Seit dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie haben sich antisemitische Verschwörungsideologien online stark vermehrt, indem sie auf uralte Tropen zurückgreifen, um die Krankheit als jüdischen Komplott darzustellen, und gleichzeitig die neuen Kommunikationsplattformen nutzten, die während des Lockdowns an Popularität gewannen. „Es gibt ganz neue Inhalte, die vorher nicht da waren, die Jüdinnen und Juden für Covid-19 verantwortlich machen“, sagte Ernest Herzog, Leiter der Repräsentanz des Jüdischen Weltkongresses in Kroatien.
Einige der Verschwörungserzählungen werfen Jüdinnen und Juden alles Mögliche vor, von der Erstellung des Virus in einem Labor bis zur Erfindung des Virus als Schwindel. Andere verbreiten Gerüchte, dass Jüdinnen und Juden das Heilmittel hätten, aber dieses aus Profitgier nicht teilen würden – oder einfach aus dem Wunsch heraus, das Leiden von Nichtjuden genießen zu wollen. Ein besonders maßloses Beispiel kam aus Italien, wo das tägliche Aufnahmevermögen eines Krematoriums mit der Zahl der eintreffenden Leichen nicht Schritt halten konnte – dies verdrehten einige Kommentierende zu Beweisen, um die Theorie zu untermauern, dass Jüdinnen und Juden in Auschwitz nicht wirklich getötet wurden, da es nur einiger weniger Coronavirus-Tote bedurfte, um die tägliche Kapazität des städtischen Krematoriums zu überschreiten. „Plötzlich wurde diese Verschwörungserzählung, die eigentlich ein Narrativ der Holocaustleugnung war, welches irgendwie mit der Covid-19-Erzählung verbunden wurde, lebendig“, fuhr Herzog fort.
Sie fügt sich in eine breitere Entwicklung des zunehmenden Antisemitismus im Internet ein, was der Communities Security Trust (CST) in einem kürzlich erschienenen Bericht dokumentierte. Der Bericht hebt hervor, dass in den ersten sechs Monaten dieses Jahres die antisemitischen Vorfälle im Internet proportional zugenommen haben – was auf einen Rückgang von Offline-Vorfällen während des Lockdowns zurückführt wird. Das Media Diversity Institute hat dokumentiert, wie dies durch „Zoombombing“ geschah, eine Praxis, bei der böswillige Akteur*innen Online-Treffen infiltrieren, oft mit antisemitischen oder anderweitig hasserfüllten Inhalten, und so absichtlich Veranstaltungen stören. Diese Praxis kommt zu den vielen toxischen Erzählungen hinzu, die in den sozialen Medien kursieren und die Theorie propagieren, dass Jüdinnen und Juden für die Pandemie verantwortlich seien, und sie mit uralten Tropen und Verschwörungsideologien rechtfertigen.
Während Antisemitismus oft mit der extremen Rechten in Verbindung gebracht wird, weist Philip Spencer, emeritierter Professor für Holocaust- und Völkermordstudien an der Kingston University, darauf hin, dass viele der neueren verschwörungsideologischen Erzählungen politisch permeabel sind und mehr von einer konspirativen Weltsicht als von einer politischen Zugehörigkeit abhängen. „Es ist nicht dieselbe Verschwörungserzählung von links und rechts“, sagt er und erklärt, je schwieriger es ist, den Ursprung eines Inhalts nachzuvollziehen, desto mehr Zugkraft kann er im gesamten politischen Spektrum gewinnen.
Ein Beispiel dafür ist die Verschwörungsideologie „QAnon“, eine wachsende Online-Bewegung, die die Verwirrung und Frustration über die Covid-19-Pandemie aktiv ausnutzt, indem sie die Theorie vertritt, Donald Trump führe einen geheimen patriotischen Krieg gegen den sogenannten „Deep State“ (Schattenstaat), eine Gruppe satanverehrender Pädophiler innerhalb der Regierung, Wirtschaft und Medienelite. Viele ihrer Anhänger*innen benutzen beunruhigenderweise antisemitische Tropen und Sprache als „Dog Whistle“ für andere Anhänger*innen, indem sie auf bestimmte Personen, Begriffe und Erzählungen verweisen. Diese „Dog Whistles“ mögen ohne Kontext vage und harmlos erscheinen, in Wirklichkeit signalisieren sie aber eine schleichendere Form von Hassrede gegen alle jüdischen Menschen.
Viele Expert*innen haben darauf hingewiesen, dass Covid-19 – und der damit verbundene weit verbreitete Lockdown – die idealen Voraussetzungen für diese Verschwörungsideologien geschaffen haben, die darauf angewiesen sind, dass Menschen ihre Angst vor dem Unbekannten mit verschwörungsideologischen Erklärungen rationalisieren.
„Die Geschichte zeigt, dass Menschen während einer Pandemie sehr oft versuchen, eine einfache Erklärung zu finden“, betont Präsident der European Union of Jewish Students, Bini Guttmann. „Es hat immer Menschen gegeben, die an verrückte Theorien oder Unwahrheiten geglaubt haben“, fährt er fort und weist darauf hin, dass die meisten dieser Theorien leicht zerstreut werden konnten, bevor das Internet so allgegenwärtig wie heute wurde.
„Wenn eine Person glauben würde, der Mond bestehe aus Käse, könnte sie ihren Freund*innen, Kolleg*innen und ihrer Familie davon erzählen und alle würden sagen: ‚Nein, ist er nicht, wovon redest du da?‘“, so Guttmann. „Die Person würde entweder die Klappe halten oder ihre Meinung ändern, aber in der heutigen Welt kann diese Person online gehen und eine Gemeinschaft von anderen Menschen finden, die glauben, dass der Mond aus Käse besteht.“ Während einige dieser Annahmen falsch, aber harmlos sind, können andere viel schneller viel gefährlicher werden. „Wenn diese Person nicht glaubt, dass der Mond aus Käse besteht, sondern dass die globale Elite uns kontrolliert, dass Bill Ackman und Bill Gates uns alle mit Mikrochips ausstatten wollen, wird es sehr schnell gefährlich, und das ist das Problem, das wir sehen.“
Viele Expert*innen befürchten, dass mit zunehmenden Wiederkehr unseres Alltags sich ein Teil dieses Hasses, der sich online angesammelt hat, auch offline manifestieren wird. Der CST hat bereits einen Anstieg der Hassvorfälle seit der Lockerung des britischen Lockdowns im Mai dokumentiert – und obwohl nicht jeder hasserfüllte Beitrag zu einem Akt physischer Gewalt führt, gibt es einige Hinweise für einen Zusammenhang zwischen Hassrede und Hassverbrechen. „Nachdem Verbrechen strafrechtlich verfolgt wurden, wird häufig deutlich, dass die Person begonnen hatte, sich online zu äußern“, sagte ein CST-Sprecher gegenüber dem Media Diversity Institute. „Dort haben diese Ideen zu gären begonnen, und dann wurden sie mehr verwirklicht.“
Zunehmend gibt es keine klare Abgrenzung mehr zwischen Online- und Offline-Missbrauch. Radikalisierung findet auf Online-Plattformen statt, die oft schwer zu beobachten sind, auf denen sich die Nutzer*innen aufgrund ihrer gemeinsamen Überzeugungen verbinden und sich manchmal gegenseitig motivieren, ihre Überzeugungen in die Tat umzusetzen – dies konnte schon mehrfach beobachtet werden, vom Anschlag auf eine Moschee in Christchurch, Neuseeland, bis zum Anschlag auf eine Synagoge in Halle im selben Jahr. In beiden Fällen wurden die Schützen online radikalisiert, haben „Manifeste“ auf Nischen-Imageboards veröffentlicht und ihre Offline-Angriffe online übertragen, so dass Millionen von Zuschauer*innen sie sehen konnten.
Was bedeutet dies für die Zukunft des Antisemitismus? Herzog weist darauf hin, dass der Antisemitismus in Zeiten von Finanzkrisen historisch gesehen zunahm – was zweifellos mit den wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie einhergehen wird. „Wir befürchten, dass wir angesichts des weltweiten wirtschaftlichen Niedergangs, der aufgrund der derzeitigen Ereignisse unvermeidlich ist, mehr von diesem Antisemitismus sehen werden“, sagt er.
Der Antisemitismus mag sich zwar an den Lockdown angepasst und sich auf neue Kommunikationsplattformen ausgebreitet, aber in vielerlei Hinsicht kämpfen wir immer noch gegen die gleichen toxischen Erzählungen des Hasses. Wenn Menschen sich Verschwörungsideologien für einfache Erklärungen zuwenden, müssen wir dafür sorgen, dass die antijüdische Haltung, die ihnen zugrunde liegt, in Frage gestellt und entlarvt wird.
Dieser Artikel wurde erstmals auf Englisch auf der Webseite des Media Diversity Institutes veröffentlicht.