
Das Meinungsforschungsinstitut INSA sieht in einer am Samstag veröffentlichten Umfrage die AfD bundesweit gleichauf mit der Union. Bei Infratest-dimap, im Auftrag der ARD, hat die AfD von Anfang März zu Anfang April drei Prozent zugelegt und die Union drei Prozent verloren. Damit scheint es nur noch eine Frage von Tagen zu sein, bis erstmals in der deutschen Nachkriegsgeschichte eine rechtsextreme Partei, zumindest in Umfragen, bundesweit stärkste Kraft wird.
Hat die AfD ihr Wähler*innenpotential ausgereizt?
Seit der Bundestagswahl ist der Vorsprung der Union über acht Prozent vom Wahlabend völlig zusammengeschmolzen. Geht das jetzt immer so weiter oder hat die AfD ihren Zenit erreicht? Viele Expert*innen, wie der Rechtsextremismusforscher und wissenschaftliche Leiter des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ), Dr. Axel Saalheiser, warnten schon direkt nach der Bundestagswahl: „Das Wähler*innen-Potenzial der AfD ist weder in Ostdeutschland, noch in Süddeutschland, in Westdeutschland oder in Norddeutschland ausgeschöpft“ analysierte Saalheiser. Er machte dies u.a. daran fest, dass dort, wo die AfD Direktmandate geholt hat, sie häufig mehr Erststimmen als Zweitstimmen sammeln konnte. Diese Einschätzung wird auch von Demoskop*innen gestützt.
Das Meinungsforschungsinstitut INSA erhebt regelmäßig für alle Parteien, wieviele Menschen sich vorstellen können, die Partei zu wählen. Bei der letzten Erhebung Ende März ermittelte INSA, dass aktuell 30,5 Prozent der Befragten sich grundsätzlich vorstellen können, AfD zu wählen, 19 Prozent gaben an, auf jeden Fall die Rechtsextremen wählen zu wollen und 56 Prozent konnten sich das grundsätzlich nicht vorstellen. Diese Werte sind jedoch auch keine statischen Werte. Im Mai letzten Jahres konnten sich knapp 25 Prozent grundsätzlich vorstellen, die AfD zu wählen, Ende Dezember 2023 waren es hingegen 31 Prozent. Es ist also nicht so, dass sich kontinuierlich immer mehr Menschen vorstellen können die Partei zu wählen. Ein Zurückdrängen der AfD ist also möglich. Nur danach sieht es im Moment nicht aus.
Größere Teile der AfD und ihres Umfeldes waren nicht wirklich zufrieden mit dem Abschneiden bei der Bundestagswahl. Angesichts der vielen schrecklichen Terroranschläge im Vorfeld der Wahl, der Selbstdemontage der Ampel und dass die Union davon nicht in dem Maße profitieren konnte, wie es eigentlich erwartbar gewesen wäre, war für viele aus Partei und Umfeld das Abschneiden der AfD mit 20,6 Prozent enttäuschend.
Politikversagen
Gründe für den Zustimmungsverlust der CDU und den Zuspruch für die AfD sind vielfältig. Sie dürften auch in kurzfristigen Enttäuschungen von Unionswählenden liegen, die über die ersten durchgestochenen Ergebnisse der Koalitionsverhandlungen und vor allem die Kehrtwende in Sachen Schuldenbremse unzufrieden sind. Laut ZDF-Politbarometer halten 73 Prozent der Deutschen den Vorwurf, Merz habe Wählertäuschung betrieben, für gerechtfertigt. Auch bei den Wählenden der Union sagen dies immerhin 44 Prozent. Bei der AfD sind es fast 100 Prozent.
Vielfach liegen die Gründe jedoch nicht nur in aktuellen politischen Entscheidungen begründet, sie haben eine längere Vorgeschichte. Eine Studie der Bertelsmann Stiftung hat die Stimmverteilung bei der Bundestagswahl 2025 anhand der Sinus-Milieus untersucht. Sinus-Milieus fassen Menschen mit ähnlichen Werten und einer vergleichbaren sozialen Lage zu Gruppen „Gleichgesinnter“ zusammen. Umfasste die politische Mitte bei der Bundestagswahl 2021 noch 76 Prozent der Stimmen, 83 Prozent der Mandate, ermöglichte drei verschiedene Koalitionsoptionen und hatte klare verfassungsändernde Mehrheiten, sind es bei der Bundestagswahl 2025 nur noch 61 Prozent der Stimmen, 66 Prozent der Mandate, eine einzige und knappe Koalitionsoption und keine eigene verfassungsändernde Mehrheit mehr.
Der Autor der Studie, Robert Vehrkamp, stellt fest, dass die Union von der Selbstdemontage der Ampel-Regierung kaum profitieren konnte: „Von den knapp 30 Prozentpunkten Ampelverlusten in den Milieus der Mitte ist mit 5 Prozentpunkten gerade einmal ein Sechstel bei der Union gelandet“, schreibt Vehrkamp. Er analysiert: „Dass die Unionsparteien davon nicht profitieren konnten, ist aber deren ureigenes Versagen als Opposition der Mitte. Vor allem in den Milieus der Mitte hat sie den Wettbewerb um die Ampelverluste gegen die AfD vorerst verloren“. Als einen der Hauptgründe benennt Vehrkamp das Verhalten der Union gegenüber der AfD: „Nachahmung stärkt immer das extremere Original. Feuer am extremen Rand löscht man nicht mit Feuer in der Mitte“.
Die Studie sieht aber nicht allein bei der Union ein Versagen: „Die Selbstbeschädigung der parteipolitischen Mitte, zum einen durch das Regierungshandeln der Ampel und zum anderen durch die Oppositionsstrategie der Unionsparteien, hatte in den letzten drei Jahren viele Facetten, Gesichter und Episoden. Ihr Höhe- und Endpunkt war der migrationspolitische Bankrott von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen kurz vor der Wahl. Die gemeinsamen Abstimmungen von Union und AfD zur Migrationspolitik haben die Selbstbeschädigung der Mitte im Verlauf der Legislatur noch einmal zusammengefasst, zugespitzt und potenziert. Profitiert hat davon vor allem die AfD.“
Normalisierung des Rechtsextremismus
Die gemeinsame Abstimmung von Union und AfD war Folge der Normalisierung der rechtsextremen Partei und ihrer Positionen in den letzten Jahren, aber auch ein Katalysator für die Zukunft. Seit Bestehen der AfD ist die Partei zunehmend erfolgreich damit, rechtsextreme Positionen in den Mainstream zu tragen. Aktuell wird in den Koalitionsverhandlungen zum Beispiel diskutiert, ob Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft ausgebürgert werden können. Nachdem das sogenannte „Potsdamer Geheimtreffen“ von Rechtsextremen aus AfD und Umfeld publik wurde, bei dem genau dieser Forderung diskutiert wurde, galt das noch als Tabubruch – jetzt könnte es Regierungspolitik werden.
AfD: Harmonie und Radikalisierung
Ein weiterer Grund, warum die AfD zunehmend als wählbar für breitere gesellschaftliche Schichten wahrgenommen wird, ist ihre Taktik der Harmonie und Radikalisierung. Schon seit Gründung der Partei radikalisiert sich diese, auch unter Anleitung der sogenannten Neuen Rechten, immer weiter. Diese Radikalisierung fällt jedoch vielfach nicht mehr so auf. Das liegt auch daran, dass es nach dem Austritt von Ex-Parteichef Jörg Meuthen keine wahrnehmbaren Flügel in der AfD mehr gibt. Auch wenn die „Gemäßigten“ nie gemäßigt waren, galt der Flügelstreit als Seismograph für den Grad der Radikalisierung der Partei. Die AfD hat es unter der Führung von Alice Weidel und Tino Chrupalla geschafft, vorhandene innerparteiliche tiefe Gräben zu überdecken und Konflikte möglichst jenseits der Öffentlichkeit auszutragen. Selbst die Radikalsten werden jetzt harmonisch eingebunden. Vor ein paar Jahren wollte Weidel den thüringischen AfD-Chef Björn Höcke noch aus der Partei schmeißen. Jetzt möchte sie ihn zum Minister machen. So gehen Harmonie und Radikalisierung einvernehmlich Hand in Hand.
Zerstörung der Union
Ausdruck der Radikalität der AfD ist auch das ausgegebene Ziel der Zerstörung der CDU/CSU. Schon 2023 analysierte Maximilian Krah, Spitzenkandidat der AfD bei der Europawahl und aktuell Mitglied im Deutschen Bundestag, dass die AfD nur Erfolg haben können, wenn die Christdemokraten verschwinden. Ziel müsse es sein, dass die CDU sich spalte, so Krah. In einen „rechtsoffenen“ und einen Grünen-nahen Teil. Das würde die CDU zum Implodieren und Verschwindenbringen. Die Zerstörung der Union dürfte in dieser Legislaturperiode daher eines der, wenn nicht das Hauptziel der AfD sein. Der parlamentarische Geschäftsführer der AfD-Bundestagsfraktion, Bernd Baumann, benannte in einem AfD-Podcast die vorherrschende Strategie ganz ähnlich. Auf die Frage welche Akzente die AfD in den nächsten vier Jahren setzen möchte, erwähnte er nur den Kampf gegen die Union. Man werde Forderungen der Union aus dem Wahlkampf als Gesetzesvorlage in den Bundestag einbringen, mit dem Ziel, dass die Union sich zerreibt und sich vor dem Fall in dieBedeutungslosigkeit noch besinnt und eine Koalition mit der AfD eingehe, so Baumann. In solch einer Koalition werde sich die Union dann endgültig überflüssig machen, hofft man in der AfD. Nahezu identisch formulierte die Parteistrategie auch der AfD-Ehrenvorsitzende Alexander Gauland gegenüber dem Spiegel.
Spätestens seit der Zusammenarbeit mit den Grünen beim Sondervermögen ist auch das Narrativ der AfD für die aktuelle Legislaturperiode gesetzt: Die Union sei Teil des linken Lagers geworden und Merz setzt jetzt rot-grüne Politik um. Somit sei der versprochene Politikwechsel nur mit der AfD machbar. Dieses Narrativ verfängt scheinbar auch in Teilen der aktuell unzufriedenen Unions-Anhänger*innenschaft.
Ist der Aufstieg der AfD unaufhaltsam?
Hat die sich anbahnende Koalition aus Union und SPD unter diesen Vorzeichen überhaupt noch eine Chance oder steht die AfD schon bald an den Pforten zur Macht in Berlin?
Diesen Eindruck möchte die Partei jedenfallsgerne vermitteln. Wenn jedoch die Koalitionsverhandlungen erfolgreich abgeschlossen werden und die neue Regierung weitgehend erfolgreich und geräuschlos agiert, sich gegenseitige Erfolge gönnt, könnte sie mittelfristig Vertrauen und Zustimmung zurückgewinnen. Auch wird es davon abhängen, ob die Milliardeninvestitionen in die Infrastruktur in der laufenden Legislaturperiode schon spürbare Erfolge zeigen. Angesichts der immensen Investitionsbeträge auch in Verteidigung wird zudem der Finanzierung ein großer Stellenwert hinzukommen. Die oberen Einkommensschichten werden stärker belastet werden müssen, sonst werden noch mehr Wählende mit mittleren und niedrigen Einkommen auf die AfD setzen. Schon jetzt wählen Menschen mit niedrigen Einkommen überproportional stark die AfD. Die Basis von Union und SPD würden bei einer Vermögenssteuer wohl mehrheitlich mitmachen. Immerhin sprechen sich 66 Prozent der Unions- und 87 Prozent der SPD Anhänger*innen für die Einführung einer Steuer auf hohe Vermögen aus.
Eine Unbekannte ist auch, ob der AfD ihre Unterstützung für Trump auf die Füße fallen könnte, wenn die Welt jetzt in eine Wirtschaftskrise schlittert und Deutschland und seine Industrie massiv unter der Zollpolitik der USA leiden. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass die AfD-Anhänger*innen auch das lieber dem „Establishment“ anlasten und weiterhin Fans von Trump und der AfD bleiben.
Die Landtagswahlen 2026 in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern werden daher die ersten großen Bewährungsproben für die Koalition und die Demokratie. Wenn die AfD in einem oder beiden Bundesländern stärkste Partei wird, bleibt abzuwarten, ob das Versprechen hält, auf Landes- und Bundesebene keine Koalition einzugehen oder Tolerierung durch die AfD zu akzeptieren Auch eine absolute Mehrheit für die AfD scheint zumindest in Sachsen-Anhalt nicht mehr ausgeschlossen zu sein. Der Aufstieg der AfD liegt aber mehr an der Schwäche der demokratischen Parteien, als an der Stärke der Rechtsextremen. Somit haben Politik und Gesellschaft es auch in ihren Händen, die Normalisierung des Rechtsextremismus zu stoppen und umzukehren, in dem sie eben nicht rechtsextreme Inhalte übernehmen, sondern demokratische und solidarische Gegenentwürfe entwickeln. Aber Wählende an die AfD zu verlieren geht weitaus schneller, als sie zurückzugewinnen. Gute Konzepte und ein langer Atem sind also gefragt.