Am 19. Februar 2020 ermordete ein rechtsextremer Attentäter in Hanau neun Menschen. Darunter war auch der 23-jährige Ferhat Unvar. Ein halbes Jahr später gründete seine Mutter Serpil Temiz Unvar gemeinsam mit Ferhats Freund:innen die Bildungsinitiative Ferhat Unvar. Die Initiative engagiert sich in der antirassistischen Bildungsarbeit. Belltower.News sprach mit Ali Yildirim, Projektkoordinator der Bildungsinitiative, über die rechtsterroristischen Morde von Hanau, strukturellen Rassismus an Schulen und die Rolle der Zivilgesellschaft.
Belltower.News: Die schrecklichen Ereignisse vom 19. Februar 2020 haben in Hanau ihre Spuren hinterlassen. Inwiefern haben sie die migrantische Community geprägt?
Ali Yildirim: Der 19. Februar war generell für sehr viele Menschen in Hanau schwierig. Für Familienangehörige und Freund:innen so oder so, aber es hat auch die Stadtgesellschaft sehr verändert. Insbesondere die migrantische Community. Wir haben immer von der Kontinuität rechter Gewalt gehört, aber natürlich hätten wir uns nicht ausmalen können, dass es unsere Heimatstadt treffen wird. Aber es ist nun mal passiert. Wir haben Freund:innen und Mitmenschen verloren und uns war dann schnell klar, dass wir selbst was auf die Beine stellen müssen. In erster Linie natürlich, um den Opfern zu gedenken, damit die nicht in Vergessenheit geraten. Wir kämpfen für Aufklärung und für Konsequenzen aus der Tat. Wir wollen aber auch das Problem Rassismus angehen.
Ihr eigenes Engagement speist sich dabei aus einer sehr persönlichen Motivation.
Ja, ich bin ein Kindheitsfreund von Ferhat. Ich bin mit ihm aufgewachsen, wir haben verschiedene Etappen unseres Lebens gemeinsam gemeistert. Für mich ist die Initiative deshalb ein privates Anliegen. Ich mache das in erster Linie für Ferhat, aus meinem Pflichtgefühl ihm gegenüber. Diese Arbeit ist eine Möglichkeit für mich, um mit dem Anschlag und dem Verlust umzugehen. Wir haben als Gesellschaft sehr lange weggeschaut und den Ernst der Lage nicht wahrgenommen. Damit meine ich vor allem die Leute, die die Entscheidungsgewalt haben. Da muss mehr passieren, als Beileidsbekundungen auszusprechen. Man muss den Rassismus an der Wurzel packen.
Ihre Initiative hat sich hierbei für den schulischen Kontext entschieden. Weshalb?
Wir wussten, dass wir speziell im Gedenken an Ferhat tätig werden möchten. Aufgrund der Erfahrungen, die Ferhat in seiner Schulzeit gemacht hat und auch seine Mutter und unsere Gründerin Serpil Unvar, war uns klar, dass wir den bildungspolitischen Weg einschlagen. Wir wollen, dass Rassismus an Schulen erstmal überhaupt thematisiert wird, aber dann auch aus einer authentischen Betroffenenperspektive. Deshalb machen wir antirassistische Bildungsarbeit und Empowerment. Seit einem Jahr und drei Monaten gibt es jetzt die Bildungsinitiative und wir fangen erst an.
Wie kann man sich Ihre Arbeit vorstellen?
Wir gehen an Schulen und geben jungen Menschen Workshops zum Thema Antirassismus. Wir machen das klassenweise und sind immer drei Stunden vor Ort. Wir wollen, dass junge Menschen sensibilisiert werden, unabhängig davon, ob sie Rassismus und Diskriminierungserfahrungen am eigenen Leib spüren oder nicht. Uns geht es um eine langfristige Zusammenarbeit mit Schulen. Wir versuchen in Kontakt zu bleiben, versuchen im besten Fall, allen Klassen einer Schule Workshops anzubieten.
Wie gehen Sie dabei vor?
Wir gehen immer zu zweit in die Workshops. Dabei ist eine Person, die schon lange antirassistische Bildungsarbeit macht und dann immer eine junge Person, die aus der Bildungsinitiative kommt und aus der Betroffenenperspektive sprechen kann. Hauptsächlich sind das Freunde oder Freundinnen von Ferhat. 14 Personen insgesamt, die meisten machen das ehrenamtlich. Alle haben eine Ausbildung als Demokratietrainer:in von der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt. Wir alle sind in diese Arbeit reingerutscht und kamen eigentlich aus einem anderen Bereich. Seit es die Bildungsinitiative gibt, haben wir viel dazugelernt.
Für die Jugendlichen macht es sicherlich einen Unterschied, wenn eine Person zu ihnen spricht, die ungefähr in ihrem Alter ist.
Das Peer-to-Peer-Prinzip ist uns wichtig. Wir reden von jungen Menschen zu jungen Menschen. Wir vermitteln das Gefühl, dass wir Freund:innen verloren und eine schreckliche Tat hinter uns haben. Aber statt uns zurückzuziehen, gehen wir jetzt proaktiv an die Sache ran. Wir machen was gegen diese Probleme. Die Jugendlichen sollen wissen: „Es gibt da eine Initiative, die kommt zu uns. Aber wir können auch zu dieser Initiative gehen. Wir haben eine Anlaufstelle, wir haben jemanden, der uns zuhört. Und das ist jemand, dem wir gerne zuhören, weil diese Person für uns authentisch ist.“
Welche Themen bearbeiten Sie konkret?
In interaktiver Form arbeiten wir beispielsweise heraus, warum es falsch ist, bestimmte Begrifflichkeiten zu benutzen. Warum es nicht ausreicht, wenn jemand sagt, ich kenne jemanden aus dieser Minderheitengruppe und für ihn ist dieses Wort okay, also muss es für alle okay sein. Wir wollen vermitteln, was Rassismus und Diskriminierung anstellen kann und dass es verschiedene Formen von Rassismus gibt. Es gibt Rassismus gegen schwarze Menschen, es gibt Antisemitismus und Antiziganismus, es gibt antimuslimischen Rassismus. Das sind Dinge, die man ansprechen muss.
Rassismus im schulischen Kontext beschränkt sich gewiss nicht auf einen unangemessenen Sprachgebrauch.
Wenn wir über die Institution Schule reden, geht es auch um Chancengleichheit und um die Benotung. Es geht darum, dass du vielleicht – obwohl du dieselbe oder sogar eine bessere Leistung bringst – schlechter benotet wirst, einfach weil du einen bestimmten Background hast. Es gibt aber auch Bildungsmaterialien, die veraltet oder rassistisch sind. In meinem Geschichtsunterricht war Adolf Hitler am Ende vom Zweiten Weltkrieg tot. Danach gab es keine Nazis mehr. Aber so ist es nicht. Darüber müssen wir reden. Was ist die Kontinuität rechter Gewalt? Was ist danach passiert? NSU? Das sind Dinge, die man in der Schule nicht lernt, obwohl jeder die Pflicht hat, darüber Bescheid zu wissen.
Erleben Sie eine große Nachfrage?
Direkt nach der Gründung wurden wir mit Anfragen überhäuft. Wir kommen da tatsächlich nicht mehr hinterher. Wir haben schon Workshops in Hamburg und in Berlin gegeben oder in Bayern. Wir haben deutschlandweite Anfragen und versuchen, denen auch nachzugehen. Neben den Workshops gibt es immer noch Podiumsdiskussionen und Vorträge. Wir wollen auch mit verschiedenen Organisationen kooperieren.
Was für Feedback erhalten Sie für Ihre Arbeit?
Die Leute kennen uns und verbinden mit uns positive Dinge. Wir wurden mit dem Aachener Friedenspreis ausgezeichnet. Unsere Gründerin Serpil Unvar hat den EMOTION.award gewonnen. In den Workshops habe ich bisher nur Dankbarkeit erfahren. Ich merke auf jeden Fall, dass wir ein Sprachrohr für junge Menschen sind und dass wir junge Menschen mobilisieren und mitziehen.
Was steht als nächstes bei Ihnen an?
Seit letztem Juni haben wir in Hanau unsere Räumlichkeiten angemietet. Wir haben alles selbst renoviert. Zu unserem ersten Jahrestag im November 2021 haben wir die Räumlichkeiten offiziell eröffnet. Damit können wir die Projekte umsetzen, die wir für dieses Jahr haben. Geplant ist eine Beratungsstelle für Eltern. Wir werden dafür Expert:innen bereitstellen, auch Serpil Unvar kann dann mit ihren Erfahrungen da sein. Wir streben eine Vernetzung an. Wenn es Situationen gibt, bei denen uns die Expertise fehlt, können wir die Leute so zumindest an Menschen weiterleiten, denen sie vertrauen können und die ihnen auch zuhören. Wir werden hier vor Ort auch Sensibilisierungs-Workshops für Lehrer:innen anbieten. Die Arbeit am Konzept wird im zweiten Quartal 2022 abgeschlossen sein.
Sie wollen also auch mit Lehrkräften arbeiten?
Wir versuchen, mit Lehrer:innen in Kontakt zu kommen, sie erst mal für Rassismus zu sensibilisieren, wenn eine Sensibilisierung noch gar nicht stattgefunden hat. Wir wollen aber auch gucken, was braucht es in der Schule und wie kann man Lehrer:innen unterstützen? Viele Lehrer:innen sind sehr solidarisch. Sie wollen das Thema Rassismus in der Schule ansprechen, aber die zeitlichen Kapazitäten fehlen einfach dafür. Deswegen versuchen wir gemeinsam mit Schulen Projekte zu starten, etwa im Rahmen von Projektwochen.
In einem Brief an Angela Merkel forderte Serpil Unvar im März 2020 die Gründung einer antirassistischen Stiftung mit staatlicher Förderung. Wie ist das heute? Von welcher Seite werden Sie unterstützt?
Wenn die solidarische Zivilgesellschaft uns nicht unterstützen würde, würde es uns als Bildungsinitiative nicht in dem Umfang geben. Wir setzen uns aber auch mit verschiedenen Politiker:innen und Ämtern zusammen. Wir peilen für dieses Jahr den Erhalt einer langfristigen staatlichen Förderung an. Das wäre das mindeste, wenn wir als Betroffene diese Arbeit machen, obwohl wir das nicht müssten. Die Perspektive der Betroffenen ist natürlich sehr wichtig. Aber Rassismus ist eben auch ein gesamtgesellschaftliches Problem.
Der Anschlag von Hanau hat die Dringlichkeit dieses Problems auf tragische Weise unterstrichen. Beobachten Sie seitdem Veränderungen in der öffentlichen Wahrnehmung von Rassismus?
Ich denke, dass Hanau eine Zäsur war. Dasselbe wurde aber auch schon von anderen Initiativen und von den Hinterbliebenen anderer Anschläge gesagt. Die solidarische Zivilgesellschaft erkennt jetzt, dass es nicht mehr so weitergeht. Das haben wir aber auch schon bei den NSU-Morden gesagt.
Amadeu Antonio, nach dem die Stiftung hinter Belltower.News benannt ist, wurde 1990 von Neonazis ermordet. Eigentlich war es da schon zu viel.
Das meine ich. Ich denke einfach, dass dieses Land nicht mehr viele Anschläge aushält. Man hat zu lange weggeschaut und das Problem nicht ernst genommen. Man hat es zu lange bei Worten belassen. Vermutlich gibt es viele Faktoren, wieso Hanau vielleicht deutschlandweit für Veränderung gesorgt hat. Social Media und die Digitalisierung spielen wahrscheinlich eine große Rolle. Es ist aber auch die Vorarbeit, die andere Hinterbliebene, andere Organisationen und Initiativen geleistet haben. Die neue Rechte und auch die alte Rechte professionalisieren sich immer mehr, sie strukturieren sich immer besser. Deswegen ist vielen klar geworden, dass es eine Gegenmobilisierung geben muss und eine Gegenvernetzung.
Vernetzung scheint mir mit Bezug auf das Nachspiel des 19. Februar ein wichtiges Stichwort.
Da hat es „Klick“ gemacht. Wir sehen jetzt, wir sind nicht allein. Wir sind viele und wir haben viele Unterstützer:innen. Wir können diesen Kampf gemeinsam aufnehmen. Auch da wo andere gescheitert oder an ihre Grenzen gestoßen sind. Die Vernetzung gibt uns die Mittel an die Hand, um uns von diesen Grenzen nicht länger aufhalten zu lassen. Wir sind jetzt so weit, zu sagen, wir machen so lange weiter, bis die Veränderung, die wir fordern, auch umgesetzt ist.
Welche Veränderungen sind die dringlichsten?
Es geht zum Teil um sehr banale Dinge, über die ich einfach nicht mehr diskutieren möchte. Ich meine, dass man Rassismus klar benennt. Der Fall München hat beispielsweise gezeigt, dass es schwierig ist, rechtsterroristische Anschläge als das zu betiteln, was sie eigentlich sind. Auch in Hanau wurde anfangs versucht, den Täter nicht als Nazi sondern als psychisch krank einzuordnen. Dahinter steht aber, dass man den Menschen ihre Erfahrungen mit Diskriminierung und Rassismus nicht absprechen darf. Man muss akzeptieren, dass Leute diese Erfahrungen machen und dass eine deutsche Staatsangehörigkeit noch nicht bedeutet, dass du dieselben Rechte genießt. Das zeigt sich bei der Wohnungs- oder Jobsuche. Das siehst du im alltäglichen Rassismus. Das steckt in Behörden, etwa wenn es um Racial Profiling bei der Polizei geht. Das sind Dinge, die man ansprechen und bei denen man Veränderungen fordern muss.
Was planen Sie für den 19. Februar 2022?
Dieses Jahr organisieren verschiedene Jugendorganisationen aus Hanau die Demonstrationen am Samstag. Die Bildungsinitiative ist ein Teil davon, wir haben eine Demo angemeldet. Der Öffentlichkeit ist das oftmals nicht klar, aber für uns ist jeder Tag wie der 19. Februar. Wir müssen uns täglich mit der Thematik auseinandersetzen. Aber auch wir werden den Tag nutzen, wie er gedacht ist. Wir werden den neun Opfer von Hanau gedenken und allen Opfern rechter Gewalt. Das ist die Pflicht, die wir an dem Tag haben. Und am 20. Februar geht es dann weiter mit der Arbeit.