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1990 Steckt eine „Anti Kanaken Front Kempten“ hinter dem Mord an einem Fünfjährigen?

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Rechte Gewalttaten sind „Botschaftstaten“: Sie treffen nicht nur die Opfer, sondern sind auch ein Angriff auf die Gruppe, für die die Opfer stehen. (Quelle: AAS)

In der Nacht vom 17. November 1990 dringen Unbekannte gegen 2.45 Uhr in ein Wohnhaus in der Füssener Straße 24 im allgäuischen Kempten ein. Im hölzernen Treppenhaus verschütten sie vor zwei Wohnungen im zweiten und dritten Stock eine brennbare Flüssigkeit und zünden diese an. Die sechsköpfige Familie S. lebte damals mit anderen Bewohnern türkischer Herkunft in dem dreistöckigen Haus am Rande der Kemptener Innenstadt. Die Journalistin Heike Kleffner berichtete 2020 für ZEIT Online von den Ereignissen aus jener Nacht und erzählt die schrecklichen Momente der Familie S. nach:  

Ghökan S. (Namen geändert), ein Teenager, der kurz vor seiner Volljährigkeit steht, erwacht durch die Schreie seiner Mutter. Dunkler Rauch wabert durch ihre Wohnung. Er packt seinen fünf Jahre alten Bruder und schleppt ihn, nach Luft ringend, zu einem Fenster. Dort bricht er zusammen. Ihm, seinem Zwillingsbruder Guney, der damals 18-jährigen Schwester Zeynep und der Mutter gelingt der lebensrettende Sprung aus dem Fenster. Zeynep S. hat einen Wirbelbruch, sie entkommt nur knapp einer Querschnittslähmung.

Minuten vergehen, so schildert es Kleffner, bis die Feuerwehrleute verstehen, dass sich der kleine Bruder noch immer im Kinderzimmer befindet, aus dessen Fenstern dichter, schwarzer Rauch quillt. Schließlich retten die Feuerwehr den Jungen mit einer Leiter. Für ihn kommt die Hilfe jedoch zu spät. Er verstirbt wenig später im Krankenhaus an den Folgen einer Rauchvergiftung.

Die Polizei ermittelt im Wohnumfeld

Die Polizei nimmt die Ermittlungen auf, jedoch nur wegen Brandstiftung und nicht wegen Mordes oder Totschlags. Sie ermitteln im Wohnumfeld der Opfer, da sie von einem Streit unter Nachbarn ausgehen. Die Ermittlungen führen zu keinen Ergebnissen und wurden im August 1992 schließlich eingestellt.

Der Fokus auf das nahe Umfeld bei migrantischen Opferfamilien ist nicht ungewöhnlich in ähnlichen Untersuchungen, wie auch die Ermittlungen zu den NSU-Morden zeigen. Auch hier gingen Behörde jahrelang von Täter:innen aus dem migrantischen Umfeld der Opfer aus. Erst durch die Selbstenttarnung des NSU stellte sich heraus, dass alle neun Opfer durch das NSU-Netzwerk getötet wurden.

„Anti Kanaken Front Kempten“ bekennt sich zur Tat

Kurz nach dem Brand im November 1990 in Kempten bekam die Allgäuer Zeitung ein Schreiben zugeschickt. Eine selbsternannte „Anti Kanaken Front Kempten“ bekannte sich darin zu dem Brand. In dem mit Runen und Hakenkreuzen verzierten Schreiben zeigte sie sich verantwortlich für den Brandanschlag: Der „von uns verübte, sehr erfolgreiche Anschlag auf das von Türken bewohnte Haus in der Füssener Straße war erst der Anfang.“ Dann droht die „Anti Kanaken Front Kempten“ weiter: „Wir werden nicht ruhen, bis Kempten von allen undeutschen Kreaturen befreit ist.“ Und: Kempten werde die „erste Stadt sein“, die „nicht von Schwulen, Linken, Ausländern und anderen Schweinen geplagt“ werde.

Dr. Ruhland, Pressesprecher der Generalstaatsanwaltschaft München, sagte gegenüber Belltower.News, dass damals schon in Richtung des Bekennerschreibens ermittelt wurde. „Es gab damals aber keine Hinweise darauf, dass eine solche Gruppe mit diesem Namen tatsächlich aktiv war.“ Außerdem gab es in dem Schreiben der „Anti Kanaken Front Kempten“ kein Täterwissen. Es hätte sich daher auch um einen Trittbrettfahrer oder aus dem ganz anderen Lager stammen können, so Ruhland.

Wurde damals ein rassistisches Motiv ausgeblendet?

Wesentlichen Einfluss auf die Ermittlungen hatte das Schreiben offenbar nicht. Es gibt große Zweifel, ob die Ermittelnden von damals ein rechtsextremes Tatmotiv ausreichend verfolgt haben. Sebastian Lipp von Allgäu rechtsaußen erzählt gegenüber Belltower.News von einem Neonazi, der zur Tatzeit in der Nähe des Hauses gewohnt hat. Er soll aktiv in der 1992 verbotenen Neonazi-Partei „Nationalistischen Front“ gewesen sein. Er wurde laut Staatsanwaltschaft nicht überprüft, berichtet ZEIT Online. Und auch weitere Brandanschläge in der Region wurden offenbar nicht berücksichtigt.

Am 6. Oktober 1990 verübten drei Neonazis einen Brandanschlag auf eine Arbeitersiedlung in Kaufbeuren. In der Nacht zum 12. Oktober 1991 zündeten Unbekannte Autoreifen im Treppenflur eines von türkischstämmigen Menschen bewohnten Haus an. Sieben Menschen wurden zum Teil schwer verletzt. Einen Tag später, am 13. Oktober 1991, wurde ein alter Pfarrhof in Immenstadt, in dem Geflüchtete untergebracht waren, bei einem rassistischen Brandanschlag verstört. „Zwei Kurden überlebten schwer verletzt, nachdem sie sich durch einen Sprung aus dem Fenster retten konnten“, berichtet der Störungsmelder. Drei rechte Skinheads wurden als Brandstifter ermittelt.

Ermittlungen wegen Mordes wieder aufgenommen

Ende des vergangenen Jahres hatte die bei der  Generalstaatsanwaltschaft München angesiedelte Bayerische Zentralstelle zur Bekämpfung von Extremismus und Terrorismus (ZET) die Ermittlungen wegen Mordes wiederaufgenommen, um neue Ermittlungsansätze zu prüfen. Bei der Kriminalpolizei in Neu-Ulm wurde eine Sonderkommission gebildet. Nun lautet der Tatvorwurf nicht mehr schwere Brandstiftung, sondern Mord. Unter Verwendung moderner Ermittlungshilfsmittel soll die SOKO 1990 versuchen, den Brandanschlag vom 17. November 1990 aufzuklären und Zusammenhänge mit weiteren Anschlägen aus dieser Zeit in der Region prüfen.

Wegen der laufenden Ermittlungen kann die Generalstaatsanwaltschaft jedoch nicht sagen, ob sie von einem rechten Tatmotiv ausgeht. „Bisher sei noch alles offen“, so Dr. Ruhland gegenüber Belltower.News. Das Bekennerschreiben steht nun im Fokus der Untersuchung. Die Ermittler:innen suchen Zeug:innen, die Angaben zur Tat, dem Schreiben oder einer möglichen damaligen Gruppierung „Anti Kanaken Front Kempten“ machen können, schreibt das Polizeipräsidium Schwaben Süd/West in einer Pressemitteilung.

Erst 30 Jahre nach dem tödlichen Brandanschlag erfährt die Familie S. durch die Recherchen von Allgäu rechtsaußen und ZEIT Online, dass ihr kleiner Sohn Opfer eines Neonazi-Anschlages geworden sein könnte. Eine Geschichte, die so tragisch wie auch bezeichnend ist dafür, wie in Deutschland mit Opfern rechter Gewalt umgegangen wird. Auch wenn die Ermittlungen wegen Mordes mit 30 Jahren Verspätung beginnen, hoffen wir, dass die Täter:innen von damals gefasst werden können und die Familie endlich Frieden und ein Stück weit Gerechtigkeit erfährt. Mittlerweile wird der Fall auch als Verdachtsfall in der Liste der Todesopfern durch rechte Gewalt seit 1990 der Amadeu Antonio Stiftung geführt.

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