Aus meiner Zeit als Jurastudentin ist mir vor allem eine Szene besonders im Kopf geblieben: in einer meiner ersten Strafrechtsvorlesungen schweifte der Professor ab, als er versuchte zu erklären, wie schwierig es sei bestimmtes Unrecht zu ahnden, wenn es zu der gegebenen Zeit unter dem bestehenden Gesetz nicht nur straffrei, sondern sogar rechtlich gewollt war. Namentlich sind es die Fälle von Mauerschützen in der DDR, aber auch Mithilfe in der Judenverfolgung im Dritten Reich. Dabei erwähnte er beiläufig, dass aus seiner Sicht in keinem einzigen Wissenschaftsbereich die Nazi-Vergangenheit dermaßen schlecht aufgearbeitet worden sei wie in Jura.
Das BGB ist zwar das numerisch vorderste Gesetzbuch im deutschen Recht, aber der Schönfelder ist lediglich Band 20. Band 1 bis 19 waren die Rassengesetze des Dritten Reiches, die man nach dessen Untergang zwar gestrichen hatte, die Nummerierung hatte man aber nicht angepasst. Die Frage, warum in Jura vielleicht noch mehr Stillschweigen über die Vergangenheit bewahrt wird und die Frage, welche Rolle Jurist*innen dabei gespielt haben, verfolgt mich seitdem.
Es gibt viele solcher Beispiele, die wenigsten sind den Nichtjurist*innen bekannt. Ein weiteres wäre das Relikt des Mordparagrafen, der bis heute zwar diskutiert, aber unverändert geblieben ist, obwohl er einer völlig anderen Logik folgt als das restliche Strafgesetzbuch und Täter mit ihrer Tat gleichsetzt, darauf aufbauend, dass man Mörder angeblich schon am Äußeren erkennen könne.
Das deutsche Recht nach 1945 hat sich insbesondere mit dem Grundgesetz das Ziel gesetzt, sich vom Dritten Reich loszusagen und derartige Gräueltaten unmöglich zu machen. Wie kann es dann aber sein, dass Antisemitismus weder ausreichend verfolgt werden kann, noch dass das deutsche Recht bisher keine passende Definition gefunden hat?
Zu diesem Thema findet sich kaum Literatur. Auch im juristischen Bereich besteht kaum die Notwendigkeit, eine eindeutige Definition für Antisemitismus zu finden, da der Begriff im Gesetz praktisch nicht vorkommt. Eine Ausnahme bildet der recht junge §46 StGB, der erst 2020 übernommen wurde, er lautet:
§ 46 Grundsätze der Strafzumessung
(1) Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe. Die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, sind zu berücksichtigen.
(2) Bei der Zumessung wägt das Gericht die Umstände, die für und gegen den Täter sprechen,
gegeneinander ab. Dabei kommen namentlich in Betracht:die Beweggründe und die Ziele des Täters, besonders auch rassistische, fremdenfeindliche, antisemitische oder sonstige menschenverachtende, die Gesinnung, die aus der Tat spricht, und der bei der Tat aufgewendete Wille, das Maß der Pflichtwidrigkeit, die Art der Ausführung und die verschuldeten Auswirkungen der Tat, das Vorleben des Täters, seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowie sein Verhalten nach der Tat, besonders sein Bemühen, den Schaden wiedergutzumachen, sowie das Bemühen des Täters, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen.
(3) Umstände, die schon Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes sind, dürfen nicht berücksichtigt
werden.
Hier wird zwar Antisemitismus namentlich erwähnt, allerdings wird auch ersichtlich, dass er allein keine Begründung für eine Strafe bietet. Er wird hier lediglich als ein möglicher Punkt in der Abwägung aufgelistet. Bestenfalls kann man loben, dass antisemitische Beweggründe explizit hervorgehoben und nicht unter einen Sammelbegriff gefasst wurden. Da das Gesetz aber auf eine ausdrückliche Abwägung abzielt (§46 II 1 StGB), bleibt zu befürchten, dass andere Umstände die antisemitischen Beweggründe komplett aushebeln können.
Besonders interessant ist bei §46 I 1 StGB, dass allen voran auf die Berücksichtigung möglicher Folgen für den Beschuldigten hingewiesen wird. Mit anderen Worten: mit dem Label des Antisemiten sollte man vorsichtig umgehen im deutschen Staat. Eine doch eher ernüchternde Herangehensweise, die eine merkwürdige Balance zu schaffen versucht zwischen (befürchteter) falscher Anschuldigungen und dem tatsächlichen Vorliegen solcher Beweggründe. Warum aber ist eine solche Vorwarnung an etwaige Richter überhaupt notwendig, wenn die Anwendung des Strafgesetzes ohnehin dem Grundsatz unterliegt: „im Zweifel für den Angeklagten“? Demnach sollten Strafrechtler sich von vornherein bewusst sein, dass sie das Strafrecht restriktiv auszulegen haben und nur bei eindeutiger Beweislage entsprechend urteilen dürfen. Noch ungewöhnlicher erscheint dieser Paragraf, wenn man ihn mit dem restlichen Abschnitt zur Strafzumessung im StGB (§§46-51) vergleicht. Keinem anderen Paragrafen wird vorsichtshalber eine vergleichbare Einschränkung vorangestellt.
Eine weitere Hürde für die Anwendung des Paragrafen findet sich in der schieren Anzahl an zu berücksichtigenden Strafzumessungsgründen, die wohl abschließend in §46 II 2 StGB aufgezählt sind. Streng genommen bedeuten sie, dass ein Gericht all diese Punkte erheben müsste (wobei die meisten Begriffe denkbar schwammig und ausufernd sind, man nehme nur das „Vorleben des Täters“ als Beispiel) um sie dann gegeneinander abzuwägen. Antisemitismus könnte dementsprechend also durch gute Führung wettgemacht werden?
Nichtsdestotrotz ist da auch noch der Elefant im Raum, nämlich dass die deutsche Rechtssprechung überhaupt keine Definition für Antisemitismus kennt und der Gesetzgeber hat es ihr offensichtlich auch nicht abgenommen. Nach §46 StGB zu urteilen, möchte der Gesetzgeber das vielmehr als Einzelfallentscheidung regeln.
Wie bereits festgestellt, gibt es zum Thema so gut wie keine Literatur. Ich habe genau einen Artikel gefunden, der sich mit dem Thema auseinandersetzt und das eben anlässlich der Erlassung von §46 StGB. Dieser Artikel ist von Lothar Zechlin verfasst und 2021 in der Kritischen Justiz, Jahrgang 54, Heft Nummer 1, auf Seite 31-46 erschienen. In diesem Artikel versucht er dem Antisemitismusbegriff Herr zu werden. Dabei kommt er auf zwei antisemitische Begriffe, die er nach antizionistischer und nicht-antizionistischer Gesinnung unterscheidet. Demnach ist antizionistischer Antisemitismus von einer Feindlichkeit gegenüber „den Juden“ geprägt, die auf den Staat Israel übertragen wird oder Feindlichkeit gegenüber dem Staat, der wiederum auf „die Juden“ übertragen wird (Zechlin 2021: 41).
Im Gegensatz dazu definiert er nicht-antizionistischen Antisemitismus als Unterstützung eines jüdischen Staates in Palästina bei gleichzeitiger Feindlichkeit gegen Juden im eigenen Land (Zechlin 2021: 41). Diese Unterscheidung braucht es aus seiner Sicht insbesondere, da das Recht auffällige Probleme hätte, berechtigte Israelkritik von antisemitisch motivierter zu unterscheiden (Zechlin 2021: 33).
Als mögliche Lösungsansätze für die Beschaffung eines rechtlichen Antisemitismusbegriffs zieht er verschiedene Definitionen heran, darunter die der Bielefelder Forschungsgruppe zu „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“, die versucht mit dem Begriff der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit den Bogen zum Individualschutz der Menschenwürde aus Art. 1 GG zuschlagen (vgl. Zechlin 2021: 33). Außerdem geht er auf den Unabhängigen Expertenkreis Antisemitismus (UEA) ein, der Antisemitismus gewissermaßen als Sammelbezeichnung für Einstellungen und Verhaltensweisen, die eine Feindschaft „gegen Juden als Juden“ aufweisen würden, definiert (Zechlin 2021: 34, m.w.N.). Noch schwammigere Ergebnisse erzielen seiner Meinung nach die Definitionen des IHRA oder die Heranziehung des 3-D-Tests (vgl. Zechlin 2021: 35 f.).
Aber auch seine eigenen oben genannten Definitionen können den Grundkonflikt des Antisemitismusbegriffs im deutschen Recht nicht lösen: worauf genau soll man abstellen und wie soll man es beweisen? Indem man auf „Einstellungen“ abstellt, öffnet man Tür und Tor für langwierige Beweisketten, die einer umfangreichen Auslegung bedürfen, die letztendlich aber noch in der Gesamtabwägung der Tatumstände nach §46 I StGB kassiert werden können.
Offen bleibt auch die Frage, ob das Opfer tatsächlich Jude sein muss, um von diesem Paragraphen geschützt zu werden oder ob sich das aus Tätersicht beurteilt, wobei es nach §46 II StGB zu urteilen auf die Tätersicht ankommen müsste. Letzteres wird aber in den meisten Fällen schwer nachzuweisen sein, zumal dann immer noch die Frage besteht, ob man dabei auf ein allgemeines Auftreten im Vorfeld abstellen darf (beispielsweise Äußerungen auf Social Media) oder konkrete Hinweise im Tathergang nachweisen muss.
Kurz gesagt: Das Problem der Antisemitismus-Rechtslücke wird durch §46 StGB in keinster Weise entgegengewirkt und auch der eine Artikel zum Thema kann diese Lücke nicht so recht füllen. Das liegt meiner Ansicht nach aber weder an Jurist*innen, die sich sträuben, noch an Zechlins Auslegungskünsten. Auch wenn natürlich Rechtsfortbildung durch Gerichtsurteile stattfinden darf
und soll, entlastet das den Gesetzgeber nicht davon, klare Stellung zu beziehen. Insbesondere, wenn man die deutsche Geschichte betrachtet.
Abgesehen von der Frage, ob man die Auslegung des Antisemitismusbegriffs den Jurist*innen überhaupt aufbürden sollte, besteht aber auch noch die Frage, warum man dessen Anwendung wie in §46 I StGB dann auch noch von vornherein möglichst eingrenzt. Hier hat der Gesetzgeber entweder äußerst bewusst versucht, den Tatbestand deutlich einzuengen oder denkbar stümperhaft gearbeitet. In jedem Fall ist Nachbesserung nötig, bzw. es wäre eine allgemeine Handlung durch den Gesetzgeber wünschenswert.