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30 Jahre Wiedervereinigung Ohne Zivilgesellschaft gelingt der Kampf für eine demokratische Moderne nicht

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Anetta Kahane hat 1998 die Amadeu Antonio Stiftung gegründet. (Quelle: AAS)

Wie baut man die auf, wenn zugleich der Rechtsextremismus drängt und wächst? Ein Interview zu 30 Jahren gesamtdeutscher Zivilgesellschaft.

30 Jahre Rechtsextremismus im vereinten Deutschland – Grund zur Hoffnung oder Grund zur Sorge?

Leider beides. Wir mussten in der Zeit erleben, wie sich eine eher anti-intellektuelle, dumpfe Mischung aus Neonazis, Skinheads und Hooligans plus grummelig-völkisch vorgetragenem Nationalismus entwickelt hat zu einer straff organisierten, strategisch operierenden, ausdifferenzierten rechtsextremen Szene. Einer Szene, die heute eine starke Organisationsfähigkeit besitzt, die selbstbewusst Konflikte herbeiführt und anfacht. Dafür nutzen sie Desinformationen, Hassattacken, Mobilisierung in Sozialen Netzwerken. Auf der anderen Seite liegen damit jetzt die Karten auf dem Tisch. Kein vernünftiger Mensch kann mehr sagen: Rechtsextremismus gibt es nicht. Das ist vorbei. Wer das heute trotzdem tut, macht es strategisch. Wir sehen, es gibt rassistische, rechtsextreme, antisemitische Gewalt, und wir als Gesellschaft müssen uns damit jetzt auseinandersetzen. Das ist gut, denn nur, was wir anerkennen, können wir bearbeiten. Es geht darum einen Umgang damit zu finden. Konservative Kreise nähern sich der Thematik vorsichtiger, progressive Kreise drängender und deutlicher. Aber es passiert etwas, quer durch alle Parteien und die Zivilgesellschaft. Wir haben einen gesellschaftlichen Konflikt um Gleichwertigkeit, Rassismus, Demokratie. Ein Konflikt ist gut.

Warum ist ein Konflikt gut?

Er gibt die Möglichkeit, etwas zu tun. Bisher gab es keinen Grund für Rechtsextremismus zu verschwinden, weil größere Teile der Gesellschaft sich geweigert haben, ihn zu sehen. Oder sie waren stark bemüht, ihn zu entschuldigen. Die Deprivationstheorie hatte für die Auseinandersetzung mit dem Thema im Osten fatale Folgen: Die Erklärungsversuche, die Leute wären nach der Wende halt arbeitslos gewesen, arm, Wendeverlierer, Kapitalismus-Verlierer, und deshalb rechts, waren nicht nur falsch, sondern sie wurden zur  Rechtfertigungsstrategie, die sofort angenommen wurde. Das steht in der Tradition der Legende, das „deutsche Volk“ sei immer ein Opfer. Keiner war NS-Anhänger, alle nur Mitläufer, der Krieg der Alliierten nur „Bombenterror“ gegen die „unschuldige“ Bevölkerung – das hat eine krasse Kontinuität. Und die werden wir nur ändern, wenn wir endlich mehr Verantwortung übernehmen. Ich habe die Hoffnung, wenn wir nun Rechtsextremismus als unser gesamtgesellschaftlichen Problem ernstnehmen, ihn nicht so stehen lassen, dass sich dann etwas ändert.

Das Konzept „Zivilgesellschaft“ gab es im Osten nicht – Du gehörtest von Anfang an zu denen, die viel dafür gestritten haben. Warum?

Was Zivilgesellschaft ist, liegt in den Augen – oder der Definition –  des Betrachters. Im Kalten Krieg etwa galt aus West-Perspektive jegliche Opposition zum Staat im Osten als unterstützenswerte Zivilgesellschaft. Heute wissen wir: Nicht jede Opposition gegen eine Diktatur ist automatisch demokratisch. Der rechte Rand der damaligen DDR-Opposition und seine Protagonisten fordern heute, die einzigen legitimen Erben der Revolution zu sein und Deutungshoheit darüber zu haben. Sie vertreten rechte, autoritäre Denkmuster und behaupten, dass sei es, wofür damals gestritten wurde.

Ich sehe das anders. Ich verstehe Zivilgesellschaft als ein Interessensbündnis, das sich mit verschiedenen Schwerpunkten immer für mehr Rechte von Bürger*innen und Minderheiten einsetzt, und zwar für mehr Menschenrechte. Historisch gesehen kämpfte diese Zivilgesellschaft gegen den Adel und forderte mehr Mitsprache für Bürger, später kämpfte sie gegen die Bürger für mehr Mitsprache der unteren Stände, immer ein Kampf für eine Öffnung zu mehr Gleichwertigkeit und Partizipation. Gelang ein Schritt, folgte immer erst eine Krise, bis die Neuerung etabliert war. Wie lang es bis zum Frauenwahlrecht gedauert hat! Und all diese Kämpfe kamen aus der Zivilgesellschaft. So eine Zivilgesellschaft gab es in der DDR nicht. Es gab Einzelne, die vielleicht Rassismus oder Sexismus im Blick hatten und versuchten, dazu zu arbeiten, aber keinen Konsens oder die Möglichkeit, Druck gegen Mächtige aufzubauen.

Wie fängt man in dieser Situation an?

Da wollte ich ansetzen, weil das Engagement für Menschenrechte nicht von oben herab funktioniert, sondern aus lokalen Engagement. Vor Ort müssen Leute überzeugt sein, dass man etwas gegen Rechtsextremismus, Rassismus oder Antisemitismus tun muss, hier und jetzt sofort. Es geht nicht anders. Deshalb haben wir vor rund 20 Jahren die Amadeu Antonio Stiftung gegründet, um diese Menschen zu unterstützen, sie zu vernetzen, sie stark zu machen, ihnen etwas Geld zu geben für ihr Engagement, sie mit Preisen bekannter zu machen, ihnen Geltung zu geben und Mut zu machen. Dass der Staat später Programme aufgelegt hat, die auch beim Empowerment der Zivilgesellschaft ansetzen, hat natürlich auch geholfen.

So ist mit der Zeit ein gutes Netzwerk entstanden. Ich finde immer, es könnte noch dichter sein, aber es ist arbeitsfähig. Wir haben ein Netzwerk aus erfahrenen, engagieren Menschen in ganz Deutschland, und überall wachsen immer wieder auch junge Leute nach. Und seit Geflüchtete auch in ländlichen Regionen Ostdeutschlands untergebracht wurden, gibt es sogar dort ein bisschen Diversity. Denn sichtbare Minoritäten gab es in der DDR ja kaum. Diese demokratische Zivilgesellschaft, die Mobilen Beratungen und Opferberatungsstellen, die vielen Initiativen vor Ort, können nun lokal Themen vorantreiben, sie in die Politik und ins Kabinett einbringen, Zahlen bereitstellen, Verbesserungen fordern. Sie können politischen Druck aufbauen, auch für die, die es nicht selbst können. Sie zeigen: Wir sind hier, wir passen auf, wir wollen Veränderung, wo Gleichwertigkeit noch nicht Alltag ist.

Was sind die Themen, an denen wir weiter streiten/arbeiten müssen?

Wenn wir Rechtsextremismus heute zurückdrängen wollen, kommen wir nicht um die Auseinandersetzung mit unserer deutschen Geschichte herum. In der DDR gab es keine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, die von den Menschen Verantwortungsübernahme verlangt hätte. Es gab ideologische Auseinandersetzung, Ansprache von Mitgefühl – aber wenn jemand vor Ort forschen wollte, was dort etwa im Nationalsozialismus passierte, hat die SED das unterbunden. Sonst hätte sie zugeben müssen, dass nicht nur die BRD, sondern auch die DDR ein Nachfolgestaat des Nationalsozialismus ist. Das wollte sie ja unbedingt vermeiden.

Die Folgen sehen wir bis heute: Weil niemals eine persönliche Verantwortungsübernahme gefordert wurde – wie: aufgrund unserer Geschichte muss jede*r Einzelne von uns sich gegen Rassismus und Antisemitismus wehren, wo immer sie auftreten – entwickeln viele Menschen im Osten Deutschlands immer noch wenig Unrechtsgefühl, wenn dort Rassismus und Antisemitismus auftreten, weil sie nicht das Gefühl haben, sie müssten oder könnten daran etwas ändern. Das ist ein großes Defizit.

Der Westen hatte die 68er, die haben keine vollständige Aufarbeitung angestoßen, aber es ist ein Prozess entstanden, der die Einstellung der Bevölkerung zum Nationalsozialismus und zur Verantwortungsübernahme für das „Nie wieder“ revolutioniert hat.

Im östlichen Deutschland könnten wir jetzt eine Chance dazu haben. Im Februar 1990, also bevor es Gedanken an eine Wiedervereinigung gab, hat die Volkskammer der DDR eine Resolution verabschiedet, in der sie sich bei Jüdinnen und Juden für die Verbrechen des Nationalsozialismus entschuldigt hat, und auch für alles politisch motivierte Hasspropaganda gegen Israel. Das wäre ein toller Anfang für eine Aufarbeitung gewesen, ein oppositionelles, demokratisches Selbstverständnis schon in der DDR. Das Papier kennt heute kaum noch jemand. Es wurde nicht in der DDR-Opposition aufgegriffen, ist nicht in den Einigungsvertrag eingeflossen, es ist einfach vergessen worden im Verdrängungskampf der beiden Staaten. Aber es wäre gut, wenn es uns jetzt inspiriert. Im Osten Deutschlands gibt es jetzt die dritte Generation, die etwas ändern will, weil sie den Rechtsextremismus auf dem Schirm hat und sich fragt, warum es so schwer ist, ihn zu bekämpfen. Damit es gelingt, müssen wir uns noch einmal mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzen. Wir haben eine Stiftung Aufarbeitung für die DDR-Zeit – wo ist die Stiftung Aufarbeitung Nationalsozialismus? Debatten wie „beides Diktakturen, beides schlimm“, verharmlosen und nützen nichts. Wir müssen analysieren: Wo sind Kontinuitäten des Unrechts? Sie gefährden unsere Demokratie besonders.

Wie sieht diese Demokratiegefährdung durch Kontinuität aus?

Ohne zu verstehen, wie viel autoritäres Denken sich da gehalten hat, verstehen wir auch nicht, warum sich im Osten Deutschlands immer noch so viele Bürgermeister, Gemeinderäte und andere zentrale gesellschaftliche Stellen schlicht weigern, Neonazis wahrzunehmen und ihr Gedankengut zu bekämpfen. Da gab es über lange Zeit ein Empowerment für Abwehr. Aber jetzt ist eine gute Zeit, die Auseinandersetzung nachzuholen. Wir wollen Rechtsextremismus bekämpfen? Hier wird es nur Fortschritt geben, wenn wir alle Verantwortung übernehmen, uns auseinandersetzen, es als unser Problem begreifen – und zwar überall.

Wir müssen auf den Rechtsextremismus achten, aber auch auf Diskriminierungen in der Einwanderungsgesellschaft. Wir müssen uns verfassungspatriotisch für Gleichwertigkeit einsetzen. Das heißt, wir müssen darauf bestehen, dass wir keinen Rassismus dulden und auch keinen Antisemitismus. Es ist eine schwierige Aufgabe, aber sie ist machbar. Es geht darum, die gesamtdeutsche Zivilgesellschaft fit zu machen für die Zukunft. Das geht, wenn sie eine Offenheit für die demokratische Moderne hat: Verantwortlich handelt, Diversität ermöglicht, Gleichwertigkeit für alle, freie Meinungsentfaltung. Im Osten Deutschlands sehen wir teilweise noch das Gegenteil, einen Wunsch nach autoritären Verhältnissen, ohne eigene Verantwortungsübernahme. Ich glaube aber, dass die Moderne nicht aufzuhalten ist. Um den Prozess zu unterstützen, brauchen wir eine breite und immer breiter aufgestellte demokratische Zivilgesellschaft, die sich einsetzt, Werte vertritt, Minderheiten schützt. Das ist die Zukunft, für die ich arbeite.

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