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22. Verhandlungstag Halle-Prozess – Solidarität ist eine Waffe

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Das Landgericht Magdeburg: Aus Platzgründen findet der Prozess gegen den Halle-Attentäter hier und nicht im Oberlandesgericht Naumburg.
Das Landgericht Magdeburg: Aus Platzgründen findet der Prozess gegen den Halle-Attentäter hier und nicht im Oberlandesgericht Naumburg. (Quelle: Nicholas Potter)

Endspurt im Halle-Prozess: Die Beweisaufnahme wurde bereits am 18. November abgeschlossen. Der Generalbundesanwalt fordert in seinem Plädoyer die höchste Strafe für den rechtsextremen und antisemitischen Attentäter: lebenslange Haft. Vor Weihnachten ist ein Urteil erwartet. Am 1. Dezember 2020, dem 22. Verhandlungstag des Prozesses, darf nun die Nebenklage das Wort ergreifen. Dafür sind mehrere Tage eingeplant: Denn die 43 zugelassenen Nebenkläger*innen werden von 21 Rechtsanwält*innen vertreten. Heute wird in deren Schlussvorträgen der Generalbundesanwalt scharf kritisiert. Auch die Polizei kommt nicht gut weg.

Zunächst nimmt der Rechtsanwalt Christian Eifler Platz am Rednerpult. Er vertritt die Mutter von Kevin S., der in seiner Mittagspause im „Kiez-Döner“ vom Angeklagten* erschossen wurde. Seine Mandantin habe es heute zum ersten Mal nach vier Monaten zum Prozess geschafft, ihr gehe es psychisch gar nicht gut, berichtet er. Und das liegt am Täter. Auch Eifler muss sich zusammenreißen, während er seinen Vortrag hält. Er seufzt, atmet tief ein und aus, wirkt emotional belastet, während er dem Angeklagten direkt ins Gesicht starrt. Im Anschluss spricht der Rechtsanwalt Erkan Görgülü, der den Vater von Kevin S. vertritt. Er berichtet, dass S. trotz seiner Behinderung dafür gekämpft habe, sich im Leben zu integrieren, einen Job zu finden und entgegen ärztlicher Einschätzungen zu überleben. Der Angeklagte habe gezeigt, dass man nicht Jude oder Ausländer sein müsse, um vom rechten Terror betroffen zu sein: „Das betrifft uns alle.“ Zum Schluss zitiert Görgülü Kevin S.‘ letzte Worte, bevor er starb: „Nein, bitte nicht. Bitte nicht. Nein. Bitte, bitte nicht. Nein, bitte nicht“. Stille im Gerichtssaal, manche der Anwesenden müssen weinen.

Im Stich gelassen

Nach einer 20-minütigen Lüftungspause hält der Rechtsanwalt Onur Özata sein Plädoyer. Er vertritt die Brüder İsmet und Rıfat Tekin, die den Imbiss „Kiez-Döner“ betreiben. Sein Mandant İsmet habe an jedem Verhandlungstag des Prozesses teilgenommen, er habe jedem Zeugen zugehört, während sein Bruder Rıfat die Stellung im Dönerladen gehalten habe, sagt Özata. Durch den Prozess seien die beiden Brüder andere Menschen geworden. Die Tat habe ihren Blick auf Deutschland geändert: Sie kommen ursprünglich aus der Südosttürkei und arbeiten Tag für Tag hart, um in Deutschland ein besseres Leben für ihre Kinder zu sichern. „Meine Mandanten fühlen sich aber häufig von diesem Staat im Stich gelassen. Da, wo der Staat hätte solidarisch sein müssen, hat er nur mit den Schultern gezuckt“. Zum Schluss zitiert Özata die polnische Autorin Zofia Nałkowska, die über die Shoah schrieb: „Das haben Menschen Menschen angetan“. Özata will damit eine Pathologisierung des Täters ablehnen und stattdessen betonen: Er sei kein Monster, kein Psychopath, sondern ein Mensch habe diesen grausamen Anschlag verübt.

Im Anschluss hat İsmet Tekin das Wort. Er kritisiert den Generalbundesanwalt – und er wird nicht der letzte, der das an diesem Tag tut. Er fragt, warum der Angriff auf ihn nicht als versuchter Mord gewertet wird, fragt, wie man behaupten könnte, dass der Angeklagte ihn mit einem gezielten Angriff nicht hätte töten wollen. Seit mehr als einem Jahr leide Tekin an Alpträumen, in denen der Angeklagte ihn umzubringen versuche. „Wenn Polizeibeamte mit 30 Jahren Erfahrung und schutzsicheren Westen von diesem Einsatz traumatisiert werden, was soll das für uns Nebenkläger*innen heißen?“, sagt er zum Schluss.

Auch die Rechtsanwältin Ilil Friedmann findet scharfe Worte für den Generalbundesanwalt, der den Autoangriff auf ihren Mandanten Aftax Ibrahim noch immer lediglich als ein Verkehrsdelikt und fahrlässige Körperverletzung wertet, nicht als Mord. Die Entscheidung des Generalbundesanwalts sei abwegig und nicht nachvollziehbar, so Friedmann. Für sie ist das Motiv klar: Es gehe um einen rassistischen Mordversuch, denn der Angeklagte habe ihren Mandanten aufgrund seiner Hautfarbe überfahren wollen. Ibrahim leide bis heute unter dem Angriff: Er habe Schmerzen, wenn er sitze oder Fußball spiele. Er habe keine Lust, seine Wohnung zu verlassen, habe Angst, Menschen zu treffen. Auch an Schlafstörungen und Konzentrationsschwierigkeiten leide er – typische Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung. Aus Halle möchte er deswegen wegziehen.

Nach einer weiteren Lüftungspause will die Rechtsanwältin Kristin Pietrzyk, die drei Mandant*innen vertritt, vor allem einen Aspekt des Anschlags in ihrem Schlussvortrag beleuchten: Den Charakter der Tat als eine soziale Interaktion unter Abwesenden. Damit meint Pietrzyk den Kontext des Anschlags als Teil einer Serie ähnlicher rechtsextremer Taten weltweit von Christchurch bis El Paso, die auf Imageboards und Online-Communities zurückgehen. „Wir hören den Angeklagten nicht das Horst-Wessel-Lied singen, sehen ihn nicht mit seinen Kameraden vor einer Hakenkreuzfahne posieren, er geht nicht auf Fackelmärsche. Doch er war kein Einzeltäter.“ Neben den stabil bleibenden Kameradschaften und rechtsextremen Parteien gebe es eine neue virtuelle Struktur auf Imageboards.

Wehret den Anfängen? Wir sind mitten drin

Das habe die Online-Expertin Karolin Schwarz, die Anfang November aussagte, verstanden: Pietrzyk lobt Schwarz als Sachverständige die, anders als das BKA, in der Lage gewesen sei, dem Gerichtssaal diese virtuelle Welt näherzubringen. Pietrzyk macht deutlich, wo Mythen wie „Der große Austausch“ und eine „jüdische Weltverschwörung“, die in diesen Online-Communities viele Anhänger*innen finden, hinführen: „Zu Verschwörungstheorien gehören Vernichtungsfantasien“, sagt sie. Alleine im Jahr 2019 seien vier solcher Anschläge auf Imageboards angekündigt worden, bei denen 78 Menschen getötet wurden, so Pietrzyk. Der Angeklagte sei ein erfahrener User dieser Online-Communities, der ihre Codes kenne und nutze.

In seinem „Pre-Action Report“ brauche er daher nicht seine Ideologie ausführlich zu erklären. Stichworte und Satzstücke reichten vollkommen aus, seinen Adressat*innen zu zeigen, dass er zu ihnen gehöre. Sein Ziel: Weiteren Imageboard-Nutzer zu ermöglichen, ähnliche Taten zu begehen, aber auch, einen Platz in einer langen Reihe ähnlicher Mörder einzunehmen. Auch im Gericht wende er sich an dieses Online-Publikum, wolle den Prozess als Bühne benutzen. Das habe das BKA nicht begriffen, erfreulicherweise hätten aber einige Medien darauf verzichtet, den Angeklagten beim Namen zu nennen und ihn zu fotografieren und ihm somit eine Plattform zu geben. Zum Schluss liest Pietrzyk die Namen der Todesopfer der Anschläge in Halle und Hanau vor und sagt: „Ein Wehret-den-Anfängen ist lange nicht mehr genug. Wir sind mitten drin. Wie meine Mandantin sagt: The bullet is still in the gun.“ Die Patrone steckt immer noch in der Waffe.

Auch die Rechtsanwältin Kati Lang lobt in ihrem Schlussvortrag, dass es dem Angeklagten nicht gelungen sei, den Prozess zur Bühne für seine menschenverachtende Ideologie zu machen. Denn ein Teil der Medien zumindest sei der gemeinsamen Erklärung der Nebenklage zu Prozessbeginn gefolgt, den Täter weder namentlich zu nennen noch abzubilden: „Der Angeklagte nutzt alle ihm zur Verfügung stehende Mittel zu seinem Vorteil“, sagt Lang. So schweige er über manche Daten, die auf seinen Festplatten gefunden wurden, erwecke zugleich aber den Eindruck, dass manche Dinge gefunden werden sollten. Über seinen unverhohlenen Antisemitismus sage er viel, sobald es um seine Familie ging, sei er hingegen wieder stumm.

Andere Aspekte der medialen Berichterstattung über den Prozess kommentiert Lang dennoch kritisch: Immer sei von der guten deutschen Eichentür an der Synagoge die Rede gewesen, die von einem guten deutschen Handwerker gefertigt wurde: „Dieser Prozess darf nicht zur Bühne des guten Deutschlands werden. Denn dafür taugt er nicht“. Dennoch betrachtet sie als positiv, dass im Prozess Betroffene zu Wort gekommen sind. Und der Prozess habe zwar zu unermesslichem Leid geführt, aber gleichzeitig auch Allianzen der Solidarität geschaffen, von der Synagoge zum Kiez-Döner und darüber hinaus. Der Angeklagte konnte die Betroffenen nicht auslöschen. Stattdessen zeigen sie sich unteilbar. Denn gegen die selbstgebastelten Waffen des Attentäters hilft vor allem eines: Solidarität.

Die Plädoyers der Nebenklage werden am 2. und 8. Dezember fortgesetzt. Bis zum 22. Dezember ist ein Urteil erwartet.

* Zu Beginn des Prozesses veröffentlichte eine Gruppe von Nebenkläger*innen eine gemeinsame Erklärung, in der sie die Medienvertreter*innen aufgefordert haben, den Namen des Attentäters nicht zu nennen, um ihm eine Plattform zu verweigern. Wir haben diesen Wunsch in diesem Artikel respektiert.

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