Im Mai 1945 endete die Schreckensherrschaft der Nazis über Europa. Deutschland kapitulierte in den späten Abendstunden des 8. Mai, in Moskau war es bereits nach Mitternacht. In der Sowjetunion feierte man deshalb am 9. Mai das Ende des grausamen Vernichtungskriegs, der etwa 27 Millionen sowjetischen Bürger*innen das Leben kostete. Auch wegen dieses enormen Blutzolls entwickelte sich der 9. Mai als „Tag des Sieges“ in der Sowjetunion zu einem der wichtigsten Feiertage und zu einem Anker für das Wir-Gefühl im riesigen Vielvölkerstaat.
Diese Tradition überdauerte das Ende der Sowjetunion, in vielen der Nachfolgestaaten gedenken Menschen bis heute ihren gefallenen und ermordeten Verwandten. Auch für postsowjetische Migrant*innen in Deutschland und anderswo hat der 9. Mai eine hohe Bedeutung. Doch die Vereinnahmung dieses Tages durch Putins Propaganda und erst recht der Ukraine-Krieg, verleihen der Frage nach einem angemessenen Gedenken neue Dringlichkeit.
Sehr deutlich wird das am 9. Mai 2023 am sowjetischen Ehrenmal am Treptower Park in Berlin. Das großzügige Gelände ist ein zentraler Ort des Gedenkens für die russischsprachige Community der Hauptstadt und darüber hinaus. Auch im zweiten Jahr seit dem russischen Überfall auf die Ukraine. Vor Ort sind überwiegend ältere Menschen, viele legen Nelken an den Gedenksteinen ab. Die Berliner Polizei hatte im Vorfeld das Zeigen von russischen und sowjetischen Flaggen und anderer Nationalsymbole in den Bereichen rund um sowjetische Ehrenmale verboten. Zunächst galt das Verbot auch für die ukrainische Flagge, wurde aber vor Gericht gekippt. Das Verbot der russischen Symbole wurde allerdings bestätigt. Die große Mehrzahl der Anwesenden hält sich an die Vorgaben. Nur vereinzelt sind an Rucksäcken oder Jacken St.-Georgs-Bänder zu sehen. Auch an anderen Erinnerungsorten in Berlin wird das Verbot umgesetzt.
Sowjetische Erinnerungspolitik präsentierte ein verzerrtes Bild der Vergangenheit, in der der Hitler-Stalin-Pakt und stalinistische Verbrechen in Osteuropa nicht vorkamen. Putin knüpft hier an. Er machte den 9. Mai zum Mittelpunkt eines patriotisch-russischen Nationalmythos: Der sowjetische Sieg über Nazideutschland verwandelte sich – laut dem Soziologen Lev Gudkov – in einen rein russischen Sieg über den gesamten Westen. Mit jährlichen Militärparaden zeigt Russland am 9. Mai nun Stärke und unterstreicht den eigenen Großmachtstatus. Aus dem einstigen „Nie wieder Krieg“ wurde ein bellizistisches „Wir können es wiederholen“.
Die letztgenannte Parole gewinnt in Russland nicht zufällig seit 2014 an Popularität (Meduza). Schließlich rechtfertigt der russische Propagandaapparat die seit 2014 anhaltende Aggression gegen die Ukraine mit dem Widerstand gegen herbeifantasierte Nazis, die in Kyiv die Macht an sich gerissen haben sollen. Da der Kreml auch jetzt eine Gleichsetzung beider Kriege versucht, sollte man genauer hinschauen, wer in Deutschland zum Feiern des 9. Mais aufruft.
Eine kleine Gruppe von Aktivist*innen versucht, darauf auch im Treptower Park hinzuweisen. Unter ukrainischer Flagge und mit einer kleinen Ausstellung über sowjetische Kriegsverbrechen und russischen Kolonialismus sind russischstämmigen Putin-Gegner*innen von „Demokrati-Ja“ hier aber ziemlich isoliert. Männer in T-Shirts mit kyrillischer Schrift gehen mit abfälligem Blick vorbei. Einer der Aktivisten berichtet im Gespräch von permanenten Anfeindungen und auch körperlichen Angriffen durch andere Besucher*innen. Dabei wollen die Aktivist*innen dem Kampf gegen den Faschismus gedenken, nur ohne „postsowjetischen Kitsch“ und die Verherrlichung von russischem Kolonialismus, erklärt der Aktivist.
Die unterschiedlichen Gruppierungen, die jedes Jahr am 9. Mai zum Gedenken im Treptower Park zusammenkommen, wirken auch in weniger ereignisreichen Zeiten oft skurril. DKP-Delegationen neben leninistischen Splittergruppen, dazwischen ältere Damen mit Fotos von Verwandten, die im Krieg getötet wurden und Männer in sowjetischen Weltkriegsuniformen. Dazu kommen Friedensaktivist*innen unterschiedlicher Couleur.
Nach der Coronapandemie und dem russischen Angriff auf die Ukraine ist die Situation nicht weniger komplex. Besonders deutlich wird 2023 die enge Verknüpfung zwischen der prorussischen und der Verschwörungsszene. Mehr oder wenige bekannte Akteur*innen aus dem Verschwörungsumfeld und auch der Rechtsaußenszene sind vor Ort. Mitglieder der „Querdenken“-nahen Partei „Die Basis“ legen einen kleinen Kranz ab. Rüdiger Hoffmann, ein ehemaliger NPD-Aktivist, der mittlerweile zum „Reichsbürger“-Spektrum gehört, hält eine mäandernde Rede, die von den meisten Anwesenden allerdings ignoriert wird.
Bereits im Vorfeld des 9. Mai fanden einige Aktionen statt, hinter denen zweifelhafte Akteur*innen standen. An einer Reihe von Weltkriegs-Denkmälern und Gedenkstätten legten die „Deutsch-Russischen-Seelen“ Kränze nieder. Auf der sozialen Medienplattform VK verbreitet die Gruppe ansonsten prorussische Desinformation, die heutige Regierung der Ukraine fahre eine „faschistische Linie“. Der Vorsitzende Jan Riedel ist aus einer Reuters-Recherche zu deutschen Pro-Putin-Aktivist*innen bekannt. Mehrmals bereiste er die mittlerweile von Russland völkerrechtswidrig annektierten Gebiete im Osten der Ukraine.
Gemeinsam mit den „Seelen“ unterwegs waren die Nachtwölfe Deutschlands. Ein laut dem eigenen Facebook-Auftritt frisch gegründeter Ableger des rechtsradikalen und putintreuen russischen Motorradclubs. Auf Facebook benennt die Gruppe das jährliche Gedenken als ihre wesentliche Aktivität. Am Glockenturm von Buchenwald durften „Seelen“ und „Wölfe“ keine Kränze niederlegen. Die Gedenkstätte in Bergen-Belsen entfernte laut einem Facebook-Post der Nachtwölfe Kränze der Biker und des russischen Konsulats.
Auch der russische Mutterclub der Nachtwölfe ist für seine jährliche Gedenktour aus Moskau nach Berlin bekannt, die er auch für dieses Jahr ankündigte. Wegen des Engagements im Ukraine-Krieg gilt für Clubgründer Alexander Saldostanow und die anderen Wölfe jedoch eine Einreisesperre für die EU. Ihre Tour führt also nur bis in das von Russland besetzte ukrainische Mariupol (RND).
Ebenfalls aus der Reuters-Recherche bekannt sind die prorussische Aktivistin Elena Kolbasnikowa und ihr Partner Max Schlundt, die in der Vergangenheit auch mit deutschen Rechtsextremen gemeinsame Sache machten (n-tv, t-online). Von ihnen stammte der Aufruf für eine Kundgebung in Leverkusen am 6. Mai mit anschließendem Autokorso nach Köln, der am Samstag stattfand. In Köln verantworteten sie offenbar auch den dortigen Ableger des „Unsterblichen Regiments“ – weltweit rund um den 9. Mai stattfindende Gedenkmärsche, bei denen Menschen aus den ehemaligen Sowjetrepubliken mit Porträts ihrer Angehörigen, die am Krieg beteiligt waren, auf die Straße gehen. Kolbasnikowa wollte auch im Kölner NS-Dokumentationszentrum Blumen niederlegen. Das Haus verweigerte ihr den Zugang und rief stattdessen zu einer Gegendemo auf.
Von Kolbasnikowa und Schlundt stammt auch ein Aufruf, nach Berlin zu kommen, der in prorussischen Telegram-Gruppen zirkulierte. In einem mit ihren Namen signierten Text, berichteten sie, dass eine am ewigen Feuer am Moskauer Grab des unbekannten Soldaten entzündete Fackel, zum Tiergarten und Treptower Park gebracht werden sollte. Die ressentimentgeladene Nachricht suggerierte, dass jemand „uns“ – den Russ*innen – das Erinnern wegnehmen wolle.
In denselben Telegram-Gruppen zirkulierte auch ein Programm für den Berliner 9. Mai. Neben Kranzniederlegungen mit Vertreter*innen der russischen Botschaft und dem Berliner Unsterblichen Regiment springt vor allem das Projekt „Kinder des Krieges“ ins Auge. Die prorussische Initiative tourt seit Monaten durch diverse „Friedenskundgebungen“ der Bundesrepublik. Auch im Treptower Park gedenkt sie heute „an alle unschuldigen Kinder faschistischer Aggression“, auch jenen, die man „in ‚Friedenszeiten‘ nicht vor Aggression schützen konnte“. Hinter den Zeilen steht ein deutlicher Verweis auf die Falschbehauptung russischer Kriegspropaganda, wonach eine faschistische Ukraine im Donbas seit 9 Jahren einen Genozid begehe.
Gegen diese Vereinnahmung des Gedenkens an den Zweiten Weltkrieg für den russischen Chauvinismus und die Rechtfertigung des jetzigen Krieges mobilisierten verschiedene aktivistische Initiativen – viele von ihnen aus migrantischen Communitys. Die ukrainische Gruppe „Vitsche“ veranstaltete bereits am 8. Mai – damit in europäischer Tradition – einen Trauermarsch. Er galt dem Gedenken an die ukrainischen Opfer von Krieg und hitlerscher und stalinscher Diktatur. „Vitsche“ forderte für die deutsche Erinnerungskultur ein Umdenken, setze diese doch „Sowjetisch“ zu vorschnell mit „Russisch“ gleich.
Auch das zivilgesellschaftliche Bündnis „Gedenken gegen den Krieg“ engagiert sich für ein anderes Gedenken, das inklusiver ist und sich den Vereinnahmungsversuchen Putins entgegensetzt. Der Verbund deutscher und russischer Initiativen und Projekte fordert eine kritische Auseinandersetzung mit dem Stalinismus, den Massenmorden und Deportation und anderen Verbrechen auf sowjetischem Gebiet und in Osteuropa.