In dem ganzen Trubel hat Franziska Gminder jedenfalls Fragen. Auf Facebook teilt sie den Post eines Nutzers, der insgesamt acht Bilder von verwüsteten Kirchen hochgeladen hat und schreibt, dass alleine im Jahr 2017 bis Juli „mehr als 4.500 Kirchenschändungen bekannt“ seien. Frau Gminder will wissen: „Wo sind die Presse-Berichte?“.
Ihre Frage versuchen mehrere Nutzer_innen zu beantworten, unter anderem die Facebookseite „AfD-Watch Heidelberg“ die zu jedem der Bilder herausgefunden hat, wo über den jeweiligen Fall berichtet wurde. Zum Beispiel hier, hier, hier, hier, hier und hier. Dazu kommen Bilder, die aus Österreich stammen, auch darüber wurde hier und hier berichtet. Auch Bilder aus Luxemburg sind dabei. Berichte zu diesem Fall finden sich hier, hier und hier. Interessant dabei: alle Bilder sind Presseberichten entnommen. Einige kommen direkt von der jeweils zuständigen Polizei, andere sind Pressebilder. Also alles Materialien, die für die Berichterstattung gemacht und dazu auch benutzt wurden.
Screenshot der Facebookseite von Franziska Gminder. Der Kommentar von „AfD-Watch Heidelberg“ ist mittlerweile nicht mehr zu sehen.
Aber die Antworten der hilfsbereiten Nutzer auf die Frage der Abgeordneten verschwinden leider immer wieder von ihrer Facebook-Seite.
Für kurze Zeit bleibt dann doch ein Kommentar stehen, auf den Frau Gminder reagiert. Mittlerweile ist auch dieses Gespräch auf der Seite der Abgeordneten “verschwunden”.
Screenshot der Facebookseite von Franziska Gminder. Auch diese Kommentare, inklusive des Beitrags der Agbeordenten sind nicht mehr zu sehen.
Von Januar bis Juli also 4.500 „Kirchenschändungen“ in Deutschland. Das bedeutet 643 Vorfälle jeden Monat. An jedem Tag im ersten Halbjahr 2017 wurden demzufolge 21 Kirchen verwüstet. In der Tat hohe Zahlen, bei denen es ungewöhnlich wäre, würde darüber nicht gesprochen werden.
Aber wo kommt diese Zahl überhaupt her? Verbreitet wird sie offenbar ausschließlich von einer Gruppierung namens „Katholische Christen der politischen Mitte“. Auf einer Liste, die auf der Website der Organisation veröffentlicht wird, finden sich für 2017 allerdings nur 13 Vorfälle, trotz der Überschrift, die bei weitem mehr vermuten lässt. Für das gesamte Jahr 2016 dokumentiert die Seite etwa 50 Vorfälle, darunter Verwüstungen und Einbrüche in Kirchen, nicht 3.200 wie in der Überschrift angekündigt. Wo diese hohen Zahlen herkommen wird nicht klar. Auch die Diskrepanz für 2016 und 2017 von 7.637 Fällen wird leider nicht erklärt. Das Impressum der Seite der „Katholischen Christen“ weist lediglich eine italienische Postadresse und den Namen Tobias Heinz im Impressum auf. Vermutlich also die gleiche Person, die auch den fraglichen Artikel verfasst hat. Eine andere Seite findet sich unter dem Namen „FormelHeinz“ im Internet. Hier wird in einem Post von 2007 eine „neue politische WebSite“ angekündigt: „KCPM.de“ also die Domain der „Katholischen Christen der politischen Mitte“. Im Impressum dieser Seite wieder Tobias Heinz unter der gleichen italienischen Adresse. Diesmal gibt es sogar eine Telefonnummer, unter der allerdings leider niemand erreichbar ist.
Eine Anfrage beim Erzbistum Berlin kann die Zahlen nicht bestätigen. Dem Sprecher sind keine 21 Kirchenschändungen täglich bekannt. Auch die Deutsche Bischofskonferenz und die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) wissen nichts über die Zahlen der „KCPM“.
Screenshot von der Website der „Katholischen Christen der politischen Mitte“. Bemerkenswert: Wortwahl und Pfeile sind identisch mit dem von Gminder geteilten Post.
Was zählt überhaupt als “Kirchenschändung”?
Schaut man sich die Chronik der “KCPM” näher an, merkt man schnell, dass der Begriff “Kirchenschändung” selbst bei den wenigen dokumentierten Fällen recht inflationär gebraucht wird. Es kommt zwar tatsächlich auch zu “Schändungen”, also der mutwilligen Zerstörung von Statuen oder Altären. Es gibt auch Fälle, in denen Graffitis hinterlassen wurden. In mindestens einem Fall wurde eine Kirche von einem geistig verwirrten Mann verwüstet. Bei der großen Mehrzahl der Fälle handelt es sich aber um Einbrüche.
Ein Sprecher von “Ecclesia”, einem Versicherungsdienstleister der unter anderem auf Versicherungen von Sakralbauten spezialisiert ist, weist darauf hin, dass wenn durch Kirchgemeinden Schadensfälle gemeldet werden, diese in Statistiken wie denen der Landeskriminalämter als Kircheneinbrüche geführt werden. Es kann sich dabei aber durchaus auch um Einbrüche in Kindergärten, Horte oder Friedhofshallen handeln.
Vertrauenswürdigere Zahlen als die “KCPM” scheint das Bistum Münster zu haben. Laut eines Artikels auf der Website des Bistums gab es 2015 bundesweit über 2.000 Einbrüche in Kirchen: “Das Spektrum reicht von Metalldiebstählen, wie zum Beispiel dem Abmontieren von Dachrinnen aus Kupfer, über die Entwendung von technischen Geräten wie Laptops oder Beamern bis hin zum Aufbrechen von Opferstöcken.” Ab und an kommt es auch zu aufsehenerregnderen Kunstdiebstählen. 2013 wurde das Borghorster Stiftskreuz aus der St. Nikodemes-Kirche in Steinfurt gestohlen. Die Täter wurden verhaftet und zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt. Das Kreuz ist seit diesem Jahr wieder im Besitz der Kirche. Aus der Kirche Sankt Brigitta in Bremen wurden ebenfalls 2013 einige historische Holzfiguren entwendet, zusätzlich zu 100 Flaschen Rotwein aus dem kirchlichen Keller.
Anfang 2017 wurden vor dem Kölner Landgericht acht Salafisten zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt, die über drei Jahre lang in Kirchen in Nordrhein-Westfalen eingebrochen waren. Ihr erfolgloser Plan: Kunstgegenstände verkaufen und den Erlös an die Terrormiliz “Islamischer Staat” zu spenden. Einbrüche in Kirchen werden also genauso wie alle anderen Einbrüche verfolgt.
AfD-Taktik: Übertreibung und Skandalisierung auch mit falschen Zahlen
Franziskas Gminders Facebookpost ist ein weiteres Paradebeispiel für das Empörungs-Baukasten-System der AfD.
Die Wortwahl: möglichst skandalisierend
“Kirchenschändung” klingt bei weitem dramatischer als Dachrinnendiebstahl. Vollkommen unterschiedliche Tatgründe werden alle auf einen Haufen geworfen. Und am Ende ist das alles natürlich ein Angriff auf das christliche Abendland.
Die Zahlen: eigentlich egal
Die Zahlen, die von Gminder geteilt werden, lassen sich nicht nachprüfen. Der Fakt, dass eine Zahl auf einer Website veröffentlicht wird, bedeutet nicht, dass sie auch stimmt. Der frischgebackenen Bundestagsabgeordneten ist das offenbar egal. Hauptsache, die Empörung stimmt.
Diskussion: unerwünscht
Die Kommentare, die Frau Gminder bisher auf die zahlreichen Presseberichte, oder die fragwürdige Statistik an sich aufmerksam gemacht haben, werden schnell wieder gelöscht. Für den oder die unbedarfte_n Besucher_in auf Gminders Seite handelt es sich also um einen unwidersprochen gebliebenen Post. Der von ihrer Partei so vielbeschworene “Mut zur Wahrheit” bleibt dabei auf der Strecke.
Update 13.12.2017: Nach Veröffentlichung dieses Artikels ist der Post von Frau Gminders Facebookseite vollständig verschwunden. Eine Stellungnahme von ihr gibt es dazu bisher nicht.