Im Oktober 2021 trennten sich die Wege der größten Boulevardzeitung Deutschlands, der BILD, und ihres Chefredakteurs Julian Reichelt. Der aufmerksamskeitsgewohnte Medienmacher verliert sein Blatt – und ist in den ersten Monaten nach seiner Entlassung umso mehr auf Twitter aktiv. Dort hat er Fans, aber auch Gegenwind: Beiträge zeigen ihn als Gescheiterten, der laut vor Tankstellen gegen die wachsenden Benzinpreise pöbelt und durch seine dissonante Wut Spott und Häme erntet. Der Ex-BILD Chefredakteur lässt sich davon jedoch nicht beirren. Seiner Rolle des polarisierenden Meinungsmachers möchte er schließlich treu bleiben. Um es mit anderen Worten zu sagen: Reichelt lässt sich nicht „canceln”. Mit der bornierten Überzeugung des „fälschlich Beschuldigten“ hat er ein neues Betätigungsfeld auf YouTube gefunden. In Videos – er nennt es „Shows“ – zwischen 10 und 20 Minuten zeichnet er seit gut drei Monaten apokalyptische Schauermärchen und stilisiert sich zu einem postmodernen Untergangspropheten.
Sein neues YouTube-Format „Achtung, Reichelt!” ist dabei nicht innovativ, sondern stark am rechtspopulistischen Meinungsjournalismus des amerikanischen Nachrichtensenders Fox News angelehnt. Insbesondere die rhetorischen Mittel des verrufenen Fox News Talkers, Tucker Carlson, scheinen den Ex-BILD-Chef überzeugt zu haben. Ähnlich wie Carlson fokussiert sich auch Julian Reichelt auf den Kulturkampf gegen die „herrschende Klasse”, die er schlicht als „sie” bezeichnet. Mit seinem kollektiven „wir” versucht Reichelt eine Nähe zum Publikum zu schaffen und zählt sich dabei selbst zu den „einfachen Bürgern”. Als neu etablierter „Mann des Volkes” möchte der Medien-und Meinungsmacher nun dem „bösen” Establishment den Kampf ansagen. Die Gleichung ist simpel: „wir” gegen „sie”, „David” gegen „Goliath”, „Gut” gegen „Böse”, „arm” gegen „reich”. Dabei ist Reichelt bisher weder Anti-Establishment gewesen noch ein „Mann des Volkes“ – weder vom Vermögen noch vom Habitus her.
„Energiekrise” als Erfolgsformel
Aller Anfang ist schwer, das gilt auch für Reichelts neues YouTube-Format. Das erste Video (an sich ein sicherer Aufreger über die Impfpflicht) wird am 09. April 2022 publiziert und verzeichnet in den Wochen nach Veröffentlichung nur wenige tausend Zugriffe. Den darauffolgenden Veröffentlichungen geht es kaum besser. Das macht Reichelt aber nichts. Diese Videos sollen in erster Linie nach einer eigenen Populismus-Marke sondieren und die Themen-Offenheit der Zuschauerschaft testen. Zunächst probiert Reichelt verschiedene Stilelemente aus und testet verschiedene Bildhintergründe.
In den Inhalten zeigt sich zwar schon früh seine libertäre Antihaltung gegen „die da oben”, doch den erhofften richtig großen viralen Erfolg kann er erstmal nicht in der rechten Blase ernten. So zum Beispiel misslingt die Aufmerksamkeitsökonomie bei Themen wie Elon Musks Versuch, Twitter zu kaufen oder dem „importierten Antisemitismus” (rechtspopulistische Dog Whistle für verdeckten Rassismus), da sie die Lebenswirklichkeit der Zuschauerschaft nicht richtig tangieren. Es müssen neue Themen her…
Vor kurzem notiert der Medien-Branchendienst Meedia, dass der „Achtung, Reichelt!“-Youtube Kanal am 05. Juli 2022 nur 21.100 Abonnenten verzeichnet. Mittlerweile hat sich die Abonnent*innenzahl verdreifacht und der Kanal schafft es, die 70.000er-Marke am 30. Juli 2022 zu knacken. Gleich, wie oft sich der Moderator vor der Kamera verhaspelt, egal, wie viele argumentative Fehlschlüsse oder Fehlinformationen er verbreitet – Julian Reichelt hat seine Erfolgsformel im Juli gefunden. In Deutschland werden gerade Diskussionen über steigende Energiekosten geführt. Ab da heißt es für „Achtung, Reichelt!“: Nicht nur pöbeln gegen die Menschen, die ihm zu „woke“* sind, weil sie sich für die Gleichwertigkeit von Menschen einsetzen. Reichelt zeichnet fortan auch dystopische Bilder von angeblich drohenden Folgen der Politik von SPD, Grünen und FDP. Er produziert einen einzigartigen, fast bombastischen Alarmismus, den er sich zu BILD Tagen nicht so offen hätte erfüllen können. Mittlerweile hat das „Achtung, Reichelt!”-Projekt 39 Videos veröffentlicht. Die beachtlichen Reichweiten und das rasante Kanal-Wachstum zeigen: Diese Desinformationsquelle gilt es zu betrachten.
Nicht nur Reichelts Videos werden dabei länger, sondern auch emotionaler, unjournalistischer, faktenferner. Seine Tiraden gegen Habeck und Co. werden zunehmend enthemmter. Sehr prominent spielt Reichelt mit übertriebenen Bildern, warnt vor bevorstehenden Katastrophen und monologisiert über deutsche Apokalypsen. Immer wieder rekurriert er auf Angstbilder, vergleicht Tagespolitik mit historischen Schlüsselmomenten, dramatisiert Situationen und lässt Politiker*innen wie Schurken in einem Blockbuster-Thriller erscheinen.
Ein Beispiel:
„Herzlich willkommen bei Julian Reichelt, was wir heute erlebt haben, ist der Beginn einer historischen Katastrophe für unser Land, einer Katastrophe, wie wir sie seit dem II. Weltkrieg so nicht erlebt haben. In einer Pressekonferenz, die in die Geschichtsbücher eingehen wird, verkündete der grüne Wirtschaftsminister, Robert Habeck, heute nicht weniger als den drohenden – man kann sagen bevorstehenden – Zusammenbruch der deutschen Energieversorgung.“ (Video veröffentlicht am 23.06.22)
Die Erzählung von den bedrohten Deutschen
Wenn man die „Achtung, Reichelt!”-Videos in ihrer Gesamtheit betrachtet, fällt auf, dass sie sich wie einzelne Kapitel lesen, die einen roten Faden verfolgen. Jedes Kapitel endet dabei in ähnlicher Manier mit der eindringlichen Warnung, dass Deutschland und seine Bürger*innen kurz vor dem Ende der Demokratie stehen würden, ein Ende, dass die Politik der herrschenden Klasse in Gang gesetzt haben soll.
In jeder Folge kanalisiert Reichelt die Empörung über ein vermeintlich verlorenes goldenes Zeitalter, in dem er selbst aufgewachsen ist, und schimpft über ein Land, dass er nicht mehr wiedererkennt. „Maskenpflicht”, „Impfpflicht”, „Flüchtlingspolitik”, „Islamisierung”, „Mangelwirtschaft” und „marxistische Allmachtsphantasien” sollen Deutschland grundlegend verändert haben, behauptet zumindest Julian Reichelt. Die Bedrohung der Deutschen komme laut Reichelt-Rhetorik ausschließlich von außen, es seien die „Anderen”, die die innere Sicherheit tagtäglich bedrohen würden. Dabei rekurriert der Ex-Bild-Chef auf rassistische Motive, überspitzt vereinzelte Situationen und entwickelt sie zu regelrechten Horror-Szenarien. Eben diese externe Bedrohung lässt sich auch in seinem Video vom 29. Juli 2022 erkennen, es trägt den reißerischen Titel „Freibad-Alarm im Sommer 2022”. Im Video behauptet Reichelt: „Die Realität in Freibädern sieht im Sommer 2022 so aus: Es vergeht kein Wochenende ohne Horrormeldungen von diesen Orten, die einmal die Sehnsuchtsorte unserer Sommer waren. Massenschlägereien, Jagdszenen mit der Polizei. Baseball-Schläger, schwerste sexuelle Übergriffe auf Kinder und Jugendliche. Das Hochrisikogebiet nach der Pandemie ist das Freibad. Wenn sie diese Bilder betrachten, dann spüren sie, dann wissen Sie, dass sich etwas verändert hat in unserem Land.”
Schuld an allem sind laut Reichelt die „fremden Kulturen“, die unvereinbar seien mit den „einstigen Werten“ des Landes: „Es geht darum, dass in unsere Freibäder, die Herz und Spiegel unserer Gesellschaft waren und vor allem sein sollten, eine vollkommen neue Kultur Einzug gehalten hat, die sich mit den Werten unserer Gesellschaft nicht vereinbaren lässt. Es ist die Männer- und Gewalt- und Drohkultur der arabischen Welt, vor der seit 2015 Millionen Menschen geflüchtet sind. Und zwar zu uns. Was Sie hier sehen ist die Rückständigkeit des Islamismus.”
Im Zentrum: Islamfeindlichkeit
Reichelts islamfeindliche und rassistische Einstellung ist nichts Neues. Seit Jahren hatte Julian Reichelt in seiner Funktion als Chefredakteur der BILD genau diese feindliche Haltung geprägt und perfektioniert. Der Unterschied jedoch: Da wo BILD noch mit Chiffren wie „Clankriminalität” arbeitet, und ab und an auch mal Verständnis für die anderen Seiten aufbringt, ist er nun unmissverständlich. Für ihn habe die „Zuwanderung” dazu geführt, dass Deutschland nun nicht mehr dasselbe Land sei. Wenn Julian Reichelt den Untergang Deutschlands prognostiziert, lassen sich in Ansätzen auch die ersten wahnhaften Züge der „Großer Austausch”-Verschwörungserzählung erkennen. Diese rechtsextreme Theorie aus der Neuen Rechten in Frankreich („Grand Remplacement“, engl. „Great Replacement”) spricht davon, dass mit der Einwanderung von Nichtweißen und Muslimen die lokale, in diesem Fall deutsche Bevölkerung ersetzen würde. Die Theorie des „Großen Austausches“ benennt er bei „Achtung, Reichelt!” jedoch nie direkt, sondern verwendet rassistische Chiffren und Dogwhistles wie „Zuwanderung“, „Gewalt-und Drohkultur der arabischen Welt“, „Folgen verheerender Flüchtlings-und Migrationspolitik“. Reichelt bleibt in der „Mann des Volkes”-Rolle, und als solcher möchte er die Illusion der Mehrheitsfähigkeit wahren – und des journalistischen Zugangs, der das Hören beider Seiten voraussetzt. Deshalb ändert er auch den Tenor seiner Beiträge bisweilen: Nach längeren abwertenden Hasstiraden schlüpft er immer mal wieder in die Rolle des Verteidigers gefährdeter: „Seit der Flüchtlingskrise sind nicht nur Menschen zu uns gekommen, nicht nur Menschen, sondern eben auch ein Weltbild ist zu uns gekommen, eine religiöse, radikale Ideologie die Frauen aber auch zum Beispiel Homosexuelle verachtet.“ (Veröffentlicht am 21.07.2022)
Beispielsweise spricht er auch in dem Video vom 21. Juli 2022 statt über rechtsextreme Gewalt lieber über „linkes Denunziantentum“: „Mit gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit sollen Menschen in die Nähe des Nationalsozialismus getrieben werden.” Eine rechtsextreme Bedrohung gibt es in der „Achtung, Reichelt!”-Show nicht, dafür würde aber seitens der rot-grünen Regierung an einer marxistischen Meinungsdiktatur geschraubt: „Ein Deutschland, in dem brav gemeldet wird, ist ein unheimliches Land. Denunziation führt ins Misstrauen. Misstrauen führt in die Spaltung, Spaltung führt in die totale staatliche Kontrolle.”
Doch genau dann, als sich Reichelt mit seiner Relativierung der rechten Bedrohung zu sehr aus dem Fenster lehnt, macht er eine 180°-Wende und empört sich plötzlich über den Antisemitismus auf der documenta in Kassel. Diese Strategie haben auch amerikanische Politiker vor ihm geprägt. Ein Donald Trump konnte während seiner Amtszeit antisemitische Motive verwenden, da er immer wieder auf seinen jüdischen Schwiegersohn Bezug nahm, um zu beweisen, dass er kein Antisemit sein könne. Auch bei „Achtung, Reichelt!” sucht der Moderator immer dann, wenn er zu stark in eine explizit rechtspopulistische Haltung zu kippen droht, eine Minderheit, die er als Schutzschild benutzen kann.
Quo vadis Reichelt?
Julian Reichelts YouTube-Format bedient ein rechtspopulistisches Publikum, das auch anderen Ex-Medienvertreter*innen wie Ken Jebsen und Eva Hermann nach Ende ihrer Karrieren weiterhin Aufmerksamkeit geschenkt hat – und mit dem sich durchaus Meinung online machen lässt. Die steigenden Energiekosten, ein weiteres mögliches Pandemie-Vorkommen und die rechten Kulturkämpfe bereiten einen fruchtbaren Boden für ein mehrheitsfähiges Format. Doch Reichelt genießt trotz antidemokratischer Narrative noch den Status des Populistisch-Konservativen. Schon jetzt sitzen Ex-BILD-Redakteurin und Autorin Judith Sevinc-Basad oder FDP-Spitzenpolitiker Wolfgang Kubicki bei Reichelt in der Sendung und wahrscheinlich ist es auch nur eine Frage der Zeit, bis auch andere Politiker*innen sein Format für ihre Zwecke nutzen wollen. Man sollte sich also darauf einstellen, dass seine polarisierenden Meinungen, die nichts anderes als Diskursverschiebungen sind, immer öfter digital diskutiert werden.
* Woke, Wokisten, Wokistan: Ableitungen und Umkehrungen von „wokeness“. „Wokeness“ ist ein positiver Begriff für progressive Haltungen, die sich als Haltung und Bewegung der Wachheit und Wachsamkeit betrachten. Vor allem die Springer-Presse hat den Begriff instrumentalisiert und abgekehrt, aus „Wokeness“ wurde „Wokismus“; ein abwertender Begriff, der progressive Kräfte lächerlich macht und in Frage stellt. Vertreter des „Wokismus“ sind dann „Wokisten“, ein „wokes“ Land ist ein „Wokistan“ usw. (vgl. Belltower.News).
Julian Reichelt verwendet den Ausdruck etwa als „Woke-Mob“, wenn sich ein Schauspieler für Gewalt auf der Bühne entschuldigt.
Oder für Menschen, die seine Arbeit kritisch begleiten.