Heiko Beyer ist Professor für Soziologie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und forscht insbesondere zu politischen und religiösen Ideologien sowie zur Frühgeschichte der Soziologie. Tobias Brück sprach mit ihm über den Unterschied von Antiamerikanismus und Amerikakritik, über antiamerikanischen Protest und darüber, warum dieser derzeit wieder Konjunktur zu haben scheint.
Belltower.News: Seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine hat man den Eindruck, dass sich antiamerikanische Aussagen in der Öffentlichkeit häufen. Feiert der Antiamerikanismus derzeit ein Comeback?
Heiko Beyer: Diese Frage müsste man sich empirisch näher anschauen. Es gibt soweit ich weiß keine aktuellen Studien dazu. Daher fehlen belastbare Zahlen, ob wir wirklich von einem Comeback sprechen können. Man konnte bei der von Jürgen Elsässer initiierten Demonstration „Ami go home“ im November 2022 in Leipzig beobachten, das Antiamerikanismus öffentlichkeitswirksam als Mobilisierungsthema genutzt wurde. Die geringen Teilnehmer*innenzahlen zeigen jedoch, dass das Thema mit dem angesprochenen Publikum des Querdenken-Milieus noch nicht so resoniert, wie das in den vergangenen Jahrzehnten bei antiamerikanischen Großdemonstrationen der Fall war. Das Potential des Antiamerikanismus, Massen zu mobilisieren, ist auf jeden Fall da. Zwar scheint es jetzt noch nicht soweit, aber je länger der Ukraine-Krieg dauert, desto wahrscheinlicher wird es, dass wieder mehr Menschen mit Antiamerikanismus auf die Straße geholt werden.
Wann kam es in der Vergangenheit zu antiamerikanischer Mobilisierung?
Die jüngste Massenmobilisierungswelle ereignete sich in den Nullerjahren, als zwischen 2002 und 2011 zahlreiche Massendemonstrationen stattgefunden haben. Diese läuft mit den Anti-TTIP-Protesten aus, wo sich teilweise zehntausende Menschen versammelten. In den Nullerjahren hatten insbesondere die Proteste gegen den Irak-Krieg während der Amtszeit des damaligen US-Präsidenten George W. Bush Junior einen weit über Amerikakritik hinausgehenden antiamerikanischen Einschlag. Das ist aber nicht das erste Mal in der Geschichte gewesen, dass es solche Massenmobilisierung gegeben hat. In der Friedensbewegung der 1980er-Jahre gab es teilweise Demonstrationen, zu denen in Westeuropa Hunderttausende kamen. Diese Mobilisierungsfähigkeit sieht man bei keinem anderen Thema. Wenn es gegen Amerika geht, werden Demonstrationsteilnehmer*innenzahlen erreicht, die sonst utopisch wären.
Viele fragen sich, worin der Unterschied zwischen legitimer USA-Kritik und Antiamerikanismus besteht. Könnten Sie genauer erläutern, was Sie unter Antiamerikanismus verstehen?
Der Unterschied zwischen Antiamerikanismus und Amerikakritik wird in jeder wissenschaftlichen Arbeit betont. Analytisch lässt sich das relativ gut abgrenzen. Antiamerikanismus arbeitet mit Stereotypen. Hier findet eine grundsätzliche Ablehnung des Amerikanischen als zugeschriebenen essentiellem Merkmal statt. Zudem wird eine gewisse Omnipotenz Amerikas angenommen -verschwörungstheoretische Elemente finden sich fast immer im Antiamerikanismus. Schließlich kennzeichnet den Antiamerikanismus eine obsessive und affektive Aufladung. Empirisch ist es nicht immer einfach, diese Elemente herauszufiltern und genau zu bestimmen, wann Antiamerikanismus oder Amerikakritik vorliegt. Auf Bewegungsebene geht das schon eher, weil man die Bewegungstradition nachzeichnen kann. Aber auf Individualebene ist das schwieriger.
Gibt es eine Kontinuität der Narrative aus der Vergangenheit im heutigen Antiamerikanismus oder kommen auch neue Erzählungen hinzu?
Die historische Tradition des antiamerikanischen Diskurses macht sich daran fest, dass Opposition zum Westen als solchem eingenommen wird. Nicht selten, wenn sich gegen westliche Prinzipien, gegen Individualismus, Kapitalismus und Demokratie zur Wehr gesetzt wurde, war Antiamerikanismus präsent. Der Hass auf den Westen wird dabei auf Amerika projiziert. Das ist historisch gut beobachtbar und findet auch heute wieder statt. Es geht dabei nicht nur um Mobilisierung innerhalb rechter Gruppen, sondern dass eine Querfront gebildet wird. Das Ziel ist Anschlussfähigkeit zwischen Links und Rechts herzustellen. Was linken und rechten Antiamerikanismus eint, ist die Ablehnung der kapitalistischen Moderne auf der einen Seite und einer bestimmten Art der Kultur auf der anderen Seite. Heutige Neonazis boykottieren genauso McDonalds wie linke Antiimperialist*innen. Sie lehnen die Globalisierung ab, die sie mit Amerika identifizieren.
Ist der Antiamerikanismus deshalb im Stande als Scharnier zwischen Rechtsextremen und vermeintlich linken und progressiven Akteur*innen zu fungieren, weil die USA ihnen als Projektionsfläche dient?
Beim Antiamerikanismus hat man im Prinzip den realen Gehalt, dass die USA eine Supermacht sind und das Weltgeschehen maßgeblich mit beeinflussen und beeinflusst haben. Das Interessante, wenn man sich mit der Geschichte des Antiamerikanismus beschäftigt, ist aber, dass die Narrative, die heute scheinbar Sinn ergeben, schon existierten als Amerika noch keine Supermacht war. Der projektive Gehalt des Antiamerikanismus zeigt sich so von Anbeginn an. Amerika diente und dient als Projektionsfläche, im Positiven wie im Negativen. Das Neue, das es verkörperte und die Prinzipien für die es stand sind letztlich die Grundprinzipien der kapitalistischen und demokratischen Moderne.
Wie unterscheidet sich linker Antiamerikanismus von rechtsextremen Antiamerikanismus?
Die Unterschiede sind im rhetorischen Egalitarismus zu suchen. Während selbst der ethnopluralistische Rechtsextremismus von einer abgegrenzten Nation und Ethnien ausgeht und für Ungleichheit steht, ist das linke Selbstverständnis ein egalitaristisches. Das heißt nicht, dass der linke Antiamerikanismus sich nicht auch in Selbstwidersprüche verstricken würde. Der Nationalismus im rechten Antiamerikanismus ist jedoch sehr viel unvermittelter. Es gibt zudem Unterschiede zwischen völkischen und kulturkonservativen Varianten des Antiamerikanismus. Letzterer muss nicht zwangsläufig völkisch konnotiert sein, betrachtet aber die ganze Kultur Amerikas als minderwertig. Dieser elitäre Kulturkonservatismus findet sich ebenfalls in manchen Teilen der Linken, selbst dann, wenn amerikanische Subkulturprodukte sehr positiv rezipiert werden.
Wie in der 68er-Bewegung?
Genau, dort wurde eine intellektuelle Überlegenheit gegenüber Amerika suggeriert und in Anspruch genommen. Damit machte man Amerika homogener, als es tatsächlich war. Man bediente sich amerikanischer Protestform wie zum Beispiel Sit-Ins und betrachtete Amerika gleichzeitig als undemokratisch und hinterwäldlerisch.
In Welchen Phasen hat Antiamerikanismus Konjunktur?
Insbesondere in Gesellschaften und in Zeiten, wo ein gewisser Modernisierungsschub stattfindet. Das kann die klassische Moderne sein, wie im 19. Jahrhundert, aber auch eine neuere Form der Modernisierung, wie sie im frühen 20. Jahrhundert zu beobachten ist oder das, was wir als Globalisierung kennen und in den 1990er- und 2000er-Jahren gesellschaftliche Umbrüche nach sich gezogen hat. In diesen Zeiten gibt es ein bestimmtes Bedürfnis nach Welterklärung für die Veränderungen. Dieses Bedürfnis wird häufig durch Antiamerikanismus befriedigt, zusammen mit Antisemitismus, wo es ähnlich Bilder gibt. Die Juden sind ja klassischerweise für die Phänomene der kapitalistischen Moderne verantwortlich gemacht worden und deshalb findet man empirisch auch einen Zusammenhang zwischen Antiamerikanismus und Antisemitismus.
Warum geht der Antiamerikanismus so oft mit Antisemitismus einher?
Der eine Grund ist die schon angesprochene ideologische Passfähigkeit, also dass beide Ideologeme Erklärungen für die kapitalistische Moderne anbieten, in dem sie die Amerikaner*innen bzw. die Juden dafür verantwortlich machen. Beide kennzeichnet eine bestimmte Form der Projektion negativer Charaktereigenschaften, die auf die Amerikaner*innen bzw. die Juden projiziert werden. Geldgier ist zum Beispiel ein klassischer Topos, den wir sowohl im Antisemitismus als auch im Antiamerikanismus finden. Beide Ressentiments dienen zudem der Konstruktion kollektiver Identitäten, seien es nationale Identitäten, teilweise auch transnationale Identitäten, wie die europäische Identität beim Antiamerikanismus, aber auch religiöser Identitäten. Bei der Ideologie des politischen Islam spielt beispielweise sowohl Antisemitismus als auch Antiamerikanismus heute eine zentrale Rolle. Im frühen 20. Jahrhundert waren Antiamerikanismus und Antisemitismus geläufige Erklärungsmuster, die von bestimmten Bewegungen adaptiert und integriert wurden. Die nationalsozialistische Ideologie etwa, die im Kern ja auch antiindividualistisch und antiwestlich war, verknüpfte aus den genannten Gründen Antisemitismus und Antiamerikanismus.
Oft hat man den Eindruck, dass derzeit Antiamerikanismus mit pro-russischen Narrativen und teilweise auch russischer Staatspropaganda einhergeht. Welche historischen Ursachen gibt es diesbezüglich?
Das findet man interessanterweise auch schon vor dem Zweiten Weltkrieg und auch in der nationalsozialistischen Bewegung, wo eine verhältnismäßig große Bewunderung für den stalinistischen Totalitarismus existierte, trotz des offenkundigen und weithin bekannten Antibolschewismus der Nazis. Deshalb war das Antiwestliche, der Antimodernismus und Antiindividualismus ideologisch sehr viel grundlegender als der Antibolschewismus. Das hat man in vielen der fortfolgenden sozialen Bewegungen, rechten wie linken, gesehen: Immer dann, wenn es um die eigene Standortbestimmung ging, verortete man sich eher im Osten als im Westen. In diesem bipolaren Denken erschien das Östliche als authentischer als die vermeintliche westliche Dekadenz.
Welche Milieus sind denn besonders anfällig für Antiamerikanismus?
Klassischerweise ist es ein bildungsbürgerliches Milieu gewesen, dass antiamerikanische Ressentiments vertreten hat. Ein erster Boom des Antiamerikanismus ist in den 1980er-Jahren zu beobachten, als dann im Nachgang der Neuen Linken, Antiamerikanismus über politische Lager hinweg bis in die Mitte hinein salonfähig wurde. Davor war es eher ein Phänomen der politischen Lager, schematisch gesagt von rechts und links. In den 1980er-Jahren diffundiert es massenwirksam in die Mitte der Bevölkerung. Die Massendemonstration in den frühen 2000er-Jahren dann ereigneten sich ursprünglich aus der Motivation heraus, gegen den Irakkrieg auf die Straße zu gehen. Aus dem Protest gegen Krieg entwickelten sich schnell ideologischere und ressentimentgeladene Demonstrationen. In der Friedensbewegung, sowohl der der 1980er wie auch der 2000er, findet man bis in die Mitte hinein die sehr stereotype und projektive Form des Antiamerikanismus. Der „overdrive“-Antiamerikanismus der 2000er war der letzte Höhepunkt des Antiamerikanismus, verdeutlicht aber auch, dass es Wellen antiamerikanischer Rhetorik gibt, und entsprechende Diskurse immer wieder aktualisiert werden können und wir sehen momentan erste Anzeichen dafür.
Für wie groß schätzen Sie die vom Antiamerikanismus ausgehende Gefahr für die Demokratie ein?
Die größte Gefahr, die vom Antiamerikanismus ausgeht, betrifft zunächst einmal die USA selbst. Die Anschläge von 2001 sind ein Kriegsakt gewesen und hat tausenden Menschen in New York das Leben gekostet. Eine bestimmte Form des Antiamerikanismus liegt auch dem Trumpismus zugrunde. Wenn man sich die ideologischen und rhetorischen Figuren der Trump-Bewegung anschaut, ähneln die sehr stark den Mustern, die wir im europäischen Antiamerikanismus vorfinden, insbesondere das verschwörungstheoretische Denken. In den USA führte das zu dem versuchen Putsch beim Sturm auf das Kapitol in Washington am 6. Januar 2021. Und auch diesseits des Atlantiks, können antiamerikanische (und antisemitische) Verschwörungstheorien dazu führen, dass demokratische Prinzipien und Mechanismen geschädigt werden.
Wie kann die demokratische Zivilgesellschaft gegen Antiamerikanismus vorgehen?
Zuerst einmal hilft Aufklärung darüber, dass es überhaupt so etwas wie Antiamerikanismus gibt. Es ist das salonfähigste Vorurteil, weil es harmlos und sogar sozial erwünscht erscheint. Indem man auf die Ernsthaftigkeit des Phänomens hinweist und verdeutlicht, dass es ein ideologisches Einfallstor für andere Formen verschwörungstheoretischen, antiindividualistischen und antidemokratischen Denkens ist, ist schon viel getan.