet. Felix Klein verwies etwa auf das gerade vorgestellte Europäischen Netzwerks zum Thema Bildung gegen Antisemitismus, bekräftigte seine Absicht, auch auf europäischer Ebene die IHRA-Arbeitsdefinition von Antisemitismus durchzusetzen und würdigte die Arbeit der EU-Beauftragten für Antisemitismus, Katharina von Schnurbein.
Trotz teils bedrückender Gegenwartsanalysen herrschte also insgesamt eine durchaus optimistische Sicht auf das Problemfeld Antisemitismus vor. Der Bericht des unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus hat Entwicklungen angestoßen, deren wichtigste wohl mit auf dem Podium saß: die Arbeit des Antisemitismusbeauftragten Klein wurde von allen Seiten positiv bewertet. Nicht nur ist das Thema dauerhafter im öffentlichen Bewusstsein präsent, auch die Schaffung von Strukturen wie den Landesbeauftragten für Antisemitismus oder der Bund-Länder-Kommission sorgt für einen hoffentlich nachhaltigen Effekt auf die Antisemitismus-Prävention. Die Entfristung des wichtigsten Demokratieförderprogramms schließlich lässt ebenfalls auf positive langfristige Auswirkungen der in den letzten Jahren angestoßenen Maßnahmen hoffen. Nach gezogener Bilanz dürften die einladenden Organisationen also durchaus hoffnungsvoll ihre Arbeit fortsetzen. In den Worten von Aycan Demirel (KIgA): „Es gibt viel zu tun!“